Tödliche Gier in Bansin. Elke Pupke
das Pferd aus dem Graben«, übersetzt Berta für Anne, die den Fischer verständnislos angesehen hat.
»Ja, gut, aber Renate wartet.« Zögernd lässt sie sich auf einem Stapel Fischkisten nieder.
»Ich bring den Aal hoch«, ruft Arno durch die Tür. »Ich fahr dann auch gleich nach Hause, oder ist noch was?«
»Nee, mach mal. Bis morgen«, antwortet Paul seinem Kollegen. »Und du?«, wendet er sich an Anne. »Bleib sitzen, wenn du schon mal da bist. Willst ein Bier? Oder lieber einen Korn?«
Berta lacht. »Paul, das ist wie früher. Da könnte manche Bansinerin ein Lied drüber singen. Wie oft hat eine Frau ihren Mann zum Strand geschickt: ›Hol uns mal ein paar Heringe zum Mittag!‹ Und er kam drei Stunden später ohne Hering aber blau wie ein Stint wieder.«
Anne sieht sich um. Der alte Fischer hat aus zwei aneinander gebauten Buden durch Entfernen der Zwischenwand eine gemacht und jetzt genügend Platz für einige Stapel Plastikkisten, einen Berg Netze, einen großen alten Sessel, der neben dem jetzt kalten, eisernen Ofen steht und in dem er sitzt. Bertas Platz ist ein alter Küchenstuhl, der zweite, den Arno benutzt, wenn er Netze flickt, steht unter dem Fenster. Auf einem wackligen Holztisch, der an die Wand gelehnt ist, stehen ein Wasserkocher, ein paar Gläser und Tassen und eine Kaffeedose. Ein Kasten Bier wurde unter den Tisch geschoben, die Schnapsflaschen sind zwischen den Netzen versteckt.
»Wie lange steht die Baracke hier eigentlich schon?«, lenkt Anne ab. »Ganz früher standen hier doch lauter einzelne Buden, nicht?«
»Eine Langbude ist das«, präzisiert Paul. »Ja, die Alten hatten ihre Buden am ganzen Strand entlang stehen, bis nach Heringsdorf. Immer mit Abstand dazwischen. Da gab es Bansin noch gar nicht, jedenfalls das Seebad. Die Fischer kamen aus Dorf-Bansin, Sallenthin und Sellin. So um 1900 haben sie dann die ganzen Hotels und Pensionen gebaut. Die Fischer wohnten immer noch in den Dörfern. Morgens, wenn es hell wurde, im Sommer gegen drei oder vier, gingen sie zum Strand. Unterwegs haben sie sich getroffen und sind dann laut palavernd und mit ihren Holzpantoffeln über das Kopfsteinpflaster klappernd durch den Ort gezogen. Die Gäste – ein vornehmes Volk war das hier in Bansin, lauter Adlige und hohe Militärs, die haben gesoffen wie die Löcher – sind erst zwei Stunden vorher aus der Bar gekommen. Da gab es massenhaft Beschwerden.«
Er lacht. »Was sollten sie machen? Sie konnten die Fischer ja nicht abschaffen oder sonst wohin verbannen, die hatten die älteren Rechte. Aber Gäste brauchten sie auch. Bürgermeister Schmadtke war es dann, der in den Dreißigerjahren eine Lösung fand: Die Fischer sollten durch den Wald gehen – heißt ja heute noch Fischerweg, auch wenn es jetzt eine Straße ist – und da, wo der Weg am Strand endet, wurde die Langbude gebaut.
Jeder Fischer bekam als Entschädigung für seine alte Hütte eine zwei Meter breite neue Bude und den Streifen davor bis zum Wasser pachtfrei auf Lebenszeit. Oder für immer, ich weiß nicht so genau, was in dem Vertrag drinsteht. Theoretisch müsste der noch auf dem Gemeindeamt liegen, aber praktisch werden sie ihn wohl entsorgt haben; spätestens als Bansin mit Heringsdorf und Ahlbeck vereint wurde. Warum sollten die sich auch mit was belasten, was den Fischern nützt?«
»Dir gehören also diese zwei Buden – müssten demnach vier Meter sein.« Anne schätzt die Breite ein. »Und vier Meter breite Dünen und der Strand auch? Ist ja ein Ding.«
»Ja, so ist das. Aber was hab ich davon? Die meisten wissen das gar nicht mehr, interessiert ja auch keinen. Früher war das anders. Ich kann mich noch erinnern, als ich ein Kind war und mein Vater hatte die Bude, haben die sich um jeden Meter gestritten. Die brauchten den Platz ja auch. In den Dünen haben sie die Baumwollnetze zum Trocknen gespannt, da lagen auch alle Boote. Und dann haben sie im Sand die Angeln besteckt: der Fischer saß dabei in einer Grube, links und rechts lagen die Schnüre. Manchmal hat einer dem anderen in die Grube geschissen oder sie haben heimlich die Pfähle versetzt, die waren sich auch alle nicht grün.«
Berta nickt. »Ja, das stimmt. Noch schlimmer wurde es, als nach 1945 die Fischer von Wollin dazukamen, weil ihre Insel polnisch wurde. Denen haben die Einheimischen schon gar nichts gegönnt. Die ersten zwei Jahre haben sie gar nicht miteinander gesprochen.«
»Mussten sie ihnen denn Buden abgeben?«, fragt Anne.
»Nein, die haben neue gekriegt. Die standen da drüben, hinter der alten Ablieferungsbude. Einige haben sie abgerissen, als das »Haus des Gastes« dorthin gebaut wurde«, erklärt Paul.
»Die Fischer hatten schon immer den größten Spaß, wenn sie anderen einen Streich spielen konnten. Aber wenn es drauf ankam, haben sie zusammengehalten«, nimmt Berta das Thema wieder auf. Sie weiß, womit sie ihren alten Freund aufheitern kann.
»Mussten sie ja«, stimmt Paul zu. »Die Arbeit war früher viel schwerer. Und wenn ein Sturm aufkam, mussten sie alle zusammen schauen, dass sie die Boote nach oben und in Sicherheit bringen. Nicht mit einem Traktor, so wie heute. Damals wurden sie per Hand, mit reiner Muskelkraft, hochgekurbelt.«
Berta nickt. »Das war sogar zu DDR-Zeiten noch so. Da mussten die Boote abends auch immer in die Dünen gezogen werden, damit über Nacht keiner Republikflucht begehen konnte.«
»Stimmt«, ergänzt Paul. »Und sie wurden mit einem Vorhängeschloss gesichert. Das ging zwar auf, wenn man nur dagegen gepisst hat. Aber es war eben Vorschrift, wenn es fehlte, hieß es ›Strafe zahlen‹.«
»So«. Berta steht auf und reckt sich. »Ich geh dann mal Kaffee trinken. Anne, was ist mit dir? Paul, du kannst auch mitkommen. Arno sitzt bestimmt noch bei Sophie.«
»Ja, mag sein, aber ich muss nach Hause. Meine Frau nervt mich schon seit Tagen, ich soll ihr was im Garten helfen.« Er verdreht die Augen. »Irgendwas Schweres, was sie allein nicht schafft. Sie soll sich nicht so anstrengen, ist auch nicht mehr die Jüngste. Aber ihr Garten ist eben ihr Ein und Alles. Vor allem darf sie sich nicht aufregen, das ist nicht gut bei ihrem Diabetes. Ich werd es heute mal hinter mich bringen, damit ich meine Ruhe hab.«
Donnerstag, 11. Juni
Jule hockt auf ihrem Bett unter der Dachschräge und liest. Sie hat einen Karton voller Kinderbücher, der unten in ihrem Kleiderschrank stand, hervorgeholt und auf dem Bett ausgekippt. Es sind Bilderbücher dabei und Vorlesebücher für Vorschulkinder. Die erinnern sie an ihre Kindheit und an ihre Oma. Die hat ihr Märchen erzählt und oft vorgelesen. Am liebsten mochte sie Gedichte. Mag sie immer noch. Von Oma hat sie zum Geburtstag einen Gedichtband von Rilke bekommen. Das Gedicht »Der Panther« ist das traurigste, das sie kennt. Sie weint jedes Mal, wenn sie es liest.
Jetzt ist sie beim Durchblättern in Kästners »Emil und die Detektive« hängengeblieben.
Schöne heile Welt. Sie seufzt. Warum hat sie keine Freunde? Und warum sind die Menschen nicht so, wie in den Büchern? Gut oder böse. Schwarz oder weiß. Und am Ende wird alles gut.
Ihre Welt ist kompliziert. Sie zieht die Nachttischschublade auf und holt eine Tafel Schokolade heraus. Dann fällt ihr Blick in den Spiegel. Sie hat ihn absichtlich so aufgehängt, dem Bett gegenüber, als Abschreckung. Was sie sieht, sind breite Oberschenkel, ein Bauch, der über den Hosenbund quillt, hängende Schultern und Pausbacken. Sie richtet sich auf, hebt das Kinn ein wenig. »Du hast so ein hübsches Gesicht«, hat Oma gesagt. Die großen Augen, die schmale Nase und die vollen Lippen hat sie von Mama geerbt, die kräftige Statur leider von Papa. Aber auch seine blonden Locken.
Sie reißt die Schokolade auf. Ist doch egal, sie will sowieso kein Model werden. Sie liebt Tiere, möchte am liebsten Tierärztin werden oder wenigstens Zootierpflegerin. Über ihrem Bett hängen Poster von Eisbären, Elefanten und Affen. Die mobben niemanden, weil er dick ist.
Jule sieht auf ihren Wecker. Noch ist Zeit, um nach Ahlbeck zu Oma zu fahren. Mit dem Rad ist sie in einer halben Stunde da. Eigentlich wollte sie sie erst am Sonntag wieder besuchen. Es ist bestimmt zu auffällig, wenn sie so oft kommt. Aber wahrscheinlich weiß die alte Frau, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Und wahrscheinlich hat sie auch schlimme Schmerzen. Sie spricht nur nicht darüber. Jedenfalls nicht mit Jule.
Das