Der Jäger und sein Ziel .... Gerd H. Meyden
Kanzel, träumte ein kleiner Weiher, etwa fünfzehn Meter im Geviert. Seine schilfigen, von Erlen gesäumten Ufer waren eine Heimstatt für allerlei Lurche. Dort quarrten sommers die grünen Teichfrösche, läuteten die Gelbbauchunken und lärmten bei Sonnenuntergang die Laubfrösche, dass man meinte, die Luft vibriere. Linkerhand, wie von den rodenden Bauern vergessen, wuchs eine kleine Buschinsel aus einem Brennnesseldschungel. Hier bildete der Wiesenboden eine sumpfige Senke. Das saure Binsengras rentierte keine Mahd. Das ließ die Insel überleben.
Nach einer halben Stunde kehrten die drei mit langen Gesichtern zurück. An der Weiherwiese, nachdem die „Reh-Demo“ dort offensichtlich beendet war, waren ihnen erste Zweifel an meiner Sensationsmeldung aufgekommen. Unser homerisches Gelächter bei ihrem Eintritt zerstreute alle Bedenken. Hubertus ertrug den „Aprilscherz“ mit Humor. Letztendlich lachte er mit – und der Teereimer verschwand.
Es ist wohl eine menschliche Eigenschaft, immer mehr, immer Besseres zu wollen. Dabei war dieser Platz an der Weiherwiese immer schon ein Eldorado für Rehe. Für gute Böcke. Die Waldstücke, welche die Wiese im weiten Bogen umgeben, boten ruhigen Einstand. Das Dorf war weit. Spaziergänger verirrten sich niemals hierher. Nur ich blies zuweilen meiner Frau mit dem Jagdhorn ein Ständchen. Das Echo, der Hall waren hier wie in einer riesigen Kathedrale, dass man meinte, der ganze Wald würde erklingen. Wir beide hatten in dem über tausend Hektar großen Revier freie Büchse, nachdem wir unser eigenes Revier – es war das Nachbarrevier – ein paar Jahre zuvor verloren hatten.
Noch war hier der Maiswahnsinn nicht ausgebrochen, sodass die Rehe, so sie nicht im Getreide standen, ihren Einstand im Wald fanden. Bei jedem Ansitz – ich führte ein kleines Notizbuch, in dem ich jetzt nachschlage – hatte man Anblick. Unglaublich, was ich da lese. Ob Mai, August oder Oktober, zu jedem Datum sind da ein, zwei, drei Böcke, Geißen, Schmalrehe oder Kitze verzeichnet. Und das war am Ende der noch gar nicht so lang vergangenen Achtzigerjahre. Und – ob man’s glaubt oder nicht – der Wald steht dennoch immer noch prächtig da.
Von drei Seiten her strebten die Rehe aus ihren Einständen zur Äsung auf die Wiese, die noch natürlich war, das heißt bunt von vielerlei Kräutern, Blumen und Gräsern. Das Waldstück rechterhand mit altem Baumbestand und Unterwuchs von Weichhölzern war relativ klein, ging aber in eine lang gezogene Dickung über. Hinter den beiden anderen Seiten jedoch erstreckte sich tiefer Wald in verschiedenen Altersklassen. Von hierher kamen die meisten seiner Bewohner.
Im 87er Jahr machte die Weiherwiese ihrem legendären Ruf alle Ehre. Im Juni hatte ich dort einen recht ordentlichen, reifen Sechserbock bestätigt. Da meine Frau in dem Jahr noch blanken Büchslauf hatte, riet ich zur Weiherwiese und beschrieb ihr diesen Bock genau.
„Etwa drei Zentimeter kurze Sechserenden, eine Hand breit über Luser hoch, normal weit gestellt. Da brauchst du dich mit dem Ansprechen nicht lang zu plagen, der ist gar nicht zu verwechseln.“
Mit dieser Empfehlung wünschte ich ihr für den Ansitz Weidmannsheil.
Im Dämmern, ich saß jenseits des Waldes, fiel bei ihr ein Schuss. „Na wunderbar“, dachte ich, „das ging ja ganz nach Programm!“ Als ich sie dann beim erlegten Bock abholte, schaute sie mich zweifelnd an. „So alt, wie du meinst, scheint er doch nicht zu sein.“
Der Unterkiefer bestätigte ihre Vermutung. Der Bock war nicht älter als höchstens drei Jahre. Wie konnte ich mich so irren!? Es ist wohl am schwersten, so tröstete ich mich, unter allen Schalenwildarten Rehe altersmäßig genau anzusprechen.
Drei Wochen darauf schoss ich den als unverwechselbar beschriebenen Bock. Er war etwa siebenjährig und die ziemlich genaue Vorlage für sein leider zu früh erlegtes Abbild. Wenn es eine typmäßige Vererbung gibt, dann war der Bock meiner Frau mit Sicherheit sein Sohn. Selten habe ich eine solche Duplizität der Erscheinung gesehen. Die beiden ähnelten sich dermaßen, dass eine Verwechslung durchaus verzeihlich ist. Damals machten wir uns den Vorwurf mangelnder Sorgfalt. Doch bei allem modernen Zeitgeist – von wegen „Zahl vor Wahl“ – ich würde ihn mir auch heute noch machen.
