Ein gefährliches Alter. Eva Ashinze
posiert theatralisch unter dem Türrahmen. Sie hat die Haare mit Silberspray eingefärbt, die Augenbrauen mit dicken schwarzen Strichen nachgezogen, violette Lippen. Statt der üblichen Jeans trägt sei einen verschlissenen Rock über einem fadenscheinigen Petticoat und löchrige Strumpfhosen.
«O my God, du siehst so geil aus!», kreischt Alisar. «Lass mich mal deine Haare anfassen.»
Die drei Mädchen sind bei Nina und stylen sich für Halloween. Nachdem Nina sich für Mathilda stark gemacht hat, hat Frau Martin ihr im letzten Moment erlaubt, mit den Freundinnen mitzugehen.
«Um zehn muss ich zu Hause sein», murrt Mathilda. «Meine Mutter behandelt mich wie ein Baby.»
«Ach komm», Alisar stösst ihr den Ellbogen in die Seite. «Besser als nichts.»
«Genau. Besser als nichts», bekräftigt Nina. «Und jetzt mach mal vorwärts, los, zieh dich um! Alisar, gib ihr das Kleid.» Sie schaut Alisar misstrauisch an. «Du hast es doch mitgebracht?»
Alisar deutet stumm auf die Tüte zu ihren Füssen. Mathilda bückt sich danach, zieht das hellblaue Kleid hervor, lässt den glatten Stoff durch die Hände gleiten. «Ihr seht richtig halloweenmässig aus», sagt sie verzagt, «ein bisschen gruselig und trotzdem, naja, sexy.» Mathilda errötet und schaut von Nina zu Alisar, die ein enganliegendes schwarzes Kleid und einen schwarzen Schlapphut trägt; die Lippen hat sie blutrot angemalt, und sie hat ein paar falsche Vampirzähne dabei, die sie einsetzen kann. «Aber ich sehe in diesem Kleid einfach nur normal aus. Ich meine – hellblau. Das passt doch nicht.»
Nina und Alisar tauschen einen Blick.
«Wart ab», ergreift Alisar das Wort. «Wir haben da noch ein paar geile Accessoires.» Sie greift nach einer zweiten Tüte und reiht den Inhalt Stück für Stück vor Mathilda auf. Ein lila Tüllschleier. Ein lila Cape. Ein lila Spray für die Haare. Eine venezianische Augenmaske.
«Und dazu eine Tonne Schminke», sagt Nina. «Du wirst unsere Geisterbraut.» Sie schaut Mathilda erwartungsvoll an. «Na, wie gefällt dir das?»
Mathilda schaut sich an, was die Freundinnen da aufgetrieben haben. Alles nur für sie. Tränen treten ihr in die Augen, sie schluckt leer. «Ach ihr», sagt sie, «ihr spinnt ja.» Sie beugt sich vor und umarmt Alisar, streckt einen Arm nach Nina aus.
«Ich störe wohl gerade.» Beatrice Behrens steht im Türrahmen, betrachtet die drei. Sie ist dankbar, hat Nina gute Freundinnen. Und sie ist umso dankbarer, weil alle anständige Mädchen sind, liebe Mädchen. Arme Mathilda. Ihre Mutter hat nicht alle Tassen im Schrank. Dabei ist ohne Vater aufzuwachsen sowieso schon schwer genug.
«Erde an Mom. Hallo, Erde an Mom.» Nina schwenkt die Hand vor ihrem Gesicht.
Beatrice lächelt. «Entschuldigt. Ich war gerade woanders.» Sie betritt das Zimmer, geht zu Ninas Schreibtisch und stellt das Tablar ab. «Ich habe einen kleinen Imbiss für euch vorbereitet. Menschenblut», sie hebt den Krug mit Grenadinesirup, «und Schrumpfmumien.» Sie deutet auf die Würstchen im Blätterteig, denen sie mit Senf Augen aufgemalt hat.
«Mein Gott, Mama», sagt Nina. «Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr! Menschenblut und Schrumpfmumien. Wie peinlich ist das denn?»
Es ist Frau Behrens anzusehen, dass Ninas harsche Art sie verletzt. Trotzdem lächelt sie ein schiefes Lächeln: «Du hast recht, Nina. Ich habe nicht nachgedacht.»
«Es sieht lecker aus, Frau Behrens», sagt Alisar.
Ninas Mutter schaut sie dankbar an, bevor sie das Zimmer verlässt.
«Mann, Nina», herrscht Alisar Nina an. «War das wirklich nötig? Sie hat es gut gemeint.»
