Macht und Wort. Angela Steinmüller

Macht und Wort - Angela Steinmüller


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doch nach seinem Verschwinden fanden Beamte …

      Frau Doktor Bishorst: Halten wir kurz inne! Sie haben kürzlich einmal gesagt, dass Ihre Kindheitserinnerungen erst sehr spät einsetzen.

      Ich: Stimmt. Erst mit acht oder neun. Ich besuchte schon die Grundschule. Vorhin ist mir im Zusammenhang mit dem Wort »Krompribb« jedoch etwas eingefallen, das sich früher ereignet haben muss. Viel früher!

      Frau Doktor Bishorst: Wir wollen gleich wieder auf dieses Wort zurückkommen. Ihre Mutter ist also kurz nach Ihrer Geburt gestorben?

      Ich: Hat Vater zumindest behauptet.

      Frau Doktor Bishorst: Und Ihr Vater ist wann verschwunden?

      Ich: Als ich elf war. Bitteres Lachen. Eigentlich war er nicht weg oder blieb nicht verschwunden, weil ich ihm schon damals erschreckend zu ähneln begann. Sie müssen wissen, dass ich von ihm die großen Zähne und den Hang zur Korpulenz geerbt habe. Ohne das Tennis und die lästige Joggerei wäre ich so beleibt wie er. Mein Vater war so kolossal fett, dass er sich aus seiner Schreibtischplatte eine halbmondförmige Stelle herausfräsen lassen musste, damit er bequem sitzen konnte. Er arbeitete nicht nur am Schreibtisch, sondern aß auch da. Ich musste immer für uns kochen, was ein Euphemismus ist, denn damals war ich nur in der Lage, Fertiggerichte aufzuwärmen, die ich zu allem Verdruss auch noch einkaufen musste.

      Frau Doktor Bishorst: Was genau fanden Beamte nach seinem Verschwinden heraus? Welche Beamten waren das überhaupt?

      Ich: Sie fanden Papiere, die belegten, dass ich adoptiert war. Und zur zweiten Frage: Ich weiß nicht, um welche Beamten es sich handelte. Ich vermute, welche vom Jugendamt. Aber der Witz ist, was sich bald darauf herausstellte: Die Papiere waren allesamt falsch! Wieso sollte Vater gefälschte Adoptionspapiere aufbewahren? So – jetzt aber! Wissen Sie, was mir vorhin eingefallen ist? Ich muss etwas weiter ausholen. Mein Vater rief mich oft zu sich ins Arbeitszimmer, um mir eine Geschichte vorzulesen. Es war immer dieselbe Geschichte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich ihn mit seiner dröhnenden Stimme meinen Namen rufen hörte und sofort nach oben ins Arbeitszimmer trabte, das ich ansonsten nicht betreten durfte. Dort erwartete er mich, hielt eine blaue Mappe in der Hand und las mir eine Geschichte vor. Eine Science-Fiction-Geschichte. Ich weiß nicht, ob er sie irgendwo abgetippt oder sie selbst geschrieben hat. Ich erinnere mich deutlich, dass es mir sehr wichtig schien, zuzuhören und nicht durch Zwischenfragen zu stören. Da dies das Einzige war, das Vater mit mir zusammen machte, zog ich sogar fast so etwas wie familiäre Normalität daraus. Ich saß auf einem Kissen ans Bücherregal gelehnt, versuchte ein interessiertes Gesicht zu machen und hörte ihm zu, bis er die Mappe zuklappte und in kränkender Beiläufigkeit sagte, während er sich wieder seiner Schreibmaschine zuwandte: »Du kannst jetzt gehen.«

      Frau Doktor Bishorst: Und es war immer dieselbe Geschichte?

      Ich: Immer. Ich vermute heute, dass es sich um eine Geschichte aus dem sogenannten Goldenen Zeitalter der Science Fiction handelte. Sie hatte nämlich den hemdsärmelig-ruralen Charme, den man etwa von Eric Frank Russell kennt. Extrem vernünftige Fünfzigerjahre-Charaktere und eine in der Regel basale und immer rein männliche Raumschiffbesatzung: Captain, Erster Offizier, Zweiter Offizier, Cheffunker, Bordarzt, Schiffskoch und vielleicht noch der eine oder andere Naturwissenschaftler. Langweile ich Sie? Mir kommt es irgendwie falsch vor, dass wir hier ohne Masken sitzen?

      Frau Doktor Bishorst: Das ist in Ordnung. Ich dachte, das hätten wir geklärt. Wir halten Abstand und das Fenster ist geöffnet. Sie haben doch sicher als Erwachsener nach dieser Geschichte Ausschau gehalten?

