Tödliche Gier in Bansin. Elke Pupke
gibt es eigentlich keine kleinen Läden mehr?«
Berta lacht. Sie kennt Paul Plötz schon seit über siebzig Jahren, sein ganzes Leben lang. Ihre Familien waren befreundet und auch zu DDR-Zeiten, als das nicht erlaubt war, hat er sie mit Fisch versorgt. Außerdem ist er seit jeher Stammgast im Kehr wieder. Schon immer haben sie Freud und Leid und alle Probleme geteilt. Sie lässt ihn auch jetzt nicht im Stich.
»Dann bring mir deinen Einkaufszettel mit, ich mach das schon«, schlägt sie vor. »Mich stört an den Masken nur, dass man die Leute dahinter so schlecht so erkennt.«
Sonnabend, 06. Juni
Susanne Fux sitzt auf ihrem kleinen Balkon im Ahlbecker Seniorenpflegeheim und blickt versonnen auf die Ostsee. Das Wasser ist heute sehr blau, freundliche kleine Wellen bewegen die Oberfläche. Sie träumt davon, durch den weichen warmen Sand in das Meer zu laufen, zu schwimmen, sich auf dem Rücken liegend vom Salzwasser tragen zu lassen, schwerelos, nichts als Sonne und See – sie zuckt zusammen, als die Pflegerin ihr behutsam eine Decke über die Schultern legt.
Es ist tatsächlich noch etwas kühl. Auch die Ostsee wird noch zu kalt sein, sie würde nicht hineingehen, selbst wenn sie es könnte.
»Danke, Simone.« Sie lächelt die freundliche junge Frau an und will etwas sagen, als es an der Tür klopft. »Ach, da ist sie ja schon. Hast du uns Kuchen mitgebracht? Das ist lieb.«
Jule nickt und bleibt schüchtern an der Tür stehen. Die Pflegerin nimmt ihr das Paket aus der Hand.
»Nimm dir einen Stuhl und setz dich raus zu deiner Oma. Es ist heute so schön auf dem Balkon. Ich bringe euch Teller und Kaffee. Möchtest du auch etwas trinken? Einen Saft vielleicht?«
Jule schüttelt stumm den Kopf. Nicht noch mehr Zucker, der Kuchen ist schon schlimm genug. Sie wird ein Glas Wasser dazu trinken. Dass Oma sie aber auch immer so in Versuchung führt, wie soll sie da ihre Diät durchhalten. Aber die alte Frau liebt dieses süße Zeug nun mal und sie hat ja sonst nicht mehr viel Freude im Leben.
»Komm her, meine Kleine. Schön, dass du da bist. Ich hab dich gar nicht kommen sehen.«
Sie blickt zur Bushaltestelle hinüber.
»Ich bin mit dem Fahrrad gekommen.«
»Ach so. Ja, das ist doch schön. Es fährt sich gut auf der Promenade, nicht? Führt der Radweg jetzt eigentlich durch bis nach Bansin?«
»Ja.« Jule setzt sich ihrer Oma gegenüber an den kleinen Tisch und blickt sie liebevoll an. »Weißt du, woran ich mich erinnert habe? Wie du mich im Krankenhaus in Heringsdorf besucht hast, als ich mir den Arm gebrochen hatte. Da bist du auch immer mit dem Fahrrad gekommen und hast mir Kuchen mitgebracht.«
»Ja, du warst schon ein kleiner Süßschnabel. Dass du dich daran noch erinnern kannst! Du warst doch noch so klein, gingst noch nicht mal zur Schule.« ›Und deine Eltern hatten mal wieder keine Zeit für dich‹, fügt sie in Gedanken hinzu.
Simone stellt ein Tablett auf den Tisch. Sie hat den Kuchen auf zwei Tellern verteilt und für Susanne eine Tasse Kaffee dabei.
Während die beiden essen, sprechen sie über das Wetter und die vielen Gäste, die schon wieder auf der Insel sind. Traurig beobachtet Jule, wie schwer es ihrer Großmutter fällt, die Tasse zum Mund zu führen. Sie ist so schwach geworden in den letzten Monaten, als sie niemand besuchen durfte. Ob sie Schmerzen hat? Sie klagt eigentlich nie, aber Jule weiß, dass der Krebs immer weiterfortschreitet und nicht mehr heilbar ist. Sie hat große Angst, ihre einzige Vertraute bald zu verlieren.
»Ich hab dir was mitgebracht«, fällt ihr plötzlich ein. Sie bückt sich zu ihrer Umhängetasche und zieht ein Buch mit einer kitschig-bunten Gebirgslandschaft auf dem Einband heraus. »Einen Heimatroman. Die magst du doch, oder?«
»Ja.« Susanne freut sich ehrlich. »Früher habe ich oft Arztromane gelesen, da reicht mir jetzt die Praxis. Aber so etwas lese ich gern, dabei kann man herrlich abschalten. Danke, mein Schatz.«
Jule nickt zufrieden. Sie denkt ständig darüber nach, wie sie ihrer Oma den letzten Lebensabschnitt erleichtern kann. Nur ihr verdankt sie eine schöne Kindheit, sie war die Einzige, die ihr Liebe und Geborgenheit gegeben hat. Außerdem hat sie das Gefühl, die Kälte ihres Vaters ausgleichen zu müssen.
