Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021. Jürgen Thaler

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unzureichend – angesprochen werden, vor allem die Selbsttätigkeit und auch Selbstertüchtigungsmöglichkeiten des Individuums in den Vordergrund stellt. Karl Wagner hat in seinem instruktiven Aufsatz Vom Schreiben auf dem Lande. Felders und Roseggers Anfänge auf die Gefahren hingewiesen, denen ein länger lebender Land- und Sozialreformer Felder im weiteren Fortgang des 19. Jahrhunderts vielleicht ausgesetzt gewesen wäre: „Felders früher, tragischer Tod hat ihn auch davor bewahrt, in einer der ideologischen Fallen zu landen, die das 19. Jahrhundert nicht nur für seinesgleichen parat hatte.“61 Wäre er bei dem in den literarischen Texten in Szene gesetzten sinnlichen Materialismus und Individualismus, der Leibgebundenheit von Erfahrungen und Glücksstrebungen geblieben, die seine Figuren in ihren Ambivalenzen, auch unglücklichen Konstellationen ausmachen, so wäre die Umwendung bzw. Umdeutung seiner Konzepte in nationale, nationalistische oder sonstwie integralistische Strebungen und Programme, wie sie dann vom 19. Jahrhundert bis in 20. Jahrhundert weiter ihre Schatten geworfen haben, vielleicht schwerer gefallen als bei anderen – zumindest lässt sich an diese Stelle von heute aus eher an die kommunalistischen, kommunitären Impulse in Felders Denken anknüpfen.

      5.2

      „Wendung aufs Subjekt“ – Felders sozialer Individualismus

      Neben Felders Beiträgen zur Publizistik, zur Aufklärung über die Möglichkeiten und Ziele politischer und sozialer Partizipation der Landbevölkerung und über seine Stimme im literarischen Feld der Dorfliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus sehe ich die Bedeutung seines literarischen Schaffens, um die These, unter der ich im Folgenden die beiden bereits genannten Texte etwas genauer vorstellen möchte, vorweg zu nehmen, in dem, was sich mit einer Formulierung Theodor W. Adornos als „Wendung aufs Subjekt“62 bezeichnen lässt. Dies gilt zum einen für die Glücks- und Liebesgeschichte des jungen aus der Fremde der Stadt Bregenz ins heimatliche Schoppernau zurückkehrenden Lehrers Franzsepp, wie sie mit uneindeutig schwankenden Charakteren in ungesicherten, ebenfalls ambivalenten Verhältnissen in der Novelle Liebeszeichen von 1867 entwickelt wird. Dies gilt zum anderen für die schnell wechselnden Naturgegebenheiten und Wetterverhältnissen, aber auch noch sonstigen Gefahren ausgesetzte Reisegruppe des Ausflugs auf den Tannberg (1867), zu deren „zufällig“ letztlich erfolgreicher Heimkehr Ortskenntnisse, Vorsicht und Solidarität ebenso beitragen wie Gottvertrauen und diverse andere Kraftquellen, nicht zuletzt magisches Denken und unerwartete Begebenheiten, insbesondere aber auch die Hilfsbereitschaft und Fürsorge der Nachbarn und weiterer Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner, schließlich ein ebenso aufmerksam beobachtender wie um Kontingenz und Mehrdeutigkeit bedenklich wissender, zugleich mitwandernder Erzähler. Sicherlich geht es in diesen beiden Texten zunächst um die Schilderung der schweren und bedrückenden Lebensverhältnisse in den Umständen der durch die Natur, aber auch durch Kirche und Herrschaft hart bedrängten Bauern und anderer Bewohnerinnen und Bewohner der Vorarlberger Täler und Höhen. Es geht aber auch darum, deren Hoffnungen, Handlungskompetenzen und Erfahrungen zu beschreiben, vorhandene Fähigkeiten und Wünsche so zur Erscheinung zu bringen, dass sie als Ansatzpunkte zur Stärkung der Subjekte von innen gesehen und verstanden werden können. An zentraler Stelle heißt es dazu aus der Innenperspektive des Lehrers: „‚Meine Kraft ist nicht, um sie von Zweifeln verzehren zu lassen. Heute noch soll es sich entscheiden, wozu ich sie zu brauchen habe‘“.63

      Anders aber als andere Landreformer erzählt Felder nicht von außen und nicht programmatisch, sondern fallbezogen und im Wissen um die Mehrdeutigkeit und die schwankenden Charaktereigenschaften seiner Protagonisten, deren Ungesichertheit die wechselvollen Umstände in Natur und Gesellschaft entsprechen und deren angestrebte Ziele sich nur in einer Mischung aus Erfahrung, Zufall und Kooperation in Reichweite bringen lassen. Schon die Eröffnungsszene, die den aus der Ausbildung heimkehrenden zukünftigen Lehrer an einer Brücke zeigt, von der aus er Papierblätter ins Wasser wirft und über deren weiteren Verbleib spekuliert, macht darauf aufmerksam, dass Geschichten, Handlungen und Geschicke keineswegs handhabbar zur Verfügung stehen oder gar einem Schicksal oder einer eindeutig identifizierbaren historischen Bestimmung unterliegen. Vielmehr ist es die „Veränderlichkeit“64, die sicherlich belastet, zugleich aber den Einsatz für etwas Bestimmtes, zumal für Neuerungen65 lohnend erscheinen lässt. In dieser Hinsicht ist der Lehrer von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten schulreformerischer Impulse überzeugt, die dann auch auf gute Resonanz stoßen: „Erst jetzt erzählten die Kinder begeistert, wie ordentlich ihnen im letzten Winter alles gezeigt und erklärt worden sei, wie der […] Lehrer sich immer bemühte, auch Schwieriges leicht und fasslich zu machen.“66 Zugleich bleiben aber die Ambivalenz der Verhältnisse, auch der eigenen Charakterzüge und Wahrnehmungen67 ebenso bestehen wie die Macht der alten Verhältnisse68, Schicksalsglaube69 und nicht zuletzt die Unwägbarkeiten der Umstände allen guten Vorsätzen gegenüber gegenläufige Macht ausüben können.

