Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021. Jürgen Thaler

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kritische, auch sozialkritische Beiträge allzu schnell auf den lediglich affirmativen Charakter einer solchen an der Wiedergabe realer Verhältnisse und wirklichkeitsbezogenen Geschehens orientierten Literatur, was in den Debatten der 1920er Jahre den literarischen Biografismus ebenso trifft wie die Reportage-Literatur, im Rückblick auf das 19. Jahrhundert aber auch eine vermeintlich historisch perspektivlose, lediglich auf die Vermittlung von Genrebildern hin angelegte Dorfliteratur.20

      Tatsächlich aber, so hat dies Friedrich H. Tenbruck in seiner Studie zur „bürgerlichen Kultur“ ausgearbeitet,21 stellen kulturelle Träger, literarische Texte als Medien der Begleitung und Reflexion gesellschaftlicher Prozesse sowohl als Orientierungsgrößen und Spiegel als auch als Projektionsräume und Impulsgeber individueller und gruppenspezifischer Reformansätze und eines entsprechenden Selbstverständnisses ein bestimmtes Instrumentarium und Wirkungs-, auch Handlungsfeld in den Zusammenhängen einer sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbildenden, im 19. Jahrhundert dann dominierenden bürgerlichen Kultur dar. Kultur, und so auch Literatur, dient seitdem nicht mehr vor allem der Repräsentation einer mehr oder weniger festgefügten Ordnung, sondern begleitet die ins Rutschen bzw. Schwimmen geratenen gesellschaftlichen Sphären im Sinne einer selbst beweglichen, stets und immer wieder Neues und Veränderungen herstellenden Produktions- und Reflexionssphäre, wobei auch sie selbst – im Blick auf das hier in Rede stehende Thema des Lebens und der Veränderungsmöglichkeiten in ländlichen Räumen wichtig – ebenso wie die „Bürgerliche Gesellschaft“ im Ganzen tendenziell auch auf die Unabschließbarkeit weitergehender Mobilität hin angelegt ist.22 Dies betrifft die Erweiterungsfähigkeiten des Handelns einzelner Akteure ebenso wie die Möglichkeiten zur Emanzipation sozialer Gruppen und nicht zuletzt sowohl die Ansprüche als auch die Prozesse weitergehender Integration der bis dahin aus der gesellschaftlichen Kommunikation (und Teilhabe) ausgeschlossenen sozialen Gruppen, seien dies nun Frauen, die Arbeiterklasse oder eben auch die Landbevölkerungen.

      Literalität (cultural literacy), die Befähigung zur Teilhabe an Leseund anderen Kommunikationsmöglichkeiten, bietet dazu ebenso die Voraussetzung und den Rahmen für eine kulturelle, dann eben auch soziale Integration unterschiedlicher Einzelner und Gruppen in die Gesellschaft im Ganzen wie die Ermöglichung von Schreiben und anderen Praxisformen kultureller Produktion nicht nur die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen, zumal derjenigen, die aus bislang vernachlässigten Unterschichten oder Randgruppen kommen, stärken, sondern auch zugleich deren (und ggf. aller) Wirklichkeitsverhältnis und -zugänge zu erweitern vermag: „Mit dieser Verselbständigung der Kultur“, so Tenbruck, „gewann die erlebte und bekannte Wirklichkeit für die einzelnen an Breite und Tiefe, an Gehalt und Bedeutung. Im Spiegel der literarischen, künstlerischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Behandlung und Durchdringung der bislang subjektiv als unmittelbar erlebten und deshalb kaum differenzierten Erfahrung reicherte sich nun die Selbsterfahrung durch die Sublimierung, Differenzierung und Reflektierung der Empfindungen, Gefühle, Affekte, Emotionen, Gedanken und Überzeugungen an, wie ähnlich die äußere Wirklichkeit sich durch kulturelle Informationen ständig ausdehnte und gliederte, räumlich, zeitlich und sachlich. Verselbständigung der Kultur heißt also, dass die innere und äußere Wirklichkeit unablässig durch kulturelle Arbeit weiter und neu gedeutet werden muß.“23

      Der hier angesprochene Ansatzpunkt eines mit der Konstitution bürgerlicher Gesellschaft verbundenen eigenständigen Feldes kultureller Produktion und Reflexion benennt damit zugleich die kulturellen, aber auch politischen und sozialen Funktionen literarischen Schreibens für ein Leben (und Wahrgenommenwerden) in den Integrationsformen bürgerlicher, in diesem Sinn moderner Gesellschaften. Gruppenspezifisch wie gattungsspezifisch ist dieser Ansatz so aufzunehmen, dass auch das Schreiben eines autodidaktischen Bauern wie Felder im Zusammenhang jener Aushandlungsorte (auch der Ketten) bürgerlicher Vergesellschaftung als kulturelle Produktion mit entsprechenden Intentionen und Resonanzerwartungen erkennbar wird. Der literarische Markt, aber auch Bildungseinrichtungen wie Schulen, publizistische Tätigkeiten und nicht zuletzt politische Aktionen stellen sich dabei sowohl als Handlungs- als auch als Aushandlungs- und Konfliktfelder, nicht zuletzt als Diskursarenen jener bürgerlichen Gesellschaft (im Sinne dessen, was aktuell als Zivilgesellschaft angesprochen wird) dar, deren Grundriss „bürgerlicher Öffentlichkeit“24 auch noch immer das Selbstverständnis liberaler Republiken und offener Gesellschaften so bestimmt, dass literarische Texte in irgendeinem Sinn „realistisch“ darauf Bezug zu nehmen vermögen.25

      Freilich handelt es sich auch bei einer auf die poetische Abschilderung bzw. auf einen fiktionalen Entwurf von „Wirklichkeit“ angelegten Literatur, wie sie als literarischer bzw. poetischer Realismus angesprochen werden kann, keineswegs nur um die Reduktion des weiten Feldes schönen Scheinens (und seiner Mittel) auf das eingegrenzte und spannungslose Feld bürgerlich-gesellschaftlicher Verhältnisse26 oder um die Reduktion komplexer und widerspruchsvoller Realitätsbeobachtungen auf ein „Furchenglück in der Beschränkung“, wie dies später u. a. auf Jean Paul gemünzt wurde.27 Vielmehr geht es auch hier um die Ausarbeitung eines eigenständigen Beobachtungs- und Gestaltungsansatzes von Menschen in den sie bestimmenden Situationen und längerfristigen Kontexten bürgerlicher Gesellschaft und darauf bezogener emanzipatorischer Prozesse. Dass diese Bezüge auf gesellschaftliche Wirklichkeiten im Übrigen jeweils neben ihrer objektiven Seite auch unterschiedliche und divergierende subjektive Seiten und damit sowohl diverse Wirklichkeitsaspekte als auch divergierende Lebenslagen ansprechen und ausbilden, hat u. a. Jean Paul selbst bereits in seinen Überlegungen zu der von ihm so bezeichneten „deutschen Schule“ des Romans herausgestellt: „Nichts ist schwerer mit dünnem, romantischen Äther zu heben und zu halten als die schweren Honoratiores.“28 Zwischen Idealisierung und Komik sei mit der Zuwendung zur Realität für den Dichter die Aufgabe verbunden, „daß er doch die bürgerliche Alltäglichkeit mit dem Abendrote des romantischen Himmels überziehe und blühend färbe.“29

      Damit ist freilich nicht, zumindest nicht vor allem, der Kitsch bzw. die politisch und historisch reaktionäre Färbung oder Überzeichnung einer ansonsten nicht auszuhaltenden und auch ästhetisch nicht zu vermittelnden Wirklichkeit gemeint, wie sie sich in der ebenfalls an die Romantik anschließenden und bis heute, folgen wir Eva Illouz’ Studien zur Aktualität und zum Gebrauchswert romantischer Liebe30, auch noch marktfähigen Unterhaltungsliteratur wiederfinden lassen. Vielmehr widmet Jean Pauls poetisches Programm einer „romantischen“, in seinem Sinn „modernen“ Poesie der Entzweiung/ Entfremdung des Menschen und der Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne ebenso sehr Aufmerksamkeit wie es dem damit einhergehenden Transzendenz- und damit Sinnverlust Rechnung zu tragen sucht. Im Sinne eines Empowerments finden wir diesen Impuls aber bspw. auch in Felders Novelle Liebeszeichen (1867) gestaltet: Durch situationsbezogenes, zugleich entschlossenes, durchaus in seinen Reichweiten begrenztes Handeln und immer nur auf Zeit und Kontexte hin angelegt, sollen sich offensichtlich auch unter den Bedingungen moderner, „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) noch Sinn-Defizite im Medium der Literatur und des Erzählens/Schilderns/Berichtens kompensieren bzw. bearbeiten lassen.

      3.

      Felders Dorfgeschichten

      Insoweit ist es gerade die räumlich-zeitlich und zugleich von Personal und Horizonten her beschränkte Form der Dorfgeschichte31 – und dies lässt sich dann auch auf das Verhältnis von Landreform und Literatur übertragen –, die einer unter den Bedingungen der Moderne ebenso fragmentierten wie pluralisierten Wahrnehmung der Wirklichkeit des Lebens „auf dem Lande“ Rechnung zu tragen sucht. Nicht zuletzt bestehen ihre Funktion und Bedeutung wohl darin, dass die Möglichkeiten (und Grenzen) realistischen Schreibens um 1850 ebenso zur Wahrnehmung, auch Erfahrung und Gestaltung von Wirklichkeit, in den begrenzten Räumen ländlicher Lebenswelten beizutragen vermögen32 wie sie eine Phänomenologie der Erfahrung unter den Bedingungen der Moderne vorstellen können. Zwischen der „Einübung des Tatsachenblicks“33 durch Fragestellungen, Techniken und Erfahrungsformen empirischer Forschung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und der modellierenden Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse durch Theorie-Ansätze und nicht zuletzt auch in politisch-ideologischen Programmen kommt dabei der „schönen Literatur“ (den belles-lèttres) wie auch anderen Künsten, so hat es Maurice Merleau-Ponty in seinen Radiovorträgen


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