Nina grummelt etwas vor sich hin.
Mathilda hat das Zwischenspiel aufmerksam verfolgt. Sie steht auf, holt sich ein Würstchen. «Du hast wirklich Glück mit deiner Mutter», sagt sie zu Nina und beisst hinein.
16 «Du hast dich mit Luca verabredet. Ihr wolltet euch um Mitternacht auf dem Pausenhof treffen.»
Nina nickte.
Koller sah sie zweifelnd an. Er hatte blassblaue Augen in einem wettergegerbten Gesicht, die grauen Haare waren militärisch kurz. Er sah nicht aus wie ein Polizist. Eher wie ein Bergführer. Dazu passten die gerahmten Fotos an den Wänden: Alpenlandschaften. Ich mochte ihn ganz gern. Er war anständig und vor allem intelligent. Das konnte ich nicht von allen in diesem Gebäude behaupten.
«Weshalb?», fragte er.
«Ich wollte etwas zurück haben. Etwas, das mir gehörte.» Nina verschränkte die Arme vor der Brust. Schützend. Oder abweisend. Ich war mir nicht sicher. Wir sassen zu viert in Kollers Büro; Nina, Koller, eine Protokollführerin und ich. Frau Behrens wartete im Vorzimmer. Nina hatte sie nicht dabeihaben wollen, und ich war ganz froh darüber. Zu viele Emotionen konnten hinderlich sein.
Ich betrachtete Nina von der Seite. Sie hatte Ringe unter den Augen und war sehr blass. Sie hatte wohl nicht viel geschlafen. Kein Wunder. Trotzdem hielt sie sich bis jetzt ganz gut.
«Und das konnte Luca dir nicht tagsüber geben?», hakte Koller nach.
Nina zuckte die Schultern. «Können schon. Wollte er aber nicht.»
«Ihr habt euch also um Mitternacht beim St. Georgen getroffen. Ist das richtig?»
«Ja.»
«Wie habt ihr euch verabredet?»
«Was meinen Sie mit wie?» Nina sah Koller misstrauisch an. Sie zog an den Ärmeln ihres rosafarbenen Kapuzenpullis, versteckte die Hände darin.
«Naja, wie die Verabredung zustande gekommen ist. Habt ihr euch in der Schule unterhalten oder SMS geschrieben oder …» Er zählte keine weiteren Möglichkeiten auf. Vielleicht kamen ihm keine mehr in den Sinn.
«Ich habe ihm eine WhatsApp geschrieben. Er hat zurückgeschrieben.» Wieder zuckte sie mit den Schultern. «So halt.»
Koller nickte zustimmend. «Und was wolltest du von ihm zurückhaben?»
Nina presste die Lippen aufeinander und sah mich an.
Ich nickte ihr auffordernd zu. Sie musste Koller alles erzählen, auch wenn es nicht einfach war.
«Beantworte bitte meine Frage, Nina», sagte er ruhig.
Nina holte tief Luft. «Luca und ich hatten was zusammen. Ich meine, wir waren nicht zusammen oder so, es war nur … Es war … Wir hatten einfach Spass.»
«Ihr hattet keine Beziehung», hielt Koller nochmals fest.
«Das habe ich doch gerade gesagt.» Nina zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn finster an. «Wir haben einfach so rumgemacht. Und …»
«Wann war das?», unterbrach Koller.
«Was?» Nina geriet aus dem Konzept.
«Wann das war. Im April oder früher schon? Und über welchen Zeitraum?»
«Mann, Sie unterbrechen mich dauernd! So kann ich mich nicht konzentrieren.» Nina schien den Tränen nahe.
Ich sah von ihr zu Koller. Ich war überzeugt, dass er das absichtlich machte. Ich fragte mich, worauf seine Taktik abzielte. Falls er Nina damit verunsichern wollte, hatte er es auf jeden Fall geschafft.
«Entschuldige, Nina», er lächelte sie versöhnlich an. «Ich versuche, mich zu bessern, ja?»
Sie nickte, war aber nicht überzeugt.
«Gut, dann erzähl weiter. Wann habt ihr euch getroffen, und was ist da passiert?»
«Ich weiss nicht mehr genau. Es war nur ein Mal. Also, getroffen haben wir uns schon mehr, in der Schule und so. Aber zusammen waren wir nur ein Mal. Ende März vielleicht. Oder anfangs April.»
«Vor oder nach Ostern?»
Ostern war dieses Jahr auf Ende März gefallen.
«Ich weiss nicht.» Nina sah Koller ausdruckslos