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macht sich in mir breit: Mein System wird nicht mehr unterstützt. Kann das sein? Das bedeutet, dass die Formulierungskomponente nicht auf dem neuesten Stand ist und das dauerhaft. Die Wortwahl unter Scissors 2.0, also den verbindlichen Vorgaben des CSC, des Center for Speech Control, wird in Echtzeit kontrolliert und bereits bei der Formulierung kritisiert.

      Als unerwünscht erfasste Begriffe werden vom mLector, einem überaus komplexen Sprechalgorithmus, vor der Artikulation ausgebremst. Das funktioniert über eine neuronale Kopplung des CSC-Links zum Index im Gyrus temporalis medius. Im Sprechzentrum bauen Nanomaschinen eine Schnittstelle auf. Ich versuche, mir die Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Scissors 2.0 läuft bereits seit über zwanzig Jahren. Viele der Funktionen und Algorithmen habe ich vergessen. Die AGBs allemal. Ich frage mich, ob sie überhaupt jemand jemals durchgelesen und verstanden hat.

      Meine Unzulänglichkeit hat dazu geführt, dass ich mich mehr mit dem System beschäftigt habe als jemals zuvor in meinem Leben. Es war immer da und es hat immer funktioniert

      Das Problem ist, dass der mLector die Begriffe kommentiert, gleichgültig, ob ich rede oder nicht. Ich bin zunehmend unsicher und vermeide es, zu sprechen. Keine Speechcoms, keine direkten Anrufe. Ich beschränke mich auf schriftliche Kommunikation – wobei ich die Texte zum einen deutlich kürzer halte als sonst und sie zweitens etliche Male kontrolliere. Noch stärker lassen sich die Sätze nicht reduzieren, sonst lande ich bei ein oder zwei Worten. Als ob sich damit etwas Wesentliches sagen ließe. Es fühlt sich an, wie ein immaterieller Maulkorb; unangenehmerweise bin ich bei dieser Metapher der bissige Hund. So fühle ich mich ganz und gar nicht. Ich bin verängstigt und unsicher. Also spreche ich immer weniger.

      Eine Mute-Taste fürs Denken; es schadet dem Selbstbewusstsein unglaublich.

      Ich stehe im Hausflur und schaue mich um. Auch das ist auffällig: Ich habe das unangenehme Gefühl, dass mich alle anderen beobachten. Bizarrerweise sogar dann, wenn niemand zugegen ist.

      Manchmal stelle ich mich in die geöffnete Tür, wenn jemand nach Hause kommt. Viele Bewohner haben den eigenartig fischigen Blick. Es fällt mir erst jetzt auf, dass beinahe alle deutlich jünger sind als ich. Es ist unangenehm, so angