Ein gefährliches Alter. Eva Ashinze

Ein gefährliches Alter - Eva Ashinze


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hatte ich mir soeben einen neuen Fall eingehandelt. Und was für einen. So viel zu etwas mehr Musse. Aber ich war nicht unglücklich über die Wendung, die mein Tag genommen hatte. Meine Neugier war geweckt. Und die Büroarbeit, die ich am Nachmittag hatte erledigen wollen, lief nicht weg.

      Ich machte einen kurzen Abstecher zum Kiosk am Obertor und holte mir neue Zigaretten, bevor ich mich zu der Adresse begab, die Frau Behrens mir angegeben hatte: Friedensstrasse Nr. 1. Wie passend.

      5 Mathilda schreibt einen letzten Satz ab, dann klappt sie das Heft zu.

      «Fertig?», fragt Frau König lächelnd.

      Mathilda nickt. Die Lehrer mögen Mathilda. Sie ist eine von den Ruhigen, eine, die keinen Ärger macht.

      «Dann kannst du jetzt auch in die Pause gehen.»

      Wieder nickt Mathilda.

      Die Sonne blendet, als sie unten aus der Tür tritt. Sie bleibt einen Moment stehen, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt haben. Es ist ein goldener Herbsttag und ausserordentlich warm für Oktober. Die Clique von Julia macht sich das gleich zunutze. Mit tiefsitzenden Jeans und bauchfreien Tops sitzen und liegen die Mädchen in möglichst vorteilhaften Posen auf der Mauer, räkeln sich träge im Sonnenschein. Ein paar Jungs stehen vor ihnen. Jedes Mal, wenn einer der Jungs etwas sagt, kreischen die Mädchen vor Lachen.

      Mathilda rümpft angewidert die Nase. Suchend schaut sie sich nach Nina und Alisar um. Sie ist so froh, hat sie die beiden. Sie ist mit ihrer Mutter vor wenigen Monaten nach Winterthur gezogen. Die Mutter wollte in der Nähe ihrer Kirche sein, in der Nähe der Gemeinde.

      «Ich gebe dir einen Keks für deine Gedanken.»

      Mathilda schreckt auf. Vor ihr steht Luca, grinst sie verschmitzt an und hält ihr eine Packung Oreos hin. Mit der anderen Hand streicht er seine vorwitzigen Haare zurück.

      «Du stehst seit fünf Minuten hier und starrst vor dich hin.»

      «Oh.» Mathilda spürt, wie sie errötet. Schnell senkt sie den Kopf, damit ihre Haare das heisse Gesicht verdecken. Mathilda hat wundervolle Haare, eine rotgoldene lockige Mähne, die sich über ihren Rücken ergiesst. «Ich habe nachgedacht.»

      «Was du nicht sagst.» Luca verspottet sie, aber es klingt liebevoll. Links hinter ihm kann Mathilda Kevin ausmachen und noch weiter hinten sieht sie endlich Nina und Alisar.

      «Ich muss …», sagt Mathilda und geht um Luca herum.

      «Und was ist mit dem Keks?»

      Mathilda schüttelt den Kopf. Es hat ihr die Sprache verschlagen. Was für ein unbeholfener Trampel sie ist.

      Sie sieht nicht, wie Luca ihr hinterherblickt, die Lippen zu einem lautlosen Pfeifen geschürzt. Sie sieht nicht, wie Kevin sie über den Schulhof hinweg anschaut, Sehnsucht in den Augen.

      6 «Du bist also Nina.»

      Das Mädchen, das mir gegenüber sass, zeigte keine Regung. Sie war klein und ziemlich kurvig für ihre fünfzehn Jahre, mit dunklem, lockigem Haar, das sie zu einem losen Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie war nicht hübsch im klassischen Sinn – das Gesicht war zu rundlich, der Mund zu breit und das Kinn zu energisch. Aber sie hatte wunderbare Augen, grün-braun, mit langen Wimpern und hellwach.

      «Ich will keine Anwältin», sagte Nina. Sie hatte eine angenehme tiefe Stimme, die sie älter klingen liess.

      «Deine Mutter denkt aber, du brauchst eine.» Fünfzehn Jahre und Mord – bei dieser Kombination wäre ich als Mutter auch im Dreieck gesprungen.

      Ich warf Frau Behrens, die im Türrahmen stand, einen Blick zu. Sie starrte ihre Tochter von der Seite her mit geröteten Augen an, knetete unablässig ein Papiertas//chentuch zwischen den Fingern.

      «Es geht nicht um einen simplen Diebstahl», fügte ich hinzu.

