Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021. Jürgen Thaler

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auch, wenn’s nicht schneit […]. Ich gab keinem Einwand mehr Gehör und zog trotzig den Hut auf die Stirn herunter, als mir der Sturm die ersten gefrorenen Schneeflocken entgegentrieb.“74

      Versuche, unter diesen Bedingungen eine gelingende Reise, ein einigermaßen als glücklich zu nennendes Leben zu führen, erst Recht Versuche zur Besserung der Verhältnisse auf den Weg zu bringen, so legt es der Erzähler ebenso nahe wie die Erzählung davon berichtet, bedürfen ziemlicher Entschlossenheit und solidarischen Zusammenhalts, sind allerdings zugleich auch von der Kontingenz und ggf. Gewogenheit der Umstände abhängig. Beten könnte hier ebenso helfen wie magische Praktiken, während die Disproportionalität von Erwartungen und Bedarf auf der einen, Aufwand und Ergebnis auf der anderen Seite vom Erzähler in teils skeptischen, teils humoristischen Betrachtungen sowohl vorgetragen als auch repräsentiert wird. Statt eine Art Selbstmord zu begehen durch Beten in der kalten Kirche, zieht dieser es vor, zuhause zu bleiben, da „der liebe Gott […] auch wisse, wie einem halb erfrorenen Bäuerlein zumute“75 ist, und mehr noch, statt zu beten, bevorzugt er es, die Zeitung zu lesen, woraus er durch die Einladung zur Hochzeit aufgeschreckt wird. Alltagshandeln wie die Bewältigung der durch Natur und Herrschaft gesetzten Anforderungen können, so erzählt es diese Geschichte, immer nur ansatzweise und unter Einbeziehung aller möglichen Hilfsmittel, vom christlichen Beten über den Schnaps bis zu magischen Praktiken, mit Alltagsvernunft und lebenspraktischem Wissen wie mit Ortskundigkeit, Neugier und vorhandenen Erfahrungen angegangen und erfolgreich bearbeitet werden.

      Für eine mögliche Besserung des Lebens der Menschen auf dem Land, davon berichtet Felder an dieser Stelle, ist deren Eingebettetsein in herkömmliche Erfahrungs- und Vorstellungsschätze ebenso zu berücksichtigen und zu nutzen wie deren Tatkraft und Entschlossenheit, Gemeinsinn und u. U. auch Exzentrik anzuerkennen sind. Die Subjekte, auf deren Repräsentation und Empowerment diese Texte zielen, werden in ihrer Verwobenheit, in den Wirren der unterschiedlichen Erfahrungen, Bedürfnisse und Sinnbezüge gezeigt. Damit ist zu arbeiten und hier ist anzusetzen, wenn es um Reformen auf dem Lande geht und darum, hierfür Menschen zu gewinnen, ohne deren Umschulung oder gar Vernichtung zugunsten eines „neuen Menschen“ ins Auge zu fassen. Wer im Blick auf das Ineinander-Verwobensein von Tradition und Moderne nach Vergleichbarem dazu sucht, könnte zum einen auf die Spur kommen, wie sie in ungefähr zeitgleichen Umständen Heinrich Heine mit seiner Studie zu den Elementargeistern (1837) gelegt hat. „In Westfalen, dem ehemaligen Sachsen, ist nicht alles tot, was begraben ist.“76 Postkolonial orientiert, ließe sich zum anderen feststellen, dass die Stimme der Subalternen auch hier bei Felder zu Wort kommt und im literarischen Spiel einen bis heute klingenden Resonanzraum zu finden vermag.

      1 Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt am Main: S. Fischer 1992, S. 80.

      2 Inwieweit sich Lektüre als Gestaltungsmittel, Verständigungsmedium und auch Verstehenshilfe in privaten, intimen Beziehungen des 19. Jahrhunderts nutzbar machen ließ, selbstverständlich zugleich auch neue Felder der Missverständnisse und der Grenzsetzungen eröffnete, hat Dan Hofstadter anhand der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts gezeigt. Vgl. Ders.: Die Liebesaffäre als Kunstwerk. Berlin: Berlin Verlag 1996; für weitere, v.a. auch milieu- und schichtenbezogene Zusammenhänge vgl. Hans Dieter Zimmermann: Vom Nutzen der Literatur. Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der literarischen Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 97 – 104 und bspw. Rolf Engelsing: Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert. In: Ders.: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978, S. 180 – 224.

      3 René König: Gesellschaft. In: Das Fischer Lexikon Soziologie. Hg. von René König. Frankfurt am Main: Fischer 1967, S. 104 – 112, hier S. 105.

