Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021. Jürgen Thaler

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der Lesenden einen Wiederhall finden können. Dass sich Felders Schreiben dabei gerade nicht nur an ein ggf. städtisches Publikum wendet, das – sei es zur Unterhaltung oder auch Befremdung – angesprochen werden kann, sondern als Stimme und Sprachrohr der Landbewohnerinnen und Landbewohner für diese zu sprechen sucht und sich überdies auch an sie selbst wendet, unterscheidet den Bauerndichter Felder von anderen, die sich lediglich die Kostüme oder die Folklore des Ländlichen zugunsten eines unspezifischen Marktsegments zu eigen machen, und rückt ihn an die Seite bspw. Berthold Auerbachs (1812 – 1882) oder des von diesem verehrten Johann Peter Hebel (1760 – 1826).

      Wenn Jean Paul in seiner autobiografisch ausgerichteten Selberlebensbeschreibung (1826) fordert: „Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen“43, so geht es ihm zunächst um die mit der Reduktion der Vielfalt in dörflich-kleinstädtischen Verhältnissen verbundene Konzentration auf die ästhetischen und emotionalen Valeurs der unter diesen Bedingungen wahrzunehmenden Dinge und Personen in Natur und Gesellschaft, dann aber auch darum, das Dorf als Standort der Selbst- und Fremdbeobachtung zu bestimmen. Nicht zuletzt können Dörfer und ländliche Räume auf diese Weise nicht nur als Gegenwelten zu städtischen (und im 18. Jahrhundert noch virulent „höfischen“) Verhältnissen in Erscheinung treten, sondern zugleich als Arenen und Aushandlungsorte der Modernisierung selbst erkundet und vorgestellt werden. In dieser Perspektive erscheinen dann Reformen auf dem Land nicht lediglich als nachholende Entwicklung oder Abfallprodukte in einem über sie hinweg gehenden Modernisierungsprozess, sondern zugleich als Probestücke und Laboratorien, ja auch als andere Wege im Entwicklungsgang und in der Ausgestaltung moderner Gesellschaften selbst.44

      5.1

      Soziale und individuelle Komponenten ländlicher Sozialreformen

      Bereits in Jean Pauls Sicht erscheint das Lokale, vielfach ansonsten als Gegenstück zur Globalität gesetzt und entsprechend missachtet oder verteidigt, zugleich als ein Erfahrungsraum und Bewährungsfeld des Globalen selbst, und zwar in ästhetischer und ethischer ebenso wie in handwerklich-praktischer und lebenspraktischer Hinsicht: „und dieses herrliche Teilnehmen an jedem, der ein Mensch, welches daher sogar auf den Fremden und den Bettler überzieht, brütet eine verdichtete Menschenliebe aus und die rechte Schlagkraft des Herzens.“45 Dies lässt sich auch bei Felder wiederfinden, dass der hier angesprochene Zugang zur Lebenserfahrung und Lebensgestaltung der Bewohnerinnen und Bewohner des Ländlichen, zumal auch zur Lebenswelt und zu den Handlungsmöglichkeiten der dort lebenden Unterschichten und Randfiguren, durchaus auch eine soziale und sogar politische Seite hat, die sich mit Stichworten wie Subjektivität, Anerkennung, Empathie und Stimme („voice“)46 ansprechen lässt und die sich bei Jean Paul ebenso findet wie in den heterodiegetischen und autodiegetischen Erzählern und zusammengetragenen Geschichten und Beobachtungen Felders.