In den Tagen zwischen diesen Erlegungen ereignete sich auf der Weiherwiese Überraschendes. Ein Freund von mir sollte seinen ersten Rehbock bei mir schießen. Wochen zuvor hatte ich einige geringe Böcke ausgemacht, die so recht als Erstlinge infrage kamen. Dem jungen Jäger war das Erlebnis in Begleitung seines alten Freundes das Wichtigste. Auch ging’s ihm gar nicht um was Besonderes, er wäre, so versicherte er mir, auch mit einem Knöpfler zufrieden. Diese Einstellung fand ich absolut richtig, denn ein anderer junger Jäger, der in meinem ehemaligen Revier vom Treiber zum Jäger geworden war, fuhr extra nach Ungarn, um dort seinen Ersten zu erlegen. Das musste für ihn was ganz Tolles sein, und so schoss er einen 550-Gramm-Bock. Danach bereitete ihm alles, was geringer war, keine besondere Freude. Er achtete nicht das Erlebnis, entscheidend war für ihn nur die stetige Steigerung des Trophäengewichts und der Punktezahl.
Aber mein Freund hatte Pech. In diesem Revier, wo man denkt, man könne jeden Tag einen passenden Bock erlegen, fanden wir nur Zukunftsböcke. Es war wie verhext. An seinem letzten Tag wollten wir’s noch auf der verlässlichen Weiherwiese probieren. Aber außer einem nachdenklich vor sich hinmümmelnden Hasen zeigte sich nichts. Im letzten Licht jedoch zog aus der kleinen Buschinsel ein körperlich geringes Reh.
„Pass auf, jetzt kommt einer für dich!“, raunte ich dem Freund noch zu, da fiel mir beinahe das Glas aus der Hand. Was da heranwechselte, war der Bock der Böcke. Knuffig und rau geperlt schien hier das Geweih mit dem Bock spazieren zu gehen. Zwischen den Lusern war alles „voll“. Aus der grobstacheligen Perlung ragte ein kleines viertes Ende. Ein ungerader Achter! Jeden Widerspruch ausschließend, drückte mir der junge Jäger seine schussbereite Büchse (ich hatte die meinige nicht dabei) eilig drängend in die Hand und zischte mir zu: „Schnell, schieß du, das ist so nicht abgemacht! Das ist kein Erstlingsbock für mich!“ Flüsternd ging’s noch kurz hin und her, doch als der Bock, der von unserem Getuschel offenbar was bemerkt hatte, sich bereits abwenden wollte, gab’s für mich kein Zögern mehr. In beinah letzter Sekunde fiel der Schuss, und der Kapitale versank nach kurzer Flucht in den Brennnesseln.
Als wir vor dem erlegten Bock standen, fiel mir der Freund um den Hals und mir ein Stein vom Herzen. So herzlich gratulierte er mir, dass ich, obwohl ich mich ob meiner unerfüllten Gastgeberpflicht ein wenig schämte, nun erlöst meiner unbändigen Freude freien Lauf lassen konnte. Ich habe davon ein wenig auf anderen Blättern erzählt, auch dass der Freund im nächsten Jahr einen Bock – nun war’s sein zweiter – in meinem Hochgebirgsrevier erlegen konnte. Und der konnte sich wahrlich sehen lassen.
Das Hallo auf der Hütte meines Gönners war groß. Neidlos gratulierte er mir zu meinem (bis auf den heutigen Tag) stärksten Bock. Niemand hatte ihn zuvor in Anblick gehabt. Und freudig nutzte Hubertus jetzt seine Chance zur Retourkutsche für den „Aprilscherz“: „Den Bock hast du nur dem Buchenholzteer zu verdanken.“
Dieses unverhoffte Weidmannsheil erweckte bei einem anderen Mitgänger, dem alten Martl, wilde Jagdlust. Er kombinierte, wo ein Guter geht, da geht vielleicht noch so einer; da muss ein Nest sein. Jeden Tag lauerte er morgens und abends auf der Weiherkanzel. So eine Idee des Reh-Doppelpacks würde jeder andere als reichlich naiv abtun – aber – wie’s die Waldgeister manchmal so einrichten, Glück haben bevorzugt Kinder und Narren. Der beinah achtzigjährige „Narr“ schoss ein paar Tage später am gleichen Platz einen ebenfalls sehr guten und reifen Bock.
Auf der Trophäenschau – damals hieß das noch so – behängte man meinen Bock mit einer Goldmedaille. Er war der beste des an guten Rehböcken wirklich reichen Landkreises. Der des alten Herrn bekam eine Silbermedaille. Das wurmte den Alten ganz arg, da doch sein Bock nach seiner Ansicht viel mehr hermachen würde, als der meine. Auf sein Klagen hin nahm ich das Goldtaferl von meinem Bock herunter und hing es dem seinen über die Stange. Da ging ein Strahlen über das Gesicht des alten Jägers. Wie man mit einem Stück goldfarbenen Metalls solch eine Beglückung auslösen kann! Ich hab’s ihm von Herzen vergönnt. Vielen Jägern bedeutet eine solche Auszeichnung sehr viel. Als „Jäger und Sammler“ freue auch ich mich an einer reifen und starken Trophäe. Mir geht’s jedoch in erster Linie um das Drum und Dran des Erlebnisses, ich messe Jagdfreude nicht an Geweihgewicht, Punkten und Medaillen.