»In deine Aalkartoffeln könnte ich mich reinlegen. Die schmecken genauso, wie meine Mutter sie früher gekocht hat«, schwärmt Andreas Keller. Er schiebt den leeren Teller weg und lehnt sich zufrieden stöhnend zurück. »Ich glaube, ich brauche jetzt erst mal einen Schnaps, zur Verdauung.«
»Kriegst du.« Berta sieht die anderen Stammtischgäste an. »Was ist mit euch? Ich gebe eine Runde aus.«
Sophie geht an den Tisch und nimmt die Bestellung auf. Berta selbst, Andreas Keller und Ruben Fux trinken Kräuterlikör, Paul Plötz und Bruno Kerr, ein weiterer Stammgast, ordern Korn. Arno schüttelt den Kopf, als Sophie ihn fragend anblickt. Er mag keinen Schnaps, trinkt lieber ein Glas Weißwein.
»Meinst du, sie sagt was zu Ruben, wegen seiner Tochter?« Anne sitzt auf einem Barhocker, kann sich aber mit den Beinen auf dem Boden abstützen. Sie beugt sich über den Tresen und spricht leise zu ihrer Freundin. Auch Sophie blickt nicht zu ihrer Tante, sondern konzentriert sich auf die Getränke, die sie einschenkt. Sie schüttelt den Kopf. »Glaub ich nicht. Nicht, wenn alle dabei sind.«
»Ist auch besser so.« Anne ist erleichtert, ihr tut das Mädchen leid.
Sophie sieht nachdenklich zum Stammtisch hinüber. »Ich wüsste trotzdem gern, wie Ruben reagiert. Irgendwie kann ich mir den gar nicht als Vater vorstellen. Wie ist er denn so? Ich meine, wie spricht er mit seiner Tochter? Meckert er viel oder ist er eher locker? Hilft er ihr bei den Hausaufgaben, unternimmt er mal was mit ihr?«
Anne zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir wohnen ja praktisch nebeneinander, ich sehe sie ständig, doch wenn ich mir das so überlege, eigentlich nie zusammen. Die Kleine huscht verschüchtert über den Hof und Ruben – na, du kennst ihn ja. Immer laut, immer lustig, stänkert auch mal, aber ich glaube nicht, dass er das Mädchen schlecht behandelt. Jedenfalls nicht absichtlich. Ich kann mir vorstellen, dass er ziemlich großzügig ist und ihr viel Freiraum lässt, vielleicht auch mal einen Schein zusteckt.«
»Dann bräuchte sie ja nicht zu klauen.«
»Stimmt auch wieder.«
Sophie stellt noch zwei Gläser Bier auf das Tablett und trägt es zum Stammtisch. Anne sieht ihr zu, wie sie die Getränke verteilt und mustert dabei Ruben Fux.
Der Fünfzigjährige ist immer noch attraktiv, obwohl man ihm sein bewegtes Leben ansieht. Er ist groß und kräftig, das volle blonde Haar wird allmählich grau und die Gesichtszüge sind nicht mehr so markant wie früher, sondern von reichlich Alkohol aufgeschwemmt. Er gibt sich selbstbewusst, jovial, großzügig, dominiert noch immer jede Gesellschaft. Aber der Blick aus den auffallend blauen Augen ist nicht mehr ganz so strahlend, das verhindern dicke Tränensäcke.
Er zwinkert Sophie zu, als sie ihm das Bier hinstellt. Das Flirten liegt ihm einfach im Blut, er kann es nicht lassen und freut sich über den verärgerten Blick von Arno. Aber der sagt natürlich nichts, zum einen, weil es sinnlos wäre, Sophie mag Ruben nicht einmal und zum anderen sagt er ohnehin nie viel. Außerdem redet Andreas gerade. Ausführlich erzählt er von seinen zweijährigen Zwillingstöchtern, die sich in einer eigenen Sprache unterhalten, die niemand außer ihnen versteht.
»Interessant«, bemerkt Sophie, während sie die leeren Gläser vom Tablett räumt.
»Ja, findest du?« Anne verdreht die Augen.
»Ach, nun lass ihn doch. Die Kinder sind nun mal sein ganzer Lebensinhalt. Ich finde das sympathisch.«
»Ich finde es langweilig. Was hat der eigentlich früher gemacht, als er noch keine Kinder hatte?«
»Er war Schiffbauingenieur auf der Peenewerft.«
»Ach so? Und das hat