      Wenn Dichtungen, wie dies Sigmund Freud in seinen Überlegungen zur Fantasie der Dichter darstellt, niedergeschriebene Tagträume sind,70 Literatur imaginäre Wunscherfüllung bietet und die Kraft literarischer Imagination deshalb an einer Realität, wie sie ist, ansetzen muss bzw. kann, wenn sie, wie dies Northrop Frye beschreibt, den Entwurf einer besseren Wirklichkeit und Gesellschaft vorstellen und möglich werden lassen will,71 so stellt die Erzählung um den jungen Lehrer, der mit neuen Ideen ins Dorf kommt, zunächst an falscher Stelle einen Liebesbeweis zu ergattern sucht, was ihn erst einmal zu einem Ausgestoßenen werden lässt, der dann aber durch glückliche Umstände und dank der Klugheit und Tatkraft einer anderen jungen Frau doch noch Liebe, Anerkennung und Ansatzpunkte auch für die Reform der Schule und damit des dörflichen Zusammenlebens gewinnen kann, eine Modellgeschichte dar, die das Wünschen zu forcieren und die Tatkraft der selbstverantwortlich Handelnden zu stärken sucht. Eingelagert ist diese Erzählung von einer eigenständigen Suche nach dem Glück („the pursuit of happiness“) allerdings in durchaus schwierige Situationen. Armut und Gewalt, nicht ohne Grund wird der abzulösende Lehrer Christian im Dorf als „Klopfer“ bezeichnet,72 aber auch die Unbilden der Natur, die Macht der Kirche und die für die Bauern nahezu schicksalsgleich in Erscheinung tretenden Ansprüche der politischen Macht, hier gezeigt an einer Lotterie, die die Rekrutierung der Armen zum Militärdienst bestimmt,73 werden als Rahmenbedingungen für ein auf die Veränderung bzw. Besserung der Verhältnisse eintretendes Handeln drastisch und mächtig gezeigt. Ihnen entgegen zu treten erfordert neben Mut eben auch Glück, das – so wird es in der Erzählung vorgestellt – durchaus wiederum auf Entschließung und Tatkraft angewiesen ist, die zumal hier von einer jungen Frau ausgeht. War zunächst der Kuss als „Liebeszeichen“ intendiert (und missverstanden worden), so ist es nun ein Kleeblatt, das als Glücksbringer in der Lotterie hilft, vor allem aber auch die Zuneigung und damit die Tatkraft einer unterstützenden Liebe für individuelles Handeln und eine ggf. emanzipatorische Praxis in den Vordergrund stellt. Freilich lässt die Geschichte offen, was des Weiteren daraus unter den genannten Bedingungen zu werden vermag.

      Das unverfügbaren Mächten, zumal der Natur, dem Wetter, aber auch der sozialen Lage und nicht zuletzt der eigenen menschlichen Natur Ausgesetztsein bildet dann auch den Rahmen für die Schilderung des „Ausflugs“ einer Gruppe von Bauern im Winter zur Hochzeitsfeier auf dem Tannberg. Ängste sind für diesen Ausflug, der sowohl der Neugier als auch den dörflich-verwandtschaftlichen Verpflichtungen geschuldet ist, ebenso zu überwinden wie eisige Schneeflächen. Es drohen Abstürze und Lawinengefahr, ebenso aber auch ggf. böse Geister und eigene Unpässlichkeiten, so dass das Unternehmen, ebenso wie seine Erzählung, letztlich vor allem dadurch gelingt, dass Entschlossenheit und Vorsicht gleichermaßen den Ton angeben, zu deren Unterstützung dann auch noch Gebete, magische Praktiken, solidarische Hilfe, Gewohnheiten und nicht zuletzt Zufälle herangezogen werden müssen. Letztlich ist es dieses Durcheinander der Sinnreservoire und Orientierungen, auch der Erfahrungen und Vorstellungen, nicht zuletzt der Wahrnehmungen und Intentionen, das sowohl den Charakter der Reise und des Hochzeitsfestes, in dessen Zentrum eine Art Teufelstanz nahezu alle Besucherinnen und Besucher, zumal die Braut in ihren Bann zieht, als auch den Reiz der vorliegenden Erzählung ausmacht. Dabei wird die Erzählung von einem teilnehmenden, ebenfalls in unterschiedlichen Stimmungen, Beobachtungen und Vorstellungen befangenen Erzähler getragen, dessen Schwankungen und Reflexionen zusätzlich die Unruhe der Reise und des Tuns hervorheben:


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