Ein gefährliches Alter. Eva Ashinze
Nina schaute mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte. «Weshalb wohl? Denken Sie, ich beobachte die Einhörner, die um Mitternacht auf der Wiese des Münzparks grasen? Oh Mann.» Mit einer übertriebenen Geste langte sie sich an die Stirn.
Ich musste mich aufs Äusserste zusammenreissen, um ruhig zu bleiben. Blöde Göre. Sie hatte keine Ahnung, in was für einen Schlamassel sie sich manövriert hatte. Zudem war ihr Gehabe zu übertrieben, es wirkte aufgesetzt. Mit einer Hand tastete ich in meiner Tasche nach der Zigarettenpackung, zog sie hervor. Ich stand auf, ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Keine Ahnung, was Frau Behrens dazu sagen würde. Es musste einfach sein.
«Darf ich auch eine?»
Ich sah Nina erstaunt an. «Du bist erst fünfzehn. Du darfst nicht rauchen.»
«Ich darf eine Menge nicht.»
Nun war ich diejenige, die mit den Achseln zuckte. Was sollte ich hier den Aufpasser spielen. Ich hielt ihr die Packung hin. «Von mir aus.»
Nina nahm sich eine Zigarette. Dann schnellte ihr Blick zur Tür. «Sie sagen doch meiner Mutter nichts.»
Beinahe hätte ich gelacht. Frau Behrens würde sich momentan wahrscheinlich die glücklichste Frau nennen, wenn es nur darum ginge, dass ihre fünfzehnjährige Tochter heimlich rauchte. «Keine Angst. Deine Mutter erfährt nichts», sagte ich.
Nina war keine geübte Raucherin. Sie hielt die Zigarette wie einen Kugelschreiber und machte vorsichtige Züge. Trotzdem schien das Rauchen sie zu entspannen. Ich machte mir Gedanken über sie. Hinter der ganzen Fassade, dem taffen Auftreten und den lackierten Nägeln steckte ein kleines Mädchen, das sich keinen Ärger einhandeln wollte.
«Was hast du getan?» Ich sah Nina nicht an, sondern konzentrierte mich darauf, den Rauch zum Fenster hinaus zu blasen.
Nina paffte vor sich hin. «Ich habe Luca Tanner getötet», sagte sie.
«Bist du sicher», fragte ich.
«Ja.»
Ich drückte meine Zigarette vorsichtig am äusseren Fensterrahmen aus, schnippte den Stummel in den Garten. Ich drehte mich zu Nina. «Dann erzähl mir jetzt alles. Es ist ernst, Nina.» Diesmal schien ich den richtigen Ton getroffen zu haben.
Nina sah mich an und nickte. Dann begann sie zu reden.
Zwanzig Minuten später kannte ich die ganze Geschichte. Ich hatte nicht gewusst, welche Abgründe sich bereits in Fünfzehnjährigen auftun können. Ich konnte mich kaum an meine eigene Jugend erinnern. Diese war geprägt von dem einen Ereignis, das mich bis heute beschäftigt: Dem Verschwinden meiner kleinen Schwester. Alles andere liegt im Schatten. Vielleicht trafen mich Ninas Schilderungen deswegen mit voller Wucht. Ich hatte nicht das Gefühl, jemals fünfzehn Jahre alt gewesen zu sein. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Nina zeigte es mir.
8 Nina fläzt sich auf dem roten Sofa, blättert in einer Zeitschrift.
«Tatarata!» Alisar öffnet die Tür des angrenzenden Badezimmers und schiebt Mathilda vor sich her.
Die drei sind bei Alisar zu Hause. Sie ist die, die von den Eltern am meisten verwöhnt wird, dabei ist sie nicht einmal ein Einzelkind. Aber ihre Eltern haben einfach viel Kohle. Alisar hat ein riesiges Zimmer mit Fernseher und allem, was dazugehört. Sogar ein eigenes Badezimmer hat sie. Deswegen hängen die Mädchen auch am liebsten bei Alisar ab. Hier können sie tun und lassen, was sie wollen, und Alisars Eltern sind supernett. Alisar scheint einfach alles zu haben. Hübsch ist sie auch, mit den langen Beinen, dem dunklen Haar und den grossen Augen. Ein Wunder, dass Alisar trotzdem so normal ist. Nina und sie sind seit dem Kindergarten Freundinnen. Und vor ein paar Monaten ist Mathilda dazugestossen. Mathilda mir der weissen Porzellanhaut und dem verträumten Wesen. Mathilda, die nie schlecht von jemandem denkt, aber definitiv zwei linke Füsse hat. Nina hat Mathilda vom ersten Tag an unter die Fittiche genommen. Sie sind beide ohne Vater. Nina weiss, was das heisst.
