Ein gefährliches Alter. Eva Ashinze
Koller. «Und Nina ist nicht die Täterin. Rein physisch ist das unmöglich. Sie ist um einiges kleiner als Luca. Der Täter hatte wohl etwa die gleiche Grösse.» Wieder hob er den Briefbeschwerer.
«Vielleicht stand sie auf einem Mäuerchen? Auf dem Tischtennistisch?»
Koller schüttelte den Kopf, setzte sich. «Da gibt es kein Mäuerchen. Der Tisch ist zu hoch. Ausserdem gibt es eine Reihe anderer Ungereimtheiten in Ninas Geschichte.» Er nahm seinen Kugelschreiber zur Hand, sah auf das Papier vor ihm. «Sie hat die WhatsApp angeblich gelöscht, sie weiss nicht mehr, wann sie mit Luca zusammen war, dabei ist Ostern gerade mal zwei Wochen her …»
«Und bei der Frage nach seinem Handy hat sie gelogen», warf ich ein. Ich erzählte Koller, was Nina am Tag zuvor zu Lucas Handy gesagt hatte. «Wurde es geortet?», fragte ich.
Koller verneinte.
«Also ausgeschaltet.»
«Und vermutlich Akku raus. Da weiss jemand Bescheid.»
«Auswertung der Handydaten von Luca?»
«Noch nicht da.»
Ich dachte über Nina nach. Ich war verwirrt. Weshalb sollte sie eine solche Story erfinden? Was hatte sie davon?
Koller klickte, wie schon bei Ninas Befragung, mit seinem Kugelschreiber. Das Geräusch war nervtötend. Plötzlich stoppte er, beugte sich in seinem Stuhl vor und sah mich mit seinen hellen Augen an. «Nina hat Luca nicht getötet. Aber sie hat ihn gehasst. Die Wut, die war nämlich echt.»
18 Koller musste Nina mit ihrem falschen Geständnis konfrontieren. Er wollte herausfinden, was der Grund dafür war. Schützte sie jemanden? Versuchte sie, die Ermittlungen zu sabotieren? Nicht, dass diese schon sehr weit gediehen wären. Koller gab zu, dass sie momentan auf der Stelle traten, die Befragung der engsten Freunde und Bekannten hatte nichts ergeben, die Auswertung der Handydaten und der kriminaltechnischen Untersuchung liess auf sich warten. Einzig der provisorische Obduktionsbericht lag vor. Bei Kindern arbeitet die Rechtsmedizin schneller. Und Luca war mit seinen fünfzehn Jahren noch immer ein Kind.
Ich wollte kurz mit Nina allein sprechen. Koller verliess das Büro und schickte sie herein. Ich sagte ihr auf den Kopf zu, dass sie gelogen hatte. Ich war nicht wütend, aber ich war auch nicht besonders freundlich. Etwas in Ninas Gesicht verschloss sich. Sie sprach nicht mit mir. Koller verweigerte sie anschliessend ebenfalls jegliche Antworten, so sehr er versuchte, sie zum Reden zu bringen. Schliesslich ordnete Koller seufzend an, dass Ninas Fingerabdrücke genommen wurden. Vielleicht war sie ja doch am Tatort gewesen, hatte aber den Schlag nicht ausgeführt. Auch ihre Handydaten würden ausgewertet werden. Danach entliess man uns – fürs Erste.
Die ganze Zeit über blieb Nina stumm wie ein Fisch. Erst als wir auf ihre Mutter zugingen, sagte sie etwas. Sie sagte: «Reden Sie mit ihr? Bitte.»
«Was? Gelogen?» Frau Behrens war ausser sich. Sie packte Nina an den Oberarmen und schüttelte sie. «Du hast mich belogen? Du hast Luca nicht umgebracht?»
Ich legte ihr beruhigend die Hand auf die Schultern. «Frau Behrens. Wir sind nicht allein.»
Tatsächlich wurden wir angestarrt; Frau Behrens Stimme war auf dem ganzen Stockwerk zu hören.
«Weshalb hast du das getan?», schrie sie. «Weshalb? Bekommst du dermassen wenig Aufmerksamkeit?» Sie versuchte Nina zu schlagen, aber es war keine gewalttätige Geste, vielmehr Ausdruck äusserster Hilflosigkeit. «Weisst du, was du mir angetan hast? Weisst du das?»
Tränen liefen über Ninas Gesicht. Sie sagte kein Wort. Irgendwie gelang es mir, die beiden nach draussen zu lotsen, die eine links, die andere rechts. Ich steuerte auf einen der wenig genutzten Rundbänke zu, die auf dem Kiesplatz vor dem Gebäude der Kantonspolizei und der Staatsanwaltschaft stehen.
