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verdient zu sterben, verstehen Sie? Er hat es nicht verdient!» Sie trat halbherzig gegen einen Betonpfeiler. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Julia eine Show abzog. Sie mochte tatsächlich um Luca trauern. Aber gleichzeitig genoss sie es, Aufmerksamkeit zu erhalten.
Mittlerweile waren wir bei der Theaterstrasse angelangt.
«Es gibt keine Gerüchte?»
Sie sah mich ausdruckslos an.
«Was glaubst du denn? Was ist deiner Meinung nach passiert?»
Julia stierte vor sich hin. «Keine Ahnung», sagte sie. «Irgendein Ausländer wahrscheinlich. Einer von diesen jungen Asylheinis; die sind doch alle nicht ganz sauber. Von uns war es auf jeden Fall keiner.»
«Von uns?»
Sie deutete mit dem Kinn zum Schulhaus. «Vom St. Georgen. Alle haben Luca gemocht, hab ich doch gesagt. Die Mädchen sind total auf ihn abgefahren, und die Jungs haben ihn bewundert.» Sie sah sich unruhig um. «Ich muss jetzt gehen. Meine Eltern warten sicher schon.» Auf einmal schien ihr die Uhrzeit bewusst zu werden.
«Nur eine Frage noch. Hatte Luca Feinde?»
«Feinde?» Julia zuckte mit den Schultern. «Nicht, dass ich wüsste.»
Ich wollte nachhaken, aber sie hatte sich bereits umgedreht.
«Ich muss jetzt wirklich gehen.»
«Pass auf dich auf, Julia», sagte ich.
Sie zeigte keine Reaktion.
Ich blieb einen Moment stehen. Das war eine merkwürdige Begegnung gewesen. Lucas Tod schien Julia mitzunehmen, sie trauerte. Aber da war noch etwas anderes an Julia, etwas Hartes, Selbstbezogenes, das ab und zu durchgeschimmert war. Ich dachte darüber nach, was Julia mir erzählt hatte. Er hatte keine Feinde gehabt. Alle hatten Luca gemocht. Das passte nicht zu dem, was Nina erzählt hatte. Es passte ganz und gar nicht.
11 «Ich bin nicht sicher, ob du an Halloween teilnehmen solltest.» Rosmarie Martin hat Mathilda den Rücken zugewandt und macht sich in der kleinen offenen Küche zu schaffen. «Das ist ein heidnischer Brauch. Und abends so lange unterwegs sein? Ich weiss nicht.»
«Ich gehe mit Nina und Alisar.»
Mathilda sitzt am Esstisch und betrachtet über die Theke hinweg den schmalen Rücken ihrer Mutter, sieht die rhythmischen Bewegungen, mit denen sie hingebungsvoll einen Kochtopf schrubbt. «Da ist doch nichts dabei. Wir gehen durchs Quartier, läuten an den Türen und fragen nach Süssigkeiten. Das ist nicht gottlos.»
Die Mutter stellt den Topf auf die Ablage, schweigt.
«Alle machen das», fügt Mathilda jämmerlich an.
«Wir sind aber nicht alle», sagt die Mutter.
Mathilda seufzt. Vor ihr liegt aufgeschlagen das Matheheft, mit einem Bleistift zeichnet sie abwesend kleine Figuren auf den Seitenrand. Einen Jungen im Kapuzenpulli. Ein Mädchen mit langen lockigen Haaren.
«Hast du gehört?» Die Mutter wendet sich ihr zu. Ihre Hände stecken in rosafarbenen Gummihandschuhen, Schaum tropft auf den Boden. «Wir sind nicht alle. Wir sind auserwählt. Gott hat uns auserwählt.» Ihre Augen haben wieder diesen entrückten Blick, den Mathilda so hasst.
«Ach Mama.» Mathilda schaut die Mutter unglücklich an, klingt aber zugleich ungeduldig. Weshalb kann ihre Mutter nicht einfach normal sein, so wie die Mutter von Alisar? Oder die von Nina? Wieso läuft sie die ganze Zeit in Röcken durch die Gegend und trägt das dünne, mit grau durchzogene Haar lang und offen, ohne erkennbare Frisur? Manchmal schämt sich Mathilda für ihre Mutter. Und dann fühlt sie sich schuldig, weil sie solche Gedanken hat. Früher war die Mutter nicht so extrem. Aber seit ihr Vater gegangen ist, ist es immer schlimmer geworden.
Rosmarie streift die Handschuhe ab, legt sie sorgfältig neben die Spüle, zieht die blaue Küchenschürze über den Kopf, faltet sie. «Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus, wie er uns auserwählt hat in ihm vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und untadelig seien vor ihm in Liebe», zitiert Rosmarie. Sie umrundet die Theke, setzt sich zu Mathilda an den Tisch. Diese klappt schnell das Matheheft zu.
