Macht und Wort. Angela Steinmüller
und bringen den ehemaligen Abonnenten weg.
SCS-Abonnent – (Status: gelöscht), Eigenname Schlesinger, Rudolf. Protokoll 31. Mai 2041. 09:15 Uhr
Ich kann die Begriffe wenigstens noch denken. Die Gedanken sind frei …
Es ist ein altes Volkslied. Eigentlich sollte es mir Mut machen, aber das ist nicht der Fall.
Die Unterhaltung mit dem Sprechwart war eigenartig. Er war sehr freundlich und er hat mir das neue System erklärt, so fortschrittlich, so elegant, so korrekt. Ich hatte nie zuvor von einer Version 4.0 gehört.
Dennoch hatte ich ab und an das Gefühl, dass er sich unwohl fühlte in seiner Rolle. Er unterliegt als Sprechwart dem Korrektiv nur bedingt.
Wie heißt es so treffend? Alle sind gleich, aber manche sind gleicher.
Eines habe ich außerdem begriffen. Der trübe Blick der folgenden Generation resultiert aus lebenslang betreutem Denken und Sprechen. Ihnen fehlen die Begriffe, aus denen man sich eine eigene Welt zusammenbauen könnte – sie kennen nur die Worthülsen und korrekten Phrasen.
Betreutes Denken.
Was für eine deprimierende Aussicht.
Es heißt, am Anfang sei das Wort gewesen. Der Logos. Auf verstehen angelegte Sprache, als Synonym für Vernunft.
Nicht Gott ist tot … die Vernunft ist es. Was übrig bleibt, sind Ameisen. Das perfekte Kollektiv.
Ich spreche nicht mehr. Nicht mit den Miteinsitzenden, die nur zu ihrem eigenen Besten hier sind; genau wie ich. Nicht mit den Sprechwarten, nicht einmal mit mir selbst. Die Stimme ist erloschen.
Meine Gedanken habe ich … noch!
Mit Scissors 4.0 hat man nicht einmal mehr sie.
Ganz herzlichen Dank an Michael Tinnefeld für die Einschätzung der psychologischen Reaktionen.
VOM SITZEN UNTERM HOLLERBUSCH
von Christopher Ecker
Aus Trotz, von der Schulleitung dazu verdonnert worden zu sein, die Rede zu halten, hatte ich vor, über das Thema »Heimweh« zu sprechen. Es war mir schleierhaft, wieso bei der sogenannten »Abiturentlassungsfeier« überhaupt ein Mitglied des »Lehrkörpers« sprechen musste. Ich jedenfalls wollte die Lehrerrede so halten (ernst, abwegig, düster), dass man mich nicht noch einmal dazu verdonnern würde. Heimweh hat man nicht nach einem Ort, überlegte ich beim Verlassen des Lehrerzimmers, sondern nach einem Zustand. Man sehnt sich, überlegte ich weiter und zupfte dabei an der Maske herum, so zu sein, wie man ehemals an einem gewissen Ort war. Erinnerungen spielen eine Rolle. Es geht um Kindheit. Es geht ums Reisen. Doch dann gibt es noch eine schwer greifbare Form des Heimwehs, die bei mir persönlich (aber das würde ich niemals öffentlich zugeben) durch Science-Fiction-Romane der fünfziger Jahre ausgelöst wird oder durch Science-Fiction-Filme der siebziger Jahre oder – wie kürzlich in der U-Bahn bei einer Klassenfahrt – durch ein bogenförmiges Stück rostigen Metalls mit runden Nieten, das an der gewölbten Wand eines düsteren Seitenschachtes angebracht war.
Mit einigen energischen Schritten durchmaß ich das Klassenzimmer, riss das Fenster auf, nahm die Maske ab, atmete tief ein und stopfte sie in die Gesäßtasche. Oberstufe. Ein besserer Kurs. »Wir wollen heute«, begann ich ohne Umschweife meine Standarddoppelstunde zur Sprachphilosophie, die ich so oft gehalten hatte, dass ich auf Autopilot schalten konnte, »über das Sprechen sprechen. Beim Sprechen oder beim Nachdenken über Sprache befinden wir uns in der paradoxen Situation, dass das Medium der Untersuchung identisch mit demjenigen ist, was es zu untersuchen gilt. Wir sprechen«, verdeutlichte ich den Gedanken und ließ meinen Blick über die Reihen schweifen, »mit Sprache über das Sprechen – und dass dies ein heikles Unterfangen ist«, ich lachte, »wird wohl jedem klar sein.«
Ich ließ einige Sekunden verstreichen und gab mich versöhnlich: »Aber wie sonst sollte man über Sprache sprechen als mit Sprache?« Nun dürfte jedem das Grundproblem klargeworden sein. Ich zog den Mantel aus, legte ihn über eine freie Bank und malte mit weißer Kreide ein kleines Haus an die Tafel: einstöckig, eintürig, einfenstrig, mit einem hexenhutförmigen Dach, auf das ich einen überdimensionierten Schornstein setzte, aus dem (einige lachten) eine absurde Menge Rauch in den Himmel von Tafelistan quoll. »Was ist das?«, fragte ich, indem ich die Kreide sinken ließ.
