Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021. Jürgen Thaler

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einzelner Werke in spezifischen Situationen nicht nur als Impuls für weiteres Handeln (bspw. im Sinne eines Klassenstandpunkts oder – individuell bezogen – Empowerments)34 bestimmen lässt, sondern auch deren soziale Gestaltungsmöglichkeiten und historischen Grenzen vor Augen stellt: „Das Herz der Modernen“, so Merleau-Ponty, „ist […] ein intermittierendes Herz und vermag nicht einmal, sich selbst zu erkennen. Jedoch sind nicht allein die Werke der Modernen unabgeschlossen, sondern die Welt selbst, die in diesen Werken ausgedrückt ist, gleicht einem unabgeschlossenen Werk, von dem man nicht weiß, ob es jemals einen Abschluss finden wird. Sobald es sich nicht mehr nur um die Natur, sondern um den Menschen handelt, verdoppelt sich die Unabgeschlossenheit der Erkenntnis, die durch die Komplexität der Dinge bedingt ist, durch eine grundlegende Unabgeschlossenheit.“35

      Felders Texte, von denen angesichts der Begrenzung von Raum und Zeit hier nur zwei etwas genauer angesprochen werden können: Liebeszeichen (1867) und Ein Ausflug auf den Tannberg (ebenfalls 1867 gedruckt) bieten in ihrer Konkretion ziemlich genau das, was hier im Rückgriff auf Merleau-Ponty als Möglichkeit und Leistung der belles-lèttres unter den Bedingungen der Moderne zur Verlebendigung ländlicher Lebenserfahrungen und Lebensverhältnisse erwartet und vermittelt werden kann: Sie handeln von den Lebensbedingungen ländlicher Gesellschaften im Konkreten, von der Besonderheit der angesprochenen Individuen, ohne sie in ihrer Komplexität und damit auch Uneindeutigkeit zu reduzieren. Das freilich beansprucht zugleich eine Leserin, einen Leser, der bereit (befähigt) ist, die damit angesprochenen Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten nicht nur anzunehmen, sondern sie auch im Sinne des oben mit Tenbruck angesprochenen gesellschaftlichen Bedarfs an kultureller Reflexion mit den eigenen Lebenserfahrungen und Wirklichkeitskonzepten in Verbindung zu bringen. Für das hier in Rede stehende Handlungs- und Arbeitsfeld der Landreform hat diese Aufladung mit Komplexität, wie sie ästhetischen Gebilden eigen ist, freilich auch Konsequenzen, die noch einmal über sozialgeschichtliche (oder politische) Aspekte eines in diesem Sinne engagierten Schreibens hinaus die Eigenart der Texte Felders auch hinsichtlich ihrer ästhetischen Gestalt und ihres historischen (auch aktuellen) Stellenwerts in den Blick rücken. Ob damit die Waage, wenn sie in Richtung ästhetischer Valenz ausschlägt, dies zugleich auf Kosten politischer Relevanz/Eindeutigkeit machen muss, oder ob diese gerade als Wert die politische Bedeutung vielleicht auch erhöhen kann (ggf. auf Kosten einer vermeintlich zu erwartenden Eindeutigkeit, die selbst im Politischen schadet), wäre im Blick auf die einzelnen Texte – und sicherlich kontrovers – weiter zu diskutieren.

      4.

      Landreform und Literatur unter Bedingungen der Moderne

      Dafür, dass es möglich ist, Gesellschaft als einen umfassenden und zugleich in seiner Totalität auch fassbaren Zusammenhang zu erkennen, ja zu erfahren – und erst recht, wenn es dann darum gehen soll, diese im Ganzen als Handlungsfeld zu gestalten, zu bearbeiten und ggf. zu „verbessern“, wie dies hier unter dem Aspekt der Landreform angesprochen wird –, braucht es natürlich auch eine Schulung der Wahrnehmung, eine auf die Ermöglichung von Kommunikation hin angelegte Form der Beobachtung und Darstellung, also auch die Zusammenstellung von Gegebenheiten zu einer mehr oder weniger kohärenten Geschichte, zudem mit Verweisen auf entsprechende Kontexte. Nicht zuletzt geht es dabei um die Vorstellung, Sichtbarmachung und Plausibilisierung von Individuen und Gruppen in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie sich in der Literatur der Moderne im Anschluss an das 18. Jahrhundert finden und sich so in den Romanen Stendhals, Austens, Trollopes, Gottfried Kellers oder auch Balzacs, später bei Virginia Woolf oder auch William Faulkner und John Cheever, wiederfinden (und lesen) lassen.

      Dass dabei der Weg zur Moderne zumal auch in soziologischen und modernetheoretischen Perspektiven an der Entwicklung der Stadt und im Blick auf die aufkommende, sich dann durchsetzende Industriegesellschaft beobachtet und diskutiert wurde, stellte in diesem Rahmen freilich erst einmal nur eine Option dar, an der gemessen die Rolle, der Reichtum und die Aussagekraft von Erfahrungen des Ländlichen allenfalls als Residualkategorie oder als zurückliegender Ausgangspunkt einer Reise, die ins unumkehrbar Moderne führen sollte, angesehen wurde.36 Freilich trifft diese Gegenüberstellung in Wahrheit noch nicht einmal auf die angesprochenen Romane einer klassischen „realistischen“ Literatur selbst zu, in denen gerade doch auch ländlichen Räumen und den Erfahrungen ihrer Bewohner, man denke etwa an Stendhals Le Rouge et le Noir (1830), gerade im Blick auf die Gegenwart des 19. Jahrhunderts beträchtliche Aufmerksamkeit eingeräumt wird.37 Auch aktuell trägt eine solche einlinige Ausrichtung avancierter Literatur auf die Gegebenheiten einer städtisch geprägten Industriemoderne noch immer weder der Bevölkerungsverteilung noch den Erfahrungsschätzen von Menschen unter den Bedingungen fortschreitender gesellschaftlicher und industrieller Modernisierung Rechnung. Vielmehr, so ließe sich im Rückblick auch auf die Dorf- und Landlebensliteratur des 19. Jahrhunderts, innerhalb deren die Konjunktur und Bauformen der Dorfgeschichten einen prominenten, gerade aktuell auch wieder „entdeckten“ Platz einnehmen,38 sagen, stellen sowohl die ländlichen Räume selbst als auch ihre Schilderungen und Gestaltungsformen in der Literatur eine andere, eine weitere Diskursarena dar, wenn es darum geht, sowohl die Prozesse der Modernisierung ganzer Gesellschaften als auch deren Verarbeitung, Wahrnehmung und Ausgestaltung von Seiten beteiligter Individuen und Gruppen zu erkunden.39

      Gerade wenn zudem der Entwicklungsgang moderner Gesellschaften nicht als universell angelegter einliniger Prozess verstanden wird, in dessen Sog nahezu alle Verhältnisse sich bestenfalls in unterschiedlichen Zeitstufen, aber immerhin linear modernisieren, sondern etwa im Rahmen der von dem Soziologen Peter Wagner vorgelegten Moderne-Theorie von Phasen, Etappen und Schüben restringierter, fragmentierter und auch von unterschiedlichen Entwicklungsgängen überlagerter und in sich widersprüchlicher Modernisierung gesprochen werden kann,40 erscheinen ländliche Gesellschaften und Lebensverhältnisse auch nicht mehr lediglich als Residuen vormoderner Prägung, die sich in Auflösung oder im Gange des Verschwindens befinden. Vielmehr stellen sie sich – wie andere Lebensräume auch – als Erfahrungs- und Handlungsräume, zumal aber auch als Symbolvorräte und Kommunikationsangebote dar, in denen unterschiedliche Orientierungen, Erfahrungsschätze, Sinnreservoire und nicht zuletzt deren Verobjektivierungen, auch Verfestigungen und ggf. Verzerrungen zu Traditionen, Institutionen und kulturellen Artefakten anzutreffen sind und die als jeweilige Medien der Aushandlung von Interessen, Konflikten und Optionen zur Verfügung stehen bzw. diese auch entsprechend begrenzen.41

      Selbst dort, wo Ländlich-Dörfliches vor allem als Gegenwelt und zu transformierendes „Andere“ der Moderne gezeigt, ja funktionalisiert wird, bieten Ländlichkeit und Dörflichkeit über die noch bestehenden Verhältnisse hinaus schon von ihrer Bildkraft her zugleich auch einen Imaginations-, Orientierungs- und Erfahrungsschatz dar,42 der nicht nur zur ästhetischen Validierung der in den Texten entworfenen Geschichten, Räume und Charaktere dienen kann, sondern darüber hinaus auch an Erfahrungen, Verhaltensmuster und Erwartungen im Lesepublikum anzuknüpfen vermag, die sich in der eigenen Biografie oder in der intergenerationellen Familiengeschichte noch immer mit den Erfahrungen und Vorstellungen des Ländlich-Bäuerlichen verbinden und durch sie validieren lassen.

      5.

      Felders Ansatzpunkte zur Sozialreform auf dem Lande

      Jenseits von Folklore und Exotik oder auch regressiver Reaktion bieten bspw. die Dorfgeschichten Berthold Auerbachs und so auch die Romane und Erzählungen Franz Michael Felders vor allem Erfahrungsschätze und Verhandlungsstoffe an, anhand deren und in deren Ausarbeitung sich nicht nur eine einseitig sichtbare Durchsetzung der Moderne – mit entsprechenden Verzögerungen im ländlichen Raum und unter Vernachlässigung bzw. Diskriminierung der dort lebenden unterbürgerlichen Schichten – fassen lässt. Vielmehr umfassen und bringen diese Texte und die in sie eingebundenen Referenzen auf die Erfahrung ländlicher Räume und bäuerlicher Gesellschaftsformen, gerade in dem sie die Erfahrungen ländlicher Gesellschaften in das oben angesprochene Kommunikationsmodell einer bürgerlichen Vergesellschaftung und Kultur einbringen, ein für die Entwicklung der modernen Gesellschaften charakteristisches Wechselspiel und Verwebungsverhältnis der Erfahrungen, Formen und Vorstellungen herkömmlich ländlicher Gesellschaften mit Impulsen, Kategorien, Lebensformen und Ansprüchen der Moderne zustande, aus deren vielfältigen Verwicklungen sich dann nicht nur der Stoff der Geschichten, sondern


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