      Ich: Natürlich! Aber ich habe sie nirgends gefunden. Weder bei Russell, noch bei Simak, noch bei van Vogt. Wahrscheinlich hat Vater sie wirklich selbst geschrieben. Aber weshalb? Es passt nicht zu ihm, dass er eine derartige Geschichte schreibt. Seinem Sohn überhaupt etwas vorzulesen, passt allerdings genauso wenig zu ihm. Tiefes Luftholen. Interplanetarische Schatzsucher sind auf der Suche nach einem schweren Kreuzer, der vor über 2.000 Erdjahren in einem wenig beflogenen Sektor am Rande des kartographierten Raums verlorenging. Der Kreuzer unter Befehl eines gefeierten Kriegshelden namens Holberg hatte Waren unfassbaren Wertes an Bord, die Aussteuer einer Seeprinzessin von Sirius etwa, und würde die Schatzsucher zu gemachten Männern machen. Buchstabierend: Ä-n-n-d-ä-w-w-e-r. So hätte ich als Kind den Namen des Raumschiffs geschrieben. Inzwischen weiß ich natürlich, dass das Schiff der Glückspiraten Endeavour hieß. Damals konnte ich ja noch kein Englisch! Sehen Sie, wie tief sich diese Geschichte in meine Gehirnwindungen gegraben hat? Unsere Schatzsucher landen auf einem unbekannten Planeten, wo die Bewohner, die beinahe menschenähnlich sind, eine Gottheit namens Ollback verehren. Als die Schatzsucher eine Statue dieses Gottes gezeigt bekommen, vor der ein eingeborener Hohepriester behutsame, wischende, fast kratzende Handbewegungen macht, platzt es aus dem Ersten Offizier heraus: »Jungs, haltet euch fest! Wir haben tatsächlich die Welt gefunden, auf der Admiral Holberg gestrandet ist. Seht her! Ihr Gott Ollback trägt einen Raumhelm, er hält einen Nadelstrahler in einer Hand und in der anderen einen antiken Kommunikator. Versteht ihr, was hier los ist? Holberg? Ollback? Der Knilch war ein As! Er hat uns eine Spur aus Brotkrumen gelegt. Wir müssen nur rausfinden, wo er sich mit seinem Raumschiff eingeigelt hat.«

      Frau Doktor Bishorst: Was meinen Sie mit »eingeigelt«?

      Ich: Der Erste Offizier geht davon aus, dass sich der havarierte Holberg, dessen Funkgerät offenbar beschädigt war, in die Kühlkammer seines Raumers gelegt hat, um auf zukünftige Retter zu warten. Und damit diese ihn finden, hat er eine unübersehbare Spur gelegt: eine ganze Religion. Ist das nicht genial? Manchmal habe ich das Gefühl, dass man mich nicht versteht. Nicht weil ich schlauer wäre als alle anderen, sondern weil ich, wie soll ich es ausdrücken, äh … weil ich … äh … andere Dinge weiß. Präastronautik. Cargokult. Eric Frank Russell. Sogleich machen sich unsere Schatzsucher daran, das zentrale Heiligtum des Ollback-Kults aufzuspüren, und in der Tat finden sie nach vielen aberwitzigen Abenteuern –

      Frau Doktor Bishorst: Entschuldigen Sie die Zwischenfrage. Was hat das alles mit diesem Wort zu tun, das Sie über Gebühr beschäftigt?

      Ich: Mit »Krompripp«? Nicht anders heißt der Planet in der Geschichte. Krompripp. Der Name wird unentwegt erwähnt. Nach vielen Abenteuern, mit denen ich Sie hier nicht langweilen will, obwohl sie mich als Kind begeisterten – und wenn ich ehrlich bin, tun sie es noch heute –, stoßen sie im Dschungel auf das zentrale Heiligtum des Kultes und dort finden sie unter einer romanischen Kuppel aus poliertem Holz den verschollenen Kreuzer, einen spindelförmigen Raumer mit arg zerschrammter Außenhaut, moosüberwuchert und mit bunten Tüchern geschmückt. Nun ja … Am Ende der Geschichte erreichen die Helden die Kühlkammer, wo auf einem Podest altargleich eine einzige Tiefschlaftruhe steht, und darin liegt Admiral Holberg höchstpersönlich, wie der Bordarzt mit einem Aufschrei des Entzückens feststellt, nachdem er – wie Generationen von Priestern des Ollback-Kultes vor ihm – auf Kopfhöhe das Eis vom Sichtfenster gewischt hat …

      Die maskierten Menschen auf den Bürgersteigen, an den Fahrbahnübergängen, den Bushaltestellen, bildeten einen schmerzhaft verstörenden Kontrast zur Farbenpracht des Oktobertages. Noch trugen die meisten Bäume ihr Kleid, kaum buntes Laub bedeckte den Boden, und die Stadt überwölbte ein aus sich selbst heraus strahlender hellblauer Kinderbuchhimmel. Auf der Heimfahrt von der Sitzung kam mir ein naheliegender Gedanke und zu Hause setzte ich mich gleich an den Rechner, gab – wieso war ich nicht vorher darauf gekommen? – Krompripp ein und wurde tatsächlich fündig. Und zwar, was mich nur gelinde erstaunte, auf der Homepage eines Heimatforschers, der in erbsenzählerischer Manier Wüstungen in Schleswig-Holstein auflistete und mit Erklärungen versah: Ollerloh, Wüstenfelde, Bunebutle, Ekenhorst und, mir stockte der Atem, Krompripp. Ehe ich den Eintrag zu Krompripp las, recherchierte ich erst einmal, was genau ich unter Wüstungen zu verstehen hatte, und fand heraus, dass es sich bei einer Wüstung um eine ehemalige Siedlung oder Nutzfläche (Weide, Feld, Acker) handelt, an die nur noch »Urkunden, Flurnamen, Relikte im Boden, sichtbare Ruinen oder örtliche mündliche Überlieferungen erinnern«. Ich klickte


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