»Ein Haus!«, rief wie üblich einer der Übereifrigen.
»Nein«, sagte ich. »Das ist kein Haus.«
Es entstand die übliche Unruhe.
»Was ist das?«, fragte ich wieder und deutete mit der Kreide auf die Tafel.
Einige melden sich. Ich nahm Simon dran.
»Das ist«, sagte er, »das Bild eines Hauses.«
Einserschüler, dachte ich nicht zum ersten Mal, nickte ihm wohlwollend zu und fuhr fort: »Genau. Das ist das Abbild eines Hauses. Und damit niemand das Abbild eines Hauses, also ein gemaltes Haus für ein echtes Haus hält, setzen wir es lieber schleunigst in Anführungszeichen, damit keiner, der es nicht besser weiß, dort einzieht.« Höfliches oder – man weiß ja nie – unterwürfiges Gelächter im Auditorium. Eigentlich lachen sie immer, wenn man will, dass sie lachen. Dies ist das Fundament der Macht.
Ich ließ einige Sekunden verstreichen, setzte Anführungszeichen rechts und links des gemalten Hauses und schrieb daneben in Großbuchstaben und ebenfalls in Anführungszeichen: Haus. Nun wartete ich ab. Dieses Vorgehen nennen die Pädagogen, denen wir allesamt misstrauen sollten, »stummen Impuls«. Dieser glückt mal mehr, mal weniger. Diesmal passierte gar nichts. Auch das kann vorkommen. Gut, dass mich gerade niemand – und erst recht kein Pädagoge – bei meinem Tun beobachtete.
»Wir haben hier«, ich zeigte übertrieben auf das gemalte Haus, »das Bezeichnete und hier«, ich zeigte noch übertriebener (einige lachten) auf das Wort »Haus«, »das Bezeichnende. Doch wie, frage ich mich und euch, ist die Beziehung zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden?«
Mehrere Arme schnellten in die Höhe, doch da ich keine Lust auf blödsinnige Mutmaßungen hatte, die vom Thema wegführten, sagte ich rasch: »Das war eine rhetorische Frage, Freunde« und knipste erneut den Autopilot an, der mir – diesmal mit Ferdinand de Saussure in einer Lightversion – mit stetiger Regelmäßigkeit das Konto füllte.
»Statt ›Haus‹ hätte ich auch ›maison‹ schreiben können«, ich tat es, »oder ›house‹«, ich tat auch dies, »oder – wer ist Lateiner? – ›domus‹ oder ›casa‹«, ich schrieb auch diese Wörter an die Tafel, »und so weiter und so fort.« Ich nahm am Pult Platz, lehnte mich zurück, streckte die Beine aus, ballte die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten. »Die Beziehung zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden ist also willkürlich. Außerdem ist die Beziehung zeitlicher Veränderung unterworfen. Früher war ›Dirne‹ ein junges Mädchen, heute ist das etwas, wo man sich – lassen wir das! Die Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem ist also erstens willkürlich, zweitens – schreibt ihr auch alle mit? – zeitlich veränderbar und sie ist drittens konventionell. Man einigt sich in einer Sprachgemeinschaft auf ein bestimmtes Wort für einen bestimmten Gegenstand. Wir könnten uns zum Beispiel jetzt darauf einigen, dass wir dieses Ding«, ich zeigte auf den Tafelständer – an dieser Stelle meiner Ausführungen ließ ich mir immer spontan ein Phantasiewort als Bezeichnung einfallen, das alle zum Lachen brachte, aber diesmal war es anders. Diesmal dachte ich mir kein Wort aus, sondern diesmal kam es mir jäh in den Sinn. Es tauchte ins Fassbare wie ein Unterseeboot aus sturmgepeitschter See, tauchte auf wie aus Tiefen, die selten befahren werden, tauchte auf und nahm gleichzeitig lautliche Gestalt an. »Dass wir dieses Ding«, wiederholte ich nun nicht mehr auf Autopilot, denn ich wurde gesteuert, war Marionette, Puppe, eine wehrlose Spielfigur, die man dazu zwang, das Wort auszusprechen, »›Krompribb‹ nennen wollen. Ich könnte also sagen: ›Robert, geh mal zum Krompribb!‹ oder ›Aus welchem Material ist denn der Krompribb?‹ oder ‹Mia, fass bitte mal den Krompribb