«Na, was sagst du?», fragt Alisar in Richtung Nina. Alisar stemmt die Hände in die Hüften und betrachtet Mathilda von der Seite. Alisar mag, wen Nina mag. Sie ist die Unkomplizierteste von den dreien. Soeben hat sie Mathilda eingekleidet. Sie beide sind gleich gross.
«Du siehst einfach geil aus, Mathilda», meint Nina.
«Ist es nicht … » Mathilda nestelt an dem tiefen Ausschnitt. «Ich meine, sehe ich nicht irgendwie billig aus?»
«Du findest meine Klamotten billig?», fragt Alisar gespielt empört.
«Nein.» Mathildas Gesicht rötet sich vor Verlegenheit. «Aber du bist viel schmaler als ich. Ich sehe darin aus wie eine Presswurst»
«Du siehst gut aus, Mathilda», sagt Alisar. «Schön und sexy.»
«Aber für Halloween?», zweifelt Mathilda. «Sollten wir uns nicht verkleiden?»
Nina legt die Zeitschrift beiseite. Sie steht auf, geht zu Mathilda und nimmt sie bei den Händen. «Du bist verkleidet. Aschenputtel auf dem Weg zum Ball bist du», sagt sie liebevoll. Sie dreht sich mit Mathilda übermütig im Kreis. «Angle dir nur ja keinen Prinzen, hörst du? Du gehörst zu uns.» Sie dreht weiter und weiter.
«Stopp, Nina», kreischt Mathilda. «Hör auf!»
Nina lässt sich aufs Sofa fallen, reisst Mathilda mit sich. Lachend und kichernd liegen sie da, ein Knäuel aus Armen und Beinen, langen Haaren und zartblauem Stoff. Alisar betrachtet die beiden kopfschüttelnd.
Mathilda schaut auf die Uhr und ist plötzlich ernst. «Ich muss los. Meine Mutter kommt gleich nach Hause.» Die ganze Freude ist aus ihrem Gesicht gewichen.
9 Béjart, mein Bekannter bei der Kantonspolizei, ging nicht ans Telefon. Ich hinterliess eine Nachricht, bat um umgehenden Rückruf und legte auf. Frau Behrens sah mich an.
«Sind Sie sicher, dass das notwendig ist?», fragte sie. «Nina ist doch noch ein Kind …»
Ein Kind, das ein anderes Kind getötet hatte.
«Nina will ein Geständnis ablegen, Frau Behrens», sagte ich. «Ausserdem ist es sowieso besser, sie meldet sich freiwillig, anstatt …»
«Anstatt dass man sie irgendwann einfach holen kommt?» Frau Behrens schlug die Hände vors Gesicht. «Ach, Nina, wie bist du nur in so etwas hineingeraten.»
Nina presste die Lippen aufeinander. «Nicht weinen, Mama», sagte sie und strich ihrer Mutter unbeholfen über die Schulter. «Alles wird gut.»
Alles wird gut. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Wie naiv Fünfzehnjährige sein konnten. Naiv und fordernd, unschuldig und verschlagen. Dieses Wechselspiel gehört wohl zur Pubertät dazu. Teenager sind eine eigene Spezies und für mich unerforschtes Gebiet. Es gäbe sicher geeignetere Anwälte, die auf die Vertretung von Jugendlichen spezialisiert waren. Bevor ich Frau Behrens fragen konnte, wer mich empfohlen hatte, rief Béjart zurück. Ich machte Frau Behrens und Nina ein Zeichen und zog mich auf den Flur zurück, schloss die Tür zum Wohnzimmer.
«Wo brennt’s, van der Meer?»
Ich hasste es, wenn er mich bei meinem Nachnamen nannte. Und er wusste, dass ich es hasste. Deswegen machte es ihm so viel Spass.
Béjart und ich hatten uns vor einigen Jahren kennengelernt, als wir zusammen an einem Fall gearbeitet hatten. Wir hatten den Tod einer jungen Frau aufgeklärt. Eine düstere Geschichte. Unwillkürlich schauderte mich. Seither waren Béjart und ich befreundet. Irgendwie war da auch mehr zwischen uns, eine Spannung, ein Knistern, das wir aber beide zu ignorieren versuchten. Das Leben war kompliziert genug.
«Bist du allein?», fragte ich. Ich hörte Schritte, das Schlagen einer Tür.
«Jetzt bin ich’s.»
«Dann hör zu.» Ich erzählte ihm in groben Zügen von Nina und ihrem Geständnis. «Weisst du, wer für den Fall zuständig ist?»
«Du kannst dich an Koller wenden, er leitet das Ermittlungsteam.»