      Angesichts einer damit angesprochenen (im Einzelfall durchaus unausgewogenen) Balancierung in der Gegenüberstellung von Land und Stadt, von Lokalität und globaler Welt, Moderne und Erfahrungsformen traditionell bäuerlich-ländlicher Gesellschaften kommt den bei Felder bspw. anzusprechenden Vorschlägen zur Sozialreform in ländlichen Zusammenhängen aber nicht nur in rein planerischer, politischer oder Institutionen bezogener Hinsicht Bedeutung zu. Sicherlich stehen in Hinsicht der letzteren die unverzichtbaren, „realistischen“ Forderungen, wie sie in den Gesprächen des Lehrers Magerhuber (1866) erörtert werden, im Vordergrund, also die Notwendigkeit bürgerlicher Rechte für alle47, das Recht und die Möglichkeiten einer allen zugänglichen, dann auch weiterführenden Bildung48, Marktfreiheiten und Solidarität49 sowie allgemeines und gleiches Wahlrecht50. Nicht zuletzt geht es um genossenschaftlich organisierte Besitzverteilung51 und Produktion sowie um eine darauf gegründete Wohlfahrt für alle52. Als zentraler Bezugspunkt jedweder Landreform erscheint aber (und vor allem), „daß das Individuum vielmehr gelten müsse rein als solches und daß ihm nichts anderes als die ungehinderte Selbstbetätigung seiner Kräfte als der eines Einzelnen zu garantieren sei.“53 Wenn es dabei, wie auf den diesem Zitat folgenden Seiten, darum geht, „die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit der Entwicklung“54 auf den Weg zu bringen bzw. zu fördern, so zielen die hier in diesen im dialogischen Muster der an Sokrates geschulten Aufklärungsdialoge eines Lessing, Wieland oder Diderot gehaltenen Gespräche aber vor allem auf die Stärkung und Etablierung eines Individuums, das in seiner Unhintergehbarkeit ebenso wie in seiner Besonderheit, Endlichkeit und Unergründlichkeit als Bezugspunkt und Träger jedweder Reform der Lebensverhältnisse auf dem Lande auch in den Erzählungen und Romanen Felders in den Fokus gerückt wird. In den dort geschilderten Charakteren und Begebenheiten erscheinen diese plastisch, auch widersprüchlich und schwankend, aber so gefasst, dass sie als Handelnde und Beobachter einer lebensweltlich bezogenen Praxis vor Augen gestellt und in ihren – teils durch die Erzähler, teils durch die Figuren selbst vertretenen – Reflexionen als Impulsgeber für ein als „teilnehmend“ modelliertes und im Sinne einer bürgergesellschaftlichen Kommunikation anzusprechendes Publikum ausgearbeitet werden. Der kolloquiale Stil, der aus den Briefen bekannt ist,55 wird in den Erzählungen auch dazu genutzt, einen Gesprächskreis und Reflexionszirkel der Lesenden zu konstituieren, der von den Möglichkeiten handelt, Subjektivität und Individualität in Richtung Selbstbestimmung und Sozialität sowohl zu entfalten als sich deren auch wechselseitig zu versichern, nicht zuletzt in der von Felder – vielleicht inszeniert, vielleicht notgedrungen, vielleicht tatsächlich selbstbewusst und künstlerisch – ausgearbeiteten, gerade in ihren Schwankungen zwischen Idiolekten, Dialekten, Soziolekten und konventionell bis artifiziell aufgebotenen poetischen Sprache, in der die Erzählungen gestaltet sind.

      Waren ältere Entwürfe eines „gebildeten Landmanns“, wie sie in der Hausväter-Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts vor Augen gestellt werden,56 deutlich ständisch beschränkt und orientierten sich an einem für den Dienstadel und die avancierten bürgerlichen Schichten des 17. Jahrhunderts offensichtlich attraktiven Neo-Aristotelismus ebenso wie an der von Eliten getragenen Landlebensliteratur der römischen Republik, so fand die Vorstellung einer „Hebung“, also Verbesserung des Landlebens durch Bildung im Rahmen einer von Gerhard Sauder so beschriebenen „verhältnismäßigen Aufklärung“57 zum Ende des 18. Jahrhunderts eine breitere Resonanz, die sich nun auch über die Träger einer durch Schriftlichkeit und Literatur getragenen Volksbildung tatsächlich den Bauern, sicherlich erst einmal nur denjenigen, die über Hof und Grundbesitz verfügten, zuwandte. Neben Lehrern und Pfarrern sowie adligen, religiös ausgerichteten Grundherren von der Art der Zinzendorffs und einigen frühen volkskundlich ausgerichteten Ethnographen58 treten dabei vor allem einzelne Menschen und ihre Charaktere bzw. Schicksale in Erscheinung, die vor dem Hintergrund z. B. gescheiterter theologischer Studien als reisende Beobachter oder experimentierende Pädagogen das Land und seine Bewohnerinnen und Bewohner erkunden und zur Sprache bringen. In verschiedenen Regionen sind es nach 1815 dann auch landesherrschaftliche Behörden und deren einzelne Vertreter, die Schulbildung, Infrastruktur, öffentliche Wohlfahrt und in dieser Hinsicht dann auch Agrar- und andere Landreformen auf den Weg bringen (z. B. in Rheinhessen und der Kurpfalz; in Preußen und Baden).59

      Für die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert, und so auch für Felders Denken und Parteinahme, dürften dazu auch die gesellschaftsreformatorischen Impulse etwa der französischen Frühsozialisten im Zeitbewusstsein gelegen haben; bspw. Charles Fouriers Konzeption von Mustergütern, in denen sowohl der landwirtschaftlichen Produktion als auch der Emanzipation sinnlicher Erfahrungen Aufmerksamkeit geschenkt wird, wobei der letzte Punkt auffälliger Weise eben auch in Felders Freude am Küssen in den Liebeszeichen wiederzufinden ist. Auch in anderen Entwürfen „neuer“, auf Egalität und Wohlfahrt, aber auch auf individuelle Selbstertüchtigung ausgerichtete Modelle, wie sie bspw. von Robert Owen (1771 – 1858) ausgehend in verschiedenen Kolonien der „Neuen Welt“ als Genossenschaften eingerichtet wurden,60 finden sich Vorlagen für die Vorstellungen Felders. Felders besonderer Zugang besteht freilich darin, dass er anders als der mit seinen Anhängern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts außerordentlich einflussreiche Henri de Saint-Simon, auf dessen Impulse immerhin der Aufstieg der modernen Sozialwissenschaften in einem Zweig zurückgeführt werden


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