Ein gefährliches Alter. Eva Ashinze

Ein gefährliches Alter - Eva Ashinze


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ist sie so?»

      «Was?» Ich war mit meinem Gedanken noch bei Koller gewesen.

      «Was du von deiner Mandantin hältst?»

      «Sie hat Angst», sagte ich. «Und sie lügt. Ich weiss nur noch nicht, in welchem Punkt.»

      «Wie kommst du darauf?»

      «Kleine Dinge. Als sie mir den Tathergang erzählt hat, hat sie ein paarmal leicht mit den Schultern gezuckt. So, als zweifle sie selbst an ihrer Geschichte.»

      «Ist das alles?»

      Ich überlegte. «Am Schluss hat sie gesagt: Ich bin froh, dass er tot ist.» Ich hielt inne.

      «Und?», fragte Béjart ungeduldig.

      «Dabei hat sie so komisch gelächelt. Ich meine, ein echtes, glückliches Lächeln war das nicht.»

      «Vielleicht interpretierst du zu viel hinein. Vielleicht ist alles so passiert, wie sie gesagt hat.»

      «Vielleicht», antwortete ich.

      «Steht morgen Abend immer noch?», wechselte Béjart das Thema.

      Seit einiger Zeit gingen wir ab und zu zusammen essen, immer in ein anderes Lokal. Wir frassen uns sozusagen durch die Winterthurer Gastronomie. Am nächsten Abend wollten wir der Pizzeria Don Camillo an der Steinberggasse einen Besuch abstatten. Ich bestätigte unsere Verabredung und legte auf.

      Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Nina lag auf dem Sofa, den Kopf in den Schoss der Mutter gelegt. Sie weinte geräuschvoll, und ihre Schultern zuckten. Auch Frau Behrens liefen die Tränen über die Wangen. Nina wandte den Kopf, als sie mich hörte. Ihr Gesicht war gerötet, die Augen verquollen, die Haare zerzaust. Sie sah nicht mehr aus wie ein Teenager. Sie sah aus wie ungefähr elf.

      10 Zurück im Büro eröffnete ich eine Akte zu meinem neuesten Fall. Der Fall Luca Tanner. Dann rief ich Koller an. Wir vereinbarten einen Einvernahmetermin für den kommenden Nachmittag. Ich war nicht ganz ehrlich am Telefon und teilte Koller lediglich mit, meine Mandantin wolle eine Aussage zum Tod von Luca machen. Den Inhalt dieser Aussage – dass Nina sich selbst beschuldigte – behielt ich für mich. Das würde Koller noch früh genug erfahren.

      Ich erledigte einige Dinge für andere Mandanten, schrieb Rechnungen und Mahnungen. Die schlechte Zahlungsmoral meiner Klienten versetzt mich immer wieder in Staunen. Wenn man schon eine Rechnung nicht bezahlt, dann vielleicht besser nicht die des Anwalts.

      Ich hielt einen Schwatz mit meinem neuen Büronachbarn, einem jungen Immobilienmakler, der die Räumlichkeiten von seinem Vorgänger, einem freien Journalisten, übernommen hatte, und rauchte die eine oder andere Zigarette unter dem blühenden Magnolienbaum im kleinen Vorgarten. Draussen war es bereits dunkel, als ich endlich Schluss machte. Ich verliess meine Kanzlei, die an der Ecke Wülflinger-/Schaffhauserstrasse liegt. Der Kies knirschte unter meinen Füssen, als ich den Parkplatz hinter dem Haus überquerte. Ich blieb stehen. Dort, auf der anderen Seite der Bahngleise, steht der unverwechselbare Backsteinbau des Schulhauses St. Georgen. Ich verharrte einen Moment. Anstatt nach rechts in die Brunngasse abzubiegen, wandte ich mich nach links. Ich wollte mir den Ort, an dem Luca getötet worden war, genauer ansehen.

      Es war unschwer zu erkennen, wo genau Luca gefunden worden war. Zahlreiche Blumen, kleine Plüschtiere und rote Grabkerzen waren links vom Haupteingang abgelegt worden, da, wo einer der steinernen Tischtennistische steht. Da, wo der Pausenplatz vom Bahnfussweg her wegen der Baustelle und den temporären Containern nicht einsehbar war. Ich näherte mich der Stelle zögerlich.

      «Du bist für immer in unseren Herzen Luca» stand auf einem grossen Herz aus Karton. «Luca wir vermissen dich» las ich auf einem Stück Papier, das mit einer Kerze beschwert war. Ein Foto von Luca war an einen Topf mit violetten Primeln gelehnt. Er war ein hübscher Junge gewesen, braune Haare, helle Augen, offenes Gesicht. Er lachte breit, voller Leben. Dieses Leben war ausgelöscht worden, von einer Minute auf die andere. Wider Willen traten mir Tränen in die Augen, und ich musste schlucken. In diesem Moment vernahm ich ein paar Meter weit weg ein Geräusch. Es klang wie unterdrücktes Weinen. Ich wandte den Kopf, spähte in die Dunkelheit.

      «Hallo?»

      Keine Antwort, aber wieder hörte ich das Schluchzen, lauter diesmal. Ich machte ein paar Schritte und da, an die Rückseite des Baumstammes gelehnt, sass ein Mädchen. Es trug eine dunkle Jacke und umklammerte seine angezogenen Beine, das blasse Oval des Gesichts war gesenkt. Sollte ich es ansprechen? Oder liess man Trauernde nicht besser in Ruhe? Andererseits schien es dem Mädchen nicht gut zu gehen, es war kalt, es war spät und dunkel. Es sollte nicht allein hier sitzen. Wer wusste, was sich hier abends für Gestalten herumtrieben?

      «Kann ich dir helfen?», fragte ich.

      Ein Schluchzen war die Antwort, der Oberkörper des Mädchens schüttelte sich vor Kummer.

      Ich ging noch näher, kauerte mich neben es hin. Eine Weile blieb ich einfach so, ohne mich zu rühren, ohne etwas zu sagen. Das Schluchzen verebbte, das Mädchen schniefte ein paar Mal.

      «Hier.» Ich streckte ihm ein Taschentuch hin.

      Zuerst reagierte es nicht, dann griff es nach dem Tuch, tupfte sich die Augen, schnäuzte geräuschvoll.

      «Weinst du wegen Luca?», fragte ich.

      Sie nickte.

      «Wart ihr befreundet?»

      «Ich … ja … wir …».

      Ein erneuter Schluchzer war die Antwort. Vor lauter Schniefen und Weinen brachte das Mädchen keinen ganzen Satz zustande. Irgendwie musste ich es beruhigen. Aber zuerst musste ich meine Position verändern, ich war definitiv zu alt, um noch länger in der Hocke zu verharren. Mühevoll stand ich auf, unterdrückte ein Stöhnen.

      «Wie heisst du?», fragte ich.

      «Julia.» Sie schniefte.

      «Komm», sagte ich. «Du kannst hier nicht allein bleiben. Ausserdem wirst du dich erkälten.» Ich hielt ihr die Hand hin. Julia ignorierte sie, doch nach einigem Zögern stand sie von allein auf. Sie war eher klein und sehr schlank, was durch die engen Jeans noch betont wurde. Lange braune Haare umrahmten ihr Gesicht. Normalerweise war sie sicherlich sehr hübsch, puppenhaft, mit grossen Augen und kleiner Nase. Im Moment allerdings waren diese Augen verschwollen und gerötet, schwarze Mascarastreifen zogen sich über die Wangen.

      «Soll ich dich nach Hause bringen, Julia?»

      Julia schüttelte den Kopf. «Ich bin kein kleines Kind mehr.» Sie klang abweisend. «Wer sind Sie überhaupt? Von unserer Schule sind Sie nicht, ich habe Sie noch nie hier gesehen.» Sie musterte mich misstrauisch. «Sind Sie verwandt mit Luca?» Sie sah mich zweifelnd an.

      Mit meiner hellbraunen Haut und den krausen Haaren hatte ich so nichts mit Luca gemein. Ich schüttelte den Kopf. «Ich habe beruflich mit Lucas Tod zu tun. Ich bin Moira. Moira van der Meer.»

      Wieder musterte sie mich. «Beruflich? Heisst das, Sie sind von der Polizei oder so? Ich hab mich schon gefragt, wann wir endlich befragt werden.»

      Ich überlegte, was ich ihr sagen sollte und fing langsam an, über den Pausenhof zu gehen. Julia ging automatisch neben mir her. Dass ich Ninas Anwältin war, konnte und durfte ich ihr im Moment nicht verraten. Nina stand offiziell noch in keinem Zusammenhang mit Lucas Tod. «Nicht ganz», antwortete ich ausweichend und wechselte schnell das Thema. «Gibt es denn Vermutungen, was mit Luca passiert ist?»

      «Alle mochten Luca. Alle wollten mit ihm befreundet sein. Er war der Letzte, von dem man gedacht hätte, dass er umgebracht wird.» Wieder flossen die Tränen.

      «Wie war er denn?»

      «Er war …» Julia schniefte. «Er war der bestaussehende Typ des ganzen Schulhauses.» Sie deutete auf das St. Georgen. «Er war cool, ich meine, er stand über den ganzen Dingen, die für andere Jungs so wichtig sind. Blöde Sprüche und so, das hatte er nicht nötig. Er war … Er gab einem das Gefühl, einzigartig zu sein.»

      «Dir auch?»


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