«Lass uns beten, Mathilda.» Rosmarie greift nach Mathildas Händen. «Lass uns beten. Gott wird uns die Antwort geben.»
12 Ich ass den letzten Biss meiner hastig zubereiteten Pasta. Ich koche gern, wenn ich Musse habe. Aber frische Kräuter, spezielle Gewürze – damit hatte ich mich heute nicht abgeben mögen. Heisshungrig und müde war ich nach dem Zusammentreffen mit Julia nach Hause gekommen. Ich hatte nur eines gewollt: Etwas zu essen. Deswegen hatte ich nach dem Glas gekauften Pestos gegriffen.
Ich schob den Teller von mir und griff nach meinen Zigaretten. Während ich mir eine anzündete, erhob ich mich, trat ans Fenster und öffnete es. Die kühle Luft liess mich erschauern. Ich nahm einen langen Zug. Unter mir leuchteten die Lichter der Stadt. Ich liess meinen Blick schweifen zu meiner Kanzlei, zu den Bahngleisen. Im Roten Turm brannte in einigen Büros noch immer Licht. Daneben war das Schulhaus St. Georgen. Ich zog an meiner Zigarette. Ich versuchte, die Friedensstrasse auszumachen, da, wo Nina wohnte. Nina. Ich wurde nicht schlau aus ihr. Sie verheimlichte mir etwas. Noch wusste ich nicht, was es war. Aber ich würde es herausfinden. Mein Blick wanderte weiter zur Seidenstrasse. Ich konnte das Dach der Villa ausmachen, in der ich aufgewachsen war. In der wir aufgewachsen waren, Maria und ich. Meine Mutter Celina lebte noch immer dort. Ich weiss nicht, wie sie die ganzen Erinnerungen, die dieses Haus beherbergt, ertragen kann. Mit einer Unmenge Alkohol vermutlich.
Ich zog ein letztes Mal an meiner Zigarette, stand auf und schloss das Fenster.
Während ich das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine räumte und in der Küche einigermassen Ordnung schuf, ging ich in Gedanken die Unterhaltungen mit Nina und Julia noch einmal durch. Ich wischte die Herdplatte, wrang den feuchten Lappen aus. Nina und Julia malten widersprüchliche Bilder von Luca. Ich musste mehr über ihn erfahren. Ich musste herausfinden, was für ein Mensch er gewesen war. Je besser ich das Opfer kannte, desto besser durchschaute ich auch die Täterin – Nina.
Meine Gedanken schweiften zu Norah, zu meinem heutigen Besuch im Gefängnis. Hatte Maria tatsächlich harte Drogen konsumiert? Und wo war sie jetzt? War auch sie ein Opfer, tot und verwest? Oder lebte sie unter anderem Namen irgendwo in der Fremde? Energisch schüttelte ich das Geschirrtuch aus, hängte es an den Haken. Fragen über Fragen, die mich allesamt nicht weiterbrachten.
Ich nahm eine bereits geöffnete Flasche Wein zur Hand, entkorkte sie und goss mir ein Glas ein. Irgendwann würde ich wissen, was mit Maria geschehen war. Es hatte keine Eile, schliesslich schlug ich mich bereits mein halbes Leben lang mit ihrem Verschwinden herum. Aber die Sache mit Nina, die war dringend. Darauf musste ich mich konzentrieren, auf meinen neuen Fall. Auf den Fall des toten Jungen. Ich seufzte und trank Wein. Ich ahnte, dass es in dieser Geschichte nur Verlierer geben würde. Ich trank noch einen Schluck, stellte das Glas beiseite und fuhr mein Notebook hoch. Zum Glück hatte ich meine Arbeit. Ohne sie würde ich in dieser elenden Welt nicht klarkommen.
13 Ich musste nicht lange im Internet suchen, bis ich Informationen über Luca fand. Der Tod des Fünfzehnjährigen hatte Aufsehen erregt und war von den Medien entsprechend ausgeschlachtet worden. Da gab es Hintergrundberichte, Analysen, mögliche Tatszenarien. Und nicht zuletzt kamen die Nachbarn, die «besten» Freunde, Angehörige und viele weitere zu Wort, vermittelten ihre Sicht auf die Dinge. Ich überflog Aussagen wie «Jetzt sind schon Schulhäuser Gefahrenzonen», «Das waren keine von hier, ganz sicher nicht» und «Gottlose Jugend – wohin uns die Abkehr von der Religion führt».
Ich verspürte Abscheu und trank schnell noch etwas Wein. Heutzutage steuerte jeder seinen Senf zu allem und jedem bei. Vor allem die, die nichts zu sagen hatten, sagten etwas. Und ich überflog nur die Berichte in den Tagesmedien. Keine Ahnung, was bei facebook oder in privaten Chats noch über Lucas Tod geschrieben wurde. Wobei – vielleicht wären da die interessanten Dinge zu lesen.
Bevor ich den Gedanken zu Ende denken konnte, blieben