Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021. Jürgen Thaler

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also die Ansprache einer Gesellschaft als Totalität im Sinne einer alle sozialen Zusammenhänge ebenso wie die jeweiligen sozialen Akteure zu einem „Ganzen“ rahmenden Kategorie,3 ebenso ein Ergebnis der geistes- und sozialgeschichtlichen Entwicklungen und Erfahrungen des frühen 19. Jahrhunderts4, wie sich korrelierend dazu die Vorstellung in dieser Zeit durchsetzt, Realismus in der Literatur und eine entsprechend realistische Schreibweise bezögen sich auf eine Welt und Wirklichkeit, „wie sie ist“ bzw. wie sie von Akteuren und Beobachtern erfahren und in literarischen Texten als Ganzes wiedergefunden werden kann.5

      Stichworte, die Orientierungs- und Bezugspunkte für diese Entwicklung nach beiden Seiten anbieten, sind dabei zum Ersten die mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft verbundenen marktgesellschaftlichen Prozesse und Strukturen, wie sie von Karl Polanyi im Blick auf deren Durchsetzung in ländlichen Räumen und Lebensformen als „The Great Transformation“6 beschrieben wurden. Zum Zweiten und damit ebenso korrelierend wie darauf reagierend sind die mit dem Einsatzpunkt der Französischen Revolution von 1789 verbundenen Ansprüche auf egalitärere, freiere und zugleich solidarische Gesellschaftsformen anzusprechen, die sich zunächst in der Rahmensetzung bürgerlicher Gesellschaft konstituieren,7 dann aber sukzessive auf weitere Gesellschaftsschichten und so auch auf die Landbevölkerung ausstrahlen8 bzw. von dieser auch übernommen und eingefordert werden.9 Schließlich sind es zum Dritten die vom Jahrhundert der Aufklärung ausgehenden Ansprüche und Leitbilder individueller Emanzipation, nicht zuletzt bzw. vor allem durch Bildung und Literalität zu erreichen, die sich ebenfalls den Bewohnerinnen und Bewohnern ländlicher Räume erschließen und vermittelt u. a. durch Pfarrer und Lehrer, aber auch durch schreibende Bauern, diese selbst zu Akteuren und Sprechern, auch zu reflektierenden Beobachtern ihrer sozialen Umstände werden lassen.10 Insgesamt führen diese Prozesse zu einem Abschmelzen ständischer Gesellschaftsmodelle, entsprechender Privilegien, Habitus-Konzepte und nicht zuletzt auch traditionell gefestigter Selbstverständnisse, wie dies von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848 in die Formel: „Alles Ständische und Stehende verdampft“ gefasst und als bedeutende Leistung der „bürgerlichen Revolution“ in Korrelation zum Siegeszug des Industriekapitalismus hervorgehoben wurde. Dies betrifft, was sich insbesondere auch an der lebenslangen Auseinandersetzung Felders mit den Repräsentanten der katholischen Kirche ablesen lässt, auch die kulturellen Codierungen und Bewusstseinslagerungen der einfachen Leute in ihren herkömmlich überkommenen Mustern, denn „alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“11. Dieser Umstand führt zum einen auf den dann auch von Felder beschrittenen Weg zu „nüchterner“ Wissenschaft, publizistischer Agitation und ggf. realistischem Schreiben, zumal im Blick auf die angestrebte soziale und ökonomische Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Lande. Zum anderen, und auch dies lässt sich sowohl von Felders Texten aus bearbeiten als auch als spezifisches Merkmal seines Schreibens und Erzählens ausmachen, bleibt zu fragen, ob es bei einer solchen materialistisch induzierten wechselseitigen „Nüchternheit“ des In-der-Welt-Seins im Umgang mit sich selbst und anderen bleiben kann. Es geht ja doch zugleich darum, Sinnorientierungen, Glücksbegehren und dem Anspruch von Menschen auf ein je individuell „gelingendes Leben“ wenn schon nicht einen Raum in der Realität, so doch wenigstens in den Bereichen der Imagination, des Wünschens und davon ausgehender, durch diese gestärkter Praxisbezüge zu eröffnen.12 Beides zusammengenommen, führt dann auf das Feld der Literatur, das im Falle Felders gleichermaßen als ein Medium der Verlebendigung von Wünschen wie der Schilderung von Wirklichkeitserfahrungen genutzt und entsprechend ausgeformt wird.13

      1.

