Ein gefährliches Alter. Eva Ashinze

Ein gefährliches Alter - Eva Ashinze


Скачать книгу
Leben lang fragen, wo deine Schwester geblieben ist. Du wirst nie zur Ruhe kommen. Ist es nicht so, Moira?»

      Ich schaute sie mit einem mörderischen Blick an.

      Sie bedachte mich mit einem siegessicheren Lächeln. «Moira, Moira», ihre Stimme klang nun ganz sanft, «wir kennen uns wirklich schon eine Ewigkeit.»

      James räusperte sich, und ich fand in die Gegenwart zurück. Ich war Norah ausgeliefert, wie James richtig erkannt hatte.

      «Sie hat mir erzählt, dass Maria Drogen konsumiert hat. Ich wusste nicht einmal, dass sie gekifft hat. Den ganzen Rest – Speed, Kokain, sogar Heroin soll sie geraucht haben.»

      «Glaubst du ihr?»

      Ich zuckte mit den Schultern: «Es gibt keinen Grund, weswegen Norah mich deswegen belügen sollte.»

      Ich dachte an die Szene zurück. Norah hatte ihr Haar nach hinten geworfen und wie nebenbei erwähnt, dass sie und meine Schwester verschiedene Drogen ausprobiert hatten. «Wir wollten eine andere Realität kennenlernen», hatte sie gesagt. «Fliehen. Unser Scheissleben vergessen. Such dir aus, was dir am besten passt. Alles trifft zu.»

      Ich sah James an. «Sie haben zusammen experimentiert.»

      «Was hat das in dir ausgelöst?»

      Ich dachte an Norah, wie sie mir von den Drogen berichtet hatte. Wie sie mir die Gelegenheiten aufgezählt hatte, bei denen sie und Maria sich zugedröhnt hatten.

      «Es hat mich traurig gemacht. Ich war – ich bin – Marias Schwester. Ich habe nichts gemerkt. Ich fühle mich schlecht. Schuldig. Ich bin nicht für sie da gewesen.»

      «Trauer und ein schlechtes Gewissen. Und was noch?»

      «Was meinst du?»

      «Da ist doch noch etwas. Du hältst etwas zurück, Moira. Lass es raus.»

      Ich zögerte. «Angst», flüsterte ich schliesslich. «Ich habe fürchterliche Angst.»

      «Angst wovor?»

      Ich schwieg eine Weile. Ich dachte wieder an Norah in ihrem rosa Pulli. Ich dachte an meine kleine Schwester mit ihrer dunklen Haut, den wilden Haaren und dem kindlichen Schmollmund. Ich dachte daran, dass in Marias Zimmer noch immer ihr zerschlissener Teddy aus Kindertagen auf dem Bett lag und darauf wartete, dass sie zurückkam. Meine Mutter hatte das Zimmer in den ganzen Jahren nicht angerührt.

      «Maria war fünfzehn. Sie hatte kein Geld», sagte ich mit gesenktem Blick. «Von Taschengeld kann man sich nicht solche Mengen an Drogen kaufen.» Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich hob den Blick und sah James direkt an. Er schaute nicht weg. «Was hat Maria wohl als Gegenleistung für die Drogen geboten?»

      3 Ich sass in einem bequemen Sessel, mir gegenüber Willy, der in seine Zeitung vertieft war. Willy Morgenroth ist mein Vermieter und ein Freund. Mit seinen 76 Jahren ist er noch immer rüstig, was er wohl nicht zuletzt den langen Spaziergängen mit Charlie, seinem treuen Golden Retriever, zu verdanken hat. Ich nippte am Rotwein, den Willy mir gebracht hatte und sah aus dem Fenster. Es war Mitte April und der Frühling war endlich voll im Gang. Im März hatte es nicht danach ausgesehen, es hatte noch einmal heftig geschneit, nachdem sich bereits die ersten Schneeglöckchen gezeigt hatten. Nun grünte alles. Ich kuschelte mich enger in meine Strickjacke. Ich war mehr als bereit für den Frühling. Es war ein harter Winter gewesen, in doppelter Hinsicht. Im Februar hatte die Temperatur sich vier Wochen lang unter dem Nullpunkt bewegt, selbst tagsüber. Hinzu kamen die sporadischen Besuche bei Norah, die an meinen Kräften zehrten. Ich seufzte und trank noch einen Schluck Wein. Willy hob den Kopf und musterte mich. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mich nach den Besuchen im Gefängnis zu bemuttern. Er wusste, wie schwer das für mich war. Anstatt viele Worte darüber verlieren, kümmerte er sich um mein Wohlergehen, liess mich teuren Rotwein trinken. Wenn ich doch einmal reden wollte, dann hörte er zu.

      Heute wollte ich nicht reden. Also hatte Willy eine seiner geliebten Jazz-Platten aufgelegt und den «Landboten», die Lokalzeitung von Winterthur und Umgebung, zur Hand genommen.

      «Haben Sie von diesem Jungen gehört?» Willys Stimme liess Charlie hochschrecken, der zu unseren Füssen gedöst hatte.

      Ich kraulte ihm beruhigend den Nacken. «Welcher Junge?»

      «Dieser Fünfzehnjährige, der tot aufgefunden worden ist. Massive Kopfverletzungen.» Willy schüttelte bedauernd den Kopf. «Der arme Junge. In was für einer Welt wir leben …» Er brach ab und schüttelte noch einmal den Kopf.

      Neugierig geworden streckte ich die Hand nach der Zeitung aus. Willy reichte sie mir. Luca T., ein fünfzehnjähriger Oberstufenschüler, war gestern am frühen Morgen tot auf dem Pausenplatz des Schulhauses St. Georgen aufgefunden worden. Sowohl Todesursache als auch allfällige Täterschaft war bislang unbekannt. Ich liess die Zeitung sinken. Willy hatte Recht. In was für einer Welt leben wir, wenn bereits Fünfzehnjährige getötet werden?

      Kurz darauf ging ich zu mir nach oben. Es war ein langer Tag gewesen. Ich öffnete das Fenster in der Küche, setzte mich auf die Fensterbank und zündete mir eine Zigarette an. Ich legte den Kopf in den Nacken und liess kleine Rauchkringel emporsteigen. Ich dachte an den toten Jungen. Fünfzehn Jahre. So alt wie meine Schwester gewesen war, als sie spurlos verschwand. Fünfzehn Jahre. Ein gefährliches Alter.

      4 «Vielen Dank», sagte die schüchterne junge Bedienung und schaute mich ungläubig an. Ich hatte den zu bezahlenden Betrag grosszügig aufgerundet. Zu grosszügig, wie mir jetzt schien. Aber egal. Mir war wohlig warm, und ich hatte gut gegessen. Ich erhob mich, schlüpfte in meinen Mantel und verliess das «Dimensione», ein kleines Restaurant am oberen Ende der Altstadt.

      Zuvor hatte die Sonne geschienen, aber mittlerweile nieselte es. Ich sah zum Himmel hinauf, vereinzelte Tropfen trafen mich. Ich mag den April. Er ist wie mein Leben: Ich weiss nie, was mich im nächsten Moment erwartet. Ich zog eine Packung Zigaretten aus meiner Manteltasche. Missmutig beäugte ich sie. Nur noch eine übrig – schon wieder. Irgendwie war mir in letzter Zeit der Zigarettenkonsum etwas entglitten. Es war Frühling. Zeit, meine guten Vorsätze fürs neue Jahr endlich umzusetzen. Weniger Alkohol. Weniger Nikotin. Mehr Zeit für Musse im Alltag.

      Ich zündete mir die Zigarette an. Morgen würde ich damit anfangen.

      Kaum hatte ich den ersten Zug getan, läutete mein Handy. Ich seufzte, zog es aus der anderen Manteltasche.

      «Ich … Hier ist Behrens am Apparat, Beatrice Behrens.» Nach diesem zögerlichen ersten Satz herrschte erst einmal Stille. Das war nicht ungewöhnlich. Einen Anwalt anzurufen, kostet Überwindung. Ich wartete.

      «Meine Tochter. Ich brauche einen Anwalt für meine Tochter.» Frau Behrens klang verzweifelt.

      Was die Tochter wohl ausgefressen hatte? Wieder wartete ich.

      «Es geht um diesen Luca Tanner.»

      Luca Tanner. Luca T. Der tote Junge. «Was ist mit ihm?», fragte ich vorsichtig.

      «Meine Tochter. Nina. Sie sagt … Sie sagt, sie war es.» Frau Behrens Stimme brach. «Sie sagt, sie hat Luca umgebracht.» Nun schluchzte sie unterdrückt.

      Ich biss mir auf die Lippen, überlegte. Der tote Luca. Die geständige Nina. Wahrscheinlich waren sie im selben Alter. Soviel ich mitbekommen hatte, war bislang noch kein Tatverdächtiger festgenommen worden. «Wo ist Nina?», fragte ich.

      «Nina? Sie ist hier, bei mir. Ich weiss nicht, was ich … Ich …» Die Stimme verlor sich. Die Frau schien fix und fertig zu sein.

      Ich fasste einen Entschluss. «Geben Sie mir Ihre Adresse», sagte ich. «Ich komme zu Ihnen.»

      Frau Behrens schien erleichtert. Ich machte mit ihr ab, dass ich vorbeikommen und mir ein Bild von Nina und ihrer

      Aussage machen würde. Danach würden wir entscheiden, wie weiter.

      «Nina soll bleiben, wo sie ist», sagte ich. Dann legte ich auf.

      Meine Zigarette war mittlerweile bis auf den Stummel abgebrannt. Ich warf sie weg, tastete


Скачать книгу