      4 Namentlich die „Erfindung“ der Gesellschaft durch die Etablierung der Soziologie als einer eigenständigen, auf diese Totalität hin bezogenen Wissenschaft und deren ebenso auf Praxis wie auf Verstehen und theoretische bzw. geschichtsphilosophische Rahmung ausgehende Konzeptbildung. Vgl. Helmut Klages: Geschichte der Soziologie. München: Juventa 21972; Albert Salomon: Fortschritt als Schicksal und Verhängnis. Betrachtungen zum Ursprung der Soziologie. Stuttgart: Enke 1957.

      5 Vgl. dazu Gottfried Willems: Geschichte der deutschen Literatur. Band 4: Vormärz und Realismus. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2014, S. 20f.; Richard Brinkmann: Zum Begriff des Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Darmstadt: WBG 1974, S. 222 – 235, hier S. 222 – 229.

      6 Siehe Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen [1944]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.

      7 Siehe Dieter Claessens und Karin Claessens: Kapitalismus als Kultur. Entstehung und Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.

      8 Siehe Christian Graf von Krockow: Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890 – 1990. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 17 – 29.

      9 Siehe Werner Nell: Vom Landbewohner zur Bürgerin. In: Ders. und Marc Weiland (Hg.): Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin: Metzler 2019, S. 101 – 107.

      10 Ulrich Bräker, der „arme Mann von Toggenburg“, ist hier ebenso zu nennen wie Johann Peter Hebel, u. a. ein Vorbild Berthold Auerbachs. Für diese Zusammenhänge vgl. Marcus Twellmann: Nachwort. In: Ders. (Hg.): Berthold Auerbach. Schriften zur Literatur. Göttingen: Wallstein 2014, S. 267 – 304, hier S. 271 – 285; Gottfried Korff: Kultur. In: Hermann Bausinger u. a. (Hg.): Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt: WBG 1978, S. 17 – 80, hier S. 63 – 80, sowie Wolfgang Bonß: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 59 – 96.

      11 Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei. Berlin: Dietz 1970, S. 46.

      12 Es böte sich hier ein Bogen zu anderen kritischen, z.T. frühsozialistischen Denkern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, die wie etwa Charles Fourier (1772 – 1837) oder auch Henri de Saint-Simon (1760 – 1825) neben sozialer und ökonomischer Rationalität den Sinnlichkeit, Sozialität und Transzendenzvorstellungen gewidmeten Bedürfnissen und Erfahrungen von Menschen einen Raum und Anspruch gewähren – ein Impuls, der literarisch nicht zuletzt von Felders Zeitgenossen Heinrich Heine (1797 – 1856) aufgenommen und in poetischen Formen angesprochen wurde. „Keiner“, so Theodor W. Adorno im Vorwort zur deutschen Ausgabe Fouriers, „bietet dem Vorwurf des Utopismus schutzloser sich dar als er; bei keinem aber auch ist die Anfälligkeit der Doktrin so sehr gezeitigt vom Willen, die Vorstellung des besseren Zustands zu konkretisieren.“ (Theodor W. Adorno: Vorwort. In: Charles Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen. Hg. von Theodor W. Adorno. Eingeleitet von Elisabeth Lenk. Frankfurt am Main, Wien: Europäische Verlagsanstalt 1966, S. 5f., hier S. 6). Bezogen darauf bleiben Felders Entwürfe und Geschichten gegenüber dogmatischen Setzungen und doktrinärer Abstraktion bei der konkreten Lebendigkeit der von ihm geschilderten Personen, Erfahrungen und Umstände stehen und bieten so – über die frühsozialistischen Ideen und späteren Sozialismus hinaus – eine Anschlussmöglichkeit zu aktuellen Erfahrungen im Umgang mit sozialer Sicherheit, gesellschaftlicher Anerkennung und/oder individuellen Glücksbestrebungen (vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 429 – 442).

      13 Dies betrifft zumal seine Autobiografie Aus meinem Leben (1869), die unter dieser Perspektive eine eigene Untersuchung wert wäre. Vgl. Franz Michael Felder: Aus meinem Leben. Mit einem Nachwort von Walter Methlagl. Lengwil: Libelle 2004.

      14 Ruth Levitas: The Imaginary Reconstitution of Society or why sociologists and others should take utopia more seriously. Inaugural Lecture University of Bristol 24 October 2005, S. 11. Siehe http://www.bristol.ac.uk/media-library/sites/spais/migrated/documents/inaugural.pdf [letzter Zugriff: 21.5.2021].

      15 Siehe Marshall Berman: All that is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity. New York, Toronto: Penguin 1988.

      16 Siehe Josephine Donovan: European Local-Color Literature. National


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