Macht und Wort. Angela Steinmüller
Untergebenen ihm die Wahrheit glauben und einsehen, dass der Weg, den sie gegangen waren, nicht der richtige war? Er verwarf seinen ersten Plan, der wertvolle Worte in Lügen verwandelt hätte und erzählte die Wahrheit.
Als er zu reden begann, sah Bo bewusst nur diejenigen an, die Kinder hatten. Das waren drei.
Bo erzählte seine Geschichte. Keine Regung in den Gesichtern. Damit hatte Bo gerechnet. Dann berichtete er von Mia, ohne ihren Namen zu nennen und die Höhle erneut zu erwähnen. Er sprach von den Stockhieben und den stummen Tränen.
»Wir müssen uns klarmachen, dass wir die Kinderseelen stark belasten, wenn wir sie mit drei Jahren von den Eltern wegzerren und sie für jedes Vergehen schlagen. Wir sind eine intelligente und weit entwickelte Gesellschaft, die jedoch zurück ins Mittelalter rutscht, wenn der Mensch keine Rechte mehr erhält.« Bo machte eine kurze Pause. »Bitte, ihr dürft sprechen.«
Silly stand auf. Sie hatte zwei Kinder, eins davon war erst vor wenigen Wochen abgeholt worden. »Danke, Oberster, dass du das ansprichst. Ich bin schon lange dafür, dass wir die Gesetze überdenken.« Sie ging auf Bo zu und stellte sich auf seine Seite.
Bos Herz hämmerte gegen seine Brust. Er hatte eine Verbündete in seinen Reihen. Blieben noch neun, die es zu überzeugen galt.
Am Ende der wortgewaltigen Debatte standen sechs Machtvolle auf seiner Seite, die übrigen vier stellten sich gegen eine politische Kehrtwende. Der Redensführer herrschte Bo in einem Ton an, den Bo vor einiger Zeit mit harten Sanktionen bestraft hätte. »Das werde ich nicht dulden. Ich sorge dafür, dass du abgesetzt wirst.«
»Für deinen Tonfall könnte ich dich in die Fabriken schicken, doch das möchte ich nicht mehr«, sagte Bo und ergänzte. »Die Wahlen in den Reihen der Machtvollen sind in zwei Monaten. Du weißt, dass es nicht möglich ist, mich abzusetzen.«
»Du kannst nicht alles über den Haufen werfen, wofür unsere Großväter gekämpft haben.«
»Ich muss die Gesetze überdenken, zum Wohle der Menschheit.«
»Nicht mit uns.« Pit stürmte aus dem Saal, gefolgt von dreien seiner Mitläufer.
Auf dem Flur polterte es, dann ertönte ein Schrei. Bo und seine Verbündeten eilten hinaus. Das F aus dem Wort Konferenzsaal war abgefallen und hatte Ty, der den Raum als Letzter verlassen hatte, erschlagen.
An diesem Abend lag er lange wach. Er hatte für das Regime gelebt und sein Ziel stets vor Augen gehabt. Nun war alles anders. Einem kleinen Mädchen war es gelungen, seine Meinung zu verändern und sein Ziel neu zu definieren. Bo war aufgeregt und er spürte noch etwas anderes: Glück.
Die nächsten Wochen bekam Bo wenig Schlaf. Er hatte acht Wochen Zeit, um die Untergebenen davon zu überzeugen, dass die Sprache zu verbieten und den Kindern das Schweigen zu lehren, nicht förderlich für die Entwicklung einer Gesellschaft war.
Er lud die Rebellen zu sich ein und setzte damit ein Zeichen bei den Untergebenen. Die Treppe blieb verwaist, stattdessen ließ er Bäume und Pflanzen links und rechts auf den Treppenabsätzen platzieren. Die Türe zum Rathaus stand offen. In der Fabrik wurde gegen Lohn gearbeitet, Aufstiegschancen inklusive.
Die Machtvollen spalteten sich in Anhänger und Gegner von Bos neuer Politik. Wenn Bo an seinem Weg zweifelte, besuchte er Mia, die ihn daran erinnerte, weshalb er von seinem Ursprungsglauben abwich. Er war jede Woche bei ihr.
Auch die Untergebenen, die er nun Mitmenschen nannte, hießen die Veränderung nicht alle willkommen.
Und doch einte sie eins: Die Menschen schauten nicht mehr ängstlich, sie lachten hörbar und unterhielten sich lautstark auf der Straße.
Die Kinder blieben bei ihren Familien, lautes Lesen und Schreiben wurde zur Pflicht.
In den acht Wochen bis zur Wahl erreichte Bo mehr als in seiner gesamten Amtszeit. Als Lohn wählten die Mitmenschen ihn wieder, trotz der Widerstandsbewegung. Noch nie war er so erleichtert, so glücklich über die Zustimmung der Wähler. Aber die Wahl endete mit einem knappen Ergebnis. Die Opposition würde ihm das Leben in der nächsten einjährigen Amtszeit zur Hölle machen. Da wusste er noch nicht, dass er viele Jahre der Oberste bleiben würde.
Die Sprache entwickelte sich zu einem allgemeinen Kulturgut, sie wurde gepflegt, gehegt und ausgebaut. Alle durften sie verwenden. Bücher und Zeitungen gab es frei verkäuflich im Laden, die Bibliothek im Rathaus war nicht mehr geheim, sondern öffentlich.
Die Menschen lernten, mit Worten umzugehen. Aus den anfänglichen schüchternen Sprachversuchen bildeten sie Sätze, die zu kunstvollen Werken zusammengesetzt, in den Ohren der Zuhörer und den Köpfen der Leser wie Musik klangen. Doch bei Diskussionen endete das Gesagte nicht selten in machtvollen Boshaftigkeiten. Worte klangen gut, klangen böse.
Bo blieb überzeugt davon, dass sich Sprache in seiner reinsten und schönsten Form zeigte, wenn sie aus tiefstem Herzen geboren wurde. Diese Wahrhaftigkeit versuchte er jeden Abend in seinen eigenen Roman zu transportieren, den er zu schreiben begonnen hatte. Er war überzeugt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Und doch keimten immer wieder Zweifel in ihm auf, denn Bo wusste, nicht alle Märchen endeten mit einem Happy End. Und jede Geschichte zeigte, der Mensch vergaß, was einst war, wiederholte sich. Dann stünde die Menschheit wieder vor den Scherben ihrer Sprachmacht. Die Staatsoberhäupter würden erneut Gesetze entwerfen und auf deren Einhaltung pochen, um die Mitmenschen vor Worten zu schützen.
Das Märchen von Mia und Bo
Es war einmal eine junge Frau, die in einem Land lebte, ähnlich dem unseren. In diesem Land herrschten die Mächtigen über die Menschheit. Sie verboten die Sprache und vernichteten Bücher und Zeitungen. Kommunikation wurde bestraft, Worte, ob geschrieben oder gesprochen, säten Zwietracht, die aus dem Land verbannt werden sollte.
Diese junge Frau, ihr Name war Mia, fand unter einem umgekippten Baumstamm ein altes Märchenbuch. Sie las die Geschichten in einem verbotenen Versteck und liebte die Worte, die rhythmisch zwischen ihren Lippen hüpften, ihren Kopf ausfüllten und sie worttrunken machte.
Und Mia fragte sich, ob die Sprache nicht auch Gutes bewirken und Liebe hervorbringen könnte …
ǢMAITJŌN – SCISSORS 4.0
von Rainer Schorm
»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Ludwig Wittgenstein »Tractatus logico-philosophicus« (1921/22)
Am 05. Mai 2041 wurde die Unterstützung für das Sprachsystem Scissors 2.0 endgültig beendet. Die Medialität hielt den Erregungsquotienten niedrig. Die Nachricht ging, wie gewünscht, im Medienrauschen unter. Der Prozess von Abonnent 85.396.448 ist idealtypisch und wird deshalb protokolliert und archiviert.
Bilanz des Korrektivs
Sprechwart G. Herlinger
SCS-Abonnent 85.396.448, Eigenname Schlesinger, Rudolf. Protokoll 05. Mai 2041. 09:15 Uhr
Frühstück war in Ordnung. Die perfekte Balance zwischen Proteinen, Fetten und Kohlehydraten. Der Kühlschrank muss einige Tofunarien nachbestellen.
Dennoch: Etwas fehlt. Ich kann auf Anhieb nicht sagen, was es ist. Das eigenartige Gefühl macht sich seit dem Aufwachen heute Morgen breit, eine Unsicherheit, die mir bis dahin völlig unbekannt war. Ein eigenartiges Gefühl … oder ein Nicht-Gefühl? Ich kann es nicht näher beschreiben. Ob ich krank werde? Ich könnte mir etwas eingefangen haben.
Heute bin ich froh, dass ich von zu Hause aus arbeiten kann. Online-Expertise hat seit den zwanziger Jahren exponentiell zugenommen. Es ist eine Art der Isolation, aber gerade an Tagen wie diesem, empfinde ich das als angenehm.
Die Gespräche fühlen sich … holprig an. Die Kommentare des mLectors sind wie immer, aber es scheint Abstimmungsprobleme