      Landreform und utopische Orientierung im Medium der Literatur

      Literarische Texte, eben auch die von Glückshoffnungen und Glückserfüllungen, nicht zuletzt von deren Scheitern, handelnden Texte Felders, sprechen in diesem Zusammenhang eine mit den belleslèttres verbundene utopische Dimension – auch ihrer Form nach – an. Dies mag dabei sowohl die historische Stelle Felders im 19. Jahrhundert als auch die Möglichkeiten eines Anschlusses an seine Texte unter den Bedingungen weitergehender Moderne von heute aus ausmachen. Was die britische Soziologin Ruth Levitas in ihren Studien zum utopischen Denken als „education of desire“ angesprochen hat: „Utopia creates a space in which the reader is addressed not just cognitively, but experientially, and enjoined to consider and feel what it would be like not just to live differently, but to want differently – so that the taken-for-granted nature of the present is disrupted“14, findet sich im Sinne literarischer, imaginativer Wunscherfüllung in Felders Texten wieder – und zwar nicht als Kompensation für ein ansonsten nicht mögliches Tun und Wünschen, sondern als Impuls und Stärkung der mit den Wünschen in Erscheinung tretenden Handlungsoptionen im Blick auf die Entwicklung von Perspektiven zu ihrer Umsetzung.

      Von heute aus gesehen erscheinen diese Ansprüche und ihre literarische Umsetzung umso wichtiger, als die englische Übersetzung der angesprochenen Stelle des Kommunistischen Manifests ja bereits über das Historische einer untergehenden Ständegesellschaft hinausgeht und das Abschmelzen jeglicher Bestände und Sicherheiten als das Signum der Moderne ausmacht: „All that is solid melts into air“. Marshall Berman verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass unter den Bedingungen einer anhaltenden Moderne die Unverzichtbarkeit von Ansprüchen auf ein gelingendes Leben ebenso auf ungesicherten Grundlagen basiert, wie diese der konstruktiven, also eben auch ggf. fiktionalen und imaginären Ausformung und Vermittlung bedürfen, um überhaupt zu Realitätspartikeln zu werden.15 Die oben für die Mitte des 19. Jahrhunderts skizzierte Engführung von Literatur und Gesellschaft kann dann zudem als ein Einsatzpunkt angenommen werden, um auch in literarischen Texten ein handfest politisches bzw. sozialökonomisches Thema wie die Forderungen nach Wirtschafts- und Sozialreformen auf dem Land nach beiden Seiten hin zu erkunden und in einen sowohl historischen als auch lebenspraktischen Zusammenhang zu stellen: zur Seite der Sozialreform, in deren Perspektive literarische Texte wie schon Georg Büchners Hessischer Landbote (1834) als Medien gesellschaftlicher Aufklärung und Besserstellung der Landbevölkerung intendiert und zu betrachten sind, und zur Seite der Literatur hin, in deren Kontext ländliche Erfahrungen und Lebenszusammenhänge als Sujet ästhetischer Gestaltung und als Mittel einer narrativen Herstellung von Kohärenz in Erscheinung treten.16 Dass und wie Franz Michael Felders Texte dies leisten, wird im Weiteren vorzustellen und zu diskutieren sein.

      2.

      Realistische Literatur und Reformansätze

      in bürgerlicher Gesellschaft

      In seinen Studien zum literarischen Realismus, die sich vielfach auf Erich Auerbachs noch immer lesenswerte Untersuchung Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Literatur (1948) beziehen, spricht Joseph Peter Stern vom „goldenen Überfluß der Welt“17, um damit zum einen auf die Detailfülle und Detailbezogenheit der im literarischen Text entworfenen Wirklichkeitsbezüge hinzuweisen. Zum anderen nutzt er diese Metapher aber auch, um auf die durch die ästhetische Geformtheit jeder literarischen Darstellung ebenso wie durch die narrative Verkettung der Geschehnisse und Akteure ermöglichte Überdeterminierung bzw. eben auch Überzuckerung des Wirklichen, durchaus auch im Sinne einer möglichen ideologischen Überformung desselben, aufmerksam zu machen. Nicht zuletzt geht es auch darum, die durch eine krude Abschilderung der gegebenen Welt ggf. auch entstehende Sinnentleertheit, auch Langeweile, Repetierbarkeit und Glanzlosigkeit des Wirklichen in den Spiegeln literarischer Texte in den Blick zu rücken: „Realismus in der Literatur bedeutet in erster Linie die Art, eine Situation in ‚wirklichkeitsgetreuer‘, ‚präziser‘, lebenswahrer Weise darzustellen und zu beschreiben; oder in reicher, üppiger und farbenprächtiger Vielfalt; oder auch auf photographische, schablonenhafte Weise.“18

      Erwächst der Literatur des literarischen Realismus aus dieser Ausrichtung auf eine gleichsam in der Erfahrung vorgegebene, vermeintlich einfache, also auch oberflächlich nur wahrnehmbare Wirklichkeit aus avantgardistischer Sicht der Vorwurf einer schalen Reproduktion des lediglich Vorhandenen, die auf das Wagnis avancierter Formen als Mittel weitergehender Darstellung und Erkenntnis verzichtet, so steht realistische Literatur doch zugleich unter dem Vorbehalt einer herkömmlich idealistischen Ästhetik,


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