      Nina zuckte verstockt mit den Schultern. Sie schien sich der Tragweite der Situation nicht bewusst zu sein. Sie schien sich einzig über meine Anwesenheit zu ärgern. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, dann würden mich ganz andere Sorgen plagen.

      «Rede mit mir. Erzähl mir, was passiert ist.»

      Noch immer zog Nina es vor, mich zu ignorieren.

      «Rede mit Frau van der Meer, Schätzchen. Bitte.» Frau Behrens griff nach Ninas Hand.

      «Du willst also keine Hilfe, Nina», sagte ich.

      Schweigen.

      «Nina, bitte», flüsterte die Mutter.

      Nina schüttelte ihre Hand unwillig ab.

      Ich überlegte. Ich musste eine andere Strategie fahren. Ich beugte mich vor und musterte Nina mit zusammengekniffenen Augen, verharrte so, schwieg.

      Irgendwann hielt Nina es nicht mehr aus. «Was ist?», fuhr sie mich wütend an.

      Ich schwieg weiterhin.

      Nina begann, an ihrem Pferdeschwanz zu nesteln, löste den Haargummi, arrangierte die Haare neu. Ihre Hände zittern leicht und es dauerte eine Weile, bis die Frisur sass. Ich hatte mich geirrt. Nina war nicht verärgert. Sie hatte Angst.

      «Frau Behrens», wandte ich mich an die Mutter, eine wohl ganz gutaussehende Frau Ende vierzig, die sich nun aber in einem Zustand der totalen Auflösung befand. Die Haare waren zerzaust, die Kleidung sah aus, als wäre Frau Behrens in einen Sturm geraten, selbst die feinen Falten in ihrem Gesicht schienen in Unordnung geraten zu sein. «Frau Behrens, würden Sie uns einen Moment allein lassen?»

      Beatrice Behrens schien unentschlossen.

      Ich sah sie mit einem festen Blick an, zog die Augenbrauen hoch und machte mit dem Kinn eine kaum merkliche Bewegung Richtung Nina. Frau Behrens erhob sich, begab sich zögernd Richtung Tür. Es war ihr sichtlich nicht wohl dabei, ihre Tochter mit mir allein zu lassen. Wir befanden uns im Wohnzimmer einer gemütlichen, grosszügigen Altbauwohnung mit Blick auf den Garten. Wie ich den wenigen, wirren Sätzen entnehmen konnte, die Frau Behrens bei meinem Eintreffen von sich gegeben hatte, wohnten sie und Nina allein hier. Der Vater von Nina war vor einigen Jahren verstorben. «Herzinfarkt. Dabei war er noch so jung.»

      Frau Behrens gab sich einen Ruck. «Ich bin in der Küche, Nina, ja? Du brauchst nur zu rufen.»

      Nina reagierte nicht.

      Beatrice Behrens seufzte schwer, dann verliess sie das Wohnzimmer. Als sie bereits unter der Tür stand, rief Nina ihr hinterher.

      «Es tut mir Leid, Mama», rief sie.

      Beatrice Behrens drehte sich um und suchte Ninas Blick. Dann zog sie die Tür hinter sich zu.

      Ich schaute Nina an. Ihre Augen hatten noch immer diesen ängstlichen Ausdruck. Aber da war noch etwas Anderes. Nur was?

      7 «Du sagst, du hast dich heimlich aus dem Haus geschlichen.»

      Nina nickte. Sie schaute mich nicht an, sondern starrte auf ihre Fingernägel, kratze einen Rest lila Nagellack ab. Ich war dabei, mit ihr die folgenschwere Nacht durchzugehen.

      «Wie hast du dich hinausgeschlichen?»

      «Ist das wichtig?» Nina hatte einen betont gelangweilten Gesichtsausdruck aufgesetzt. «Ich meine – das ist doch nur ein blödes Detail.»

      «Details sind wichtig.»

      Sie zuckte mit den Schultern.

      Ich wurde nicht schlau aus Nina. Einerseits wollte sie ein Geständnis ablegen, andererseits musste ich ihr jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Gut, ich war nicht die Polizei. Aber bevor sie den Ermittlern etwas erzählte, wollte ich die ganze Geschichte kennen. Ich musste wissen, womit ich es zu tun hatte.

      «Mein Zimmer ist im Erdgeschoss. Ich kann durchs Fenster in den Garten klettern und von da …» Wieder zuckte Nina mit den Schultern, was wohl so viel hiess, wie von da an war es nur ein Katzensprung bis zum Schulhaus St. Georgen.

      «Machst du das öfter?»

      «Was?»


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