«Jetzt wird erst einmal geraucht», verkündete ich. Rauchen war immer gut. Ich zündete eine Zigarette an, reichte sie Nina, dann tat ich das gleiche für Frau Behrens und schliesslich kam ich selbst zum Zug. Die Gemüter schienen sich etwas zu beruhigen. Ich inhalierte und sah in den blauen Himmel hinauf. Ein hübsches Lüftchen wehte. Ich schloss kurz die Augen und stellte mir vor, was für ein Leben ich führen könnte. Ein Leben ohne Mandanten, ohne Verbrechen, ohne Abgründe. Ich öffnete die Augen wieder. In der Ferne türmten sich dunkle Wolken auf. Bald würde es wieder regnen.
«Mama, ich habe dich noch nie rauchen sehen», sagte Nina. Frau Behrens liess den Oberkörper nach vorne fallen und brach in Tränen aus.
19 Ich kontrollierte mit der Hand die Temperatur des Badewassers, liess mehr heisses Wasser hineinfliessen. Im Bademantel ging ich in die Küche, nahm eine Flasche Chardonnay aus dem Kühlschrank und goss mir ein Glas ein. Ein einsamer Sonnenstrahl fiel durch das Fenster und liess den Wein hellgelb leuchten.
Zurück im Bad stellte ich das Glas auf den Wannenrand, liess den Bademantel zu Boden fallen und glitt vorsichtig ins Wasser. Es war wohlig warm und roch zart nach Lavendel. Ich streckte die Hand nach meinem Glas aus, trank einen ersten Schluck. Den hatte ich mir wahrlich verdient.
Der Nachmittag mit Nina, Koller und Frau Behrens war kein Zuckerschlecken gewesen. Erst die Einvernahme, dann hatte ich Nina und ihre Mutter nach Hause begleitet; ich hatte sie nicht gleich allein lassen wollen. Frau Behrens hatte abwechselnd geweint oder auf Nina eingeschrien und wirkte alles in allem wie eine Frau kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Nina, stumm und blass, zeigte keine Reaktion, sondern liess die Mutter auflaufen. Teenager. Mich schauderte.
Ich lehnte mich entspannt zurück, nahm noch einen Schluck, behielt den kühlen Wein einen Moment im Mund. Im Wohnzimmer klingelte mein Handy. Ich entschied, dass der Anruf nicht wichtig sein konnte. Auf jeden Fall nicht wichtig genug, um meine Wohlfühloase zu verlassen. Das Handy verstummte.
«Na, wer sagt’s denn», flüsterte ich vor mich hin.
Kaum ausgesprochen, klingelte es von Neuem. Und nach einiger Zeit ein drittes Mal. Ich seufzte missmutig. Widerwillig hievte ich mich aus der Badewanne. Mit dem Fuss stiess ich gegen das Weinglas, es fiel zu Boden, Scherben und Wein verteilten sich auf den weissen Steinplatten. Ich fluchte laut. Im Gehen schlüpfte ich in meinen Bademantel.
«Das hat ja gedauert», sagte Béjart anstelle einer Begrüssung.
Danke, du mich auch, dachte ich.
«Warst du unter der Dusche?», fuhr Béjart fort.
Ich ignorierte die Frage. «Ich hoffe, es ist wichtig», schnauzte ich stattdessen.
«Es geht um heute Abend. Ich fürchte, wir müssen die Pizza verschieben.»
«Du fürchtest?», ahmte ich ihn nach.
«Ich habe Lily. Aimée muss für einen kranken Kollegen die Nachtschicht übernehmen.»
Lily ist Béjarts fünfjährige Tochter. Sie ist an zwei Tagen pro Woche bei Béjart, den Rest bei der Mutter. Wenn einer der beiden verhindert ist, springt der andere ein. So wie an diesem Abend.
«Es tut mir leid, Moira.»
«Kein Problem.» Ich überschlug im Kopf den Inhalt meines Kühlschranks. Es würde wohl wieder bei Pasta mit gekauftem Pesto bleiben. Beim Gedanken daran seufzte ich.
«So schlimm?», fragte Béjart spöttisch.
Ich errötete. «Ich seufze nicht wegen dir. Ich hab nichts zu essen hier.» Meine Rechtfertigung klang ziemlich lahm.
«Komm zu mir», lud Béjart mich spontan ein. «Ich koche uns was, bringe Lily zu Bett, und dann können wir uns unterhalten.»
«Ich weiss nicht.» Ich wollte mich nicht aufdrängen.
«Ich bin ein guter Koch.»
Das war er tatsächlich; ich hatte auch schon das Vergnügen gehabt.
«Und du hast Lily noch nicht kennengelernt. Komm schon. Sie wird sich freuen.»
Ich hatte Lily kennengelernt. Béjart hatte es vergessen. Im Zusammenhang mit dem Verschwinden meiner Schwester hatte ich im letzten Jahr Aimée, die