Tödliche Gier in Bansin. Elke Pupke
um, dann steckt sie die angebrochene Schokoladentafel in ihre Umhängetasche und Kästners »Das doppelte Lottchen«.
Sie würde ihrer Oma lieber einen von den Romanen mitbringen, die sie so gern liest oder Pralinen. Aber sie hat kein Geld und zu stehlen traut sie sich nicht schon wieder, die Verkäuferin hat sie neulich schon so misstrauisch angesehen. Vielleicht kann sie morgen mal wieder leere Bierflaschen abgeben, die stehen überall in der Wohnung herum.
Eigentlich macht sie sich keine Sorgen um Geld. Es kommt immer mal wieder vor, dass es knapp ist und die Familie auf Sparflamme lebt. Ihrem Vater ist bisher noch immer etwas eingefallen. Und dann ist er großzügig und genießt es, seiner Tochter Geschenke zu machen.
Susanne Fux freut sich, als ihre Enkelin ins Zimmer kommt. »Ich wollte ein bisschen Rad fahren«, erklärt diese. »Auf der Promenade geht das am besten. Guck mal, was ich dir mitgebracht habe. Ich weiß noch, wie du mir das Buch geschenkt hast. Du hast gesagt, dass du es auch schon als Kind gelesen hast und wie sehr du es mochtest. Willst du es jetzt noch einmal lesen?«
»Was für eine tolle Idee! Das mache ich.«
Sie gehen auf den Balkon, Jule legt die Schokolade auf den Tisch. Die ist ein bisschen weich geworden, aber das macht nichts. Sie brechen sich abwechselnd kleine Stücke ab, genießen und sehen den Leuten auf der Straße zu. Gerade hält ein Reisebus an, Gäste steigen aus. Jule erkennt Anne Wiesner, ihre Nachbarin. Sie führt die Gruppe auf die Strandpromenade, wahrscheinlich geht sie mit ihnen zur Seebrücke.
»Ist zu Hause alles in Ordnung?«, Susanne Fux fragt zögernd, eigentlich weiß sie, dass da nichts in Ordnung ist. Aber sie möchte, dass Jule darüber redet. Es ist besser, als wenn sie alles in sich hineinfrisst, sie neigt ohnehin dazu, alles sehr schwer zu nehmen.
»Ja, alles super.« Jule antwortet betont munter, lächelt und merkt, dass ihre Großmutter ihr nicht glaubt. Sie sieht besorgt aus. Mist! Sie soll sich keine Sorgen um sie machen, sie hat doch genug eigene Probleme. Jule wünscht sich so sehr, ihrer Oma den kurzen Rest ihres Lebens ein wenig zu erleichtern.
Vor zwei Wochen hat sie es von ihrem Vater erfahren. Ruben hatte sich bemüht, einfühlsam zu sein, aber nicht allzu sehr, Empathie gehört nicht zu seinen Stärken. Er kann es nur sehr gut vortäuschen, dass er sich für seinen Gesprächspartner oder für irgendjemanden interessiert.
Beim Frühstück hatte er seiner Tochter ernst in die Augen gesehen, seine große Hand auf ihre gelegt und mit seiner weichen, tiefen Stimme leise gesagt: »Julchen, du musst jetzt besonders lieb zu Oma sein. Sie ist sehr krank. Der Arzt hat mir gesagt, dass sie Krebs im Endstadium hat. Er kann ihr nicht mehr helfen, nur noch die Schmerzen lindern.«
»Wann?«, hatte sie herausgepresst.
»Das kann man nie genau sagen. In ein paar Wochen oder Monaten. Hoffen wir, dass es schnell geht.«
Jule war aufgesprungen und in ihr Zimmer gelaufen, wo sie hemmungslos weinte. Wie konnte er nur so etwas sagen? Oma ist doch seine Mutter.
Ganz selbstverständlich ist sie davon ausgegangen, dass die beiden sich jetzt versöhnen würden.
Ruben Fux und seine Mutter sprechen schon seit Jahren nicht miteinander. Jule weiß nicht genau, weshalb, nur, dass es um Geld geht. Sie hat versucht, ihre Mutter auszufragen, in einem der seltenen Momente, wo die nüchtern war, aber sie hatte nur gleichgültig mit den Schultern gezuckt. »Keine Ahnung, ist auch egal. Sind eben Sturköpfe.«
»Aber wenn sie jetzt stirbt, ohne, dass ihr euch vertragen habt – das geht doch nicht!« Jule war entsetzt. »Und nur wegen Scheißgeld?«, hatte sie ihn angeschrien.
»Nein, es geht gar nicht um Geld – nicht nur, nicht hauptsächlich«, hatte ihr Vater sich verteidigt. »Sie hat deine Mutter beleidigt, das kann ich doch nicht akzeptieren. Sie hat Mama nie gemocht. Aber ich halte eben zu meiner Frau, der Mutter meiner Tochter!«
Natürlich nahm Jule ihm sein pathetisches Getue nicht ab, sie hat ihn längst durchschaut. Außerdem behandelt er seine Frau auch alles andere als respektvoll.
Jule ist wütend auf ihren Vater. Wie kann der nur so herzlos sein! Oder ist er nur gedankenlos, ahnt er gar nicht, wie weh er seiner Mutter tut?
Sie mustert die alte Frau möglichst unauffällig von der Seite. Ist sie kleiner geworden in den letzten Monaten? Ihre Kleidung sieht aus, als würde sie jemand anderem gehören, einer Frau, die größer und kräftiger ist. Die dürren Hände, die aus viel zu weiten Ärmeln ragen, zittern unkontrolliert.
Susanne Fux schmerzt es, zu sehen, wie ihre Enkelin sich bemüht, sie aufzumuntern. Sie hört die unterdrückten Tränen in der künstlich fröhlichen Stimme. Natürlich weiß Jule es längst. Und warum soll man ihr auch etwas vormachen? Sie wird es ja doch erfahren, das lässt sich nicht vermeiden. Und sie muss mit dem Mädchen reden. Will alles regeln, bevor es zu spät ist.
»Hör mal, Jule, es ist gar nicht so schlimm. Ich bin alt und müde, ich möchte endlich einschlafen. Ich habe auch keine Angst davor. Nur, dass ich für dich nicht mehr da sein kann, das tut mir leid.«
Sie nimmt ihre Enkelin in den Arm. »Ja, weine ruhig, meine Kleine. Du musst dich nicht verstellen. Du weißt doch, mir kannst du alles erzählen.«
Es gelingt ihr nach einer Weile, das Mädchen zu beruhigen. Beide sind erleichtert, sich nichts mehr vormachen zu müssen. Sie sprechen über den Tod, dann über ihre gemeinsame Zeit, über Jules Kindheit.
Simone Keller, die Pflegerin, kommt zwischendurch auf den Balkon, sie bringt den beiden etwas zu trinken und der alten Frau ihre Schmerztabletten und eine Decke. Aber sie drängt Jule nicht zum Gehen.
Es wird schon langsam dunkel, die Laternen auf der Promenade gehen an und sie reden immer noch. Es gibt etwas Wichtiges, das Susanne regeln muss, solange sie es noch kann.
»Jule, du weißt, was ich von deiner Mutter halte. Sie war nie eine gute Mutter und auch keine gute Ehefrau. Ruben hätte etwas Besseres verdient. Er ist so talentiert, so geschäftstüchtig. Du weißt, dass er immer wieder einen Weg gefunden hat, sich etwas aufzubauen. Was hätte aus ihm werden können, mit der richtigen Frau? Aber Ulrike hat ihn immer wieder runtergezogen. Mit ihrer Sauferei hat sie alles kaputt gemacht und sein Geld ausgegeben. Ich muss dir das leider so deutlich sagen. Aber du weißt es ja selbst.« Sie blickt das Mädchen etwas streng an, sie will nicht, dass es ihre Mutter verteidigt, nicht jetzt. Ihre Lippen sind schmal, wie immer, wenn sie von ihrer Schwiegertochter spricht.
Jule nickt stumm. Was soll sie sagen? Es stimmt ja, dass ihre Mutter trinkt. Aber schon die Vierzehnjährige weiß, dass das keinen Einfluss auf die Geschäfte ihres Vaters hat. Der zieht sein Ding immer durch, Ulrike wäre wohl die Letzte, von der er sich beeinflussen ließe. Im Gegenteil. Jule denkt, dass ihre Mutter wohl nicht so viel trinken würde, wenn ihr Vater etwas netter zu ihr wäre. Nur, dass dem das völlig egal ist.
»Hör zu, Jule. Ich vertraue dir jetzt etwas an, was unbedingt unter uns bleiben muss. Eigentlich bist du noch zu jung, als dass ich mit dir darüber reden sollte, aber was bleibt mir übrig.«
Sie stöhnt leise, als sie sich in ihrem Sessel zurechtsetzt und zieht sich die Decke enger um die Schultern.
Jule hat Angst. Angst um ihre Oma, die jetzt so furchtbar alt und krank aussieht und Angst vor dem, was sie erfahren soll. Sie will nicht noch mehr Schlechtes über Ulrike hören, es ist doch ihre Mutter und sie liebt sie.
»Du weißt ja, dass ich das Haus verkauft habe.«
Das Mädchen nickt erleichtert. Ja, das weiß sie. Das Haus, in dem sie wohnt, hat früher der Familie gehört. Bevor Oma ins Pflegeheim gegangen ist, hat sie es verkauft und der neue Besitzer wohnt gar nicht darin, nicht einmal im Ort. Er wollte nur sein Geld anlegen und ein Haus in Bansin, nicht weit vom Strand entfernt, wird nicht an Wert verlieren. Er hat es gründlich restaurieren und modernisieren lassen, was auch bitter nötig war. Jetzt zahlt Familie Fux Miete, aber für eine schöne Wohnung mit neuen Fenstern und Fußböden und einer modernen Heizung.
Eigentlich ist es ja ein Geheimnis. Jule hat es erfahren, als sie zufällig ein Gespräch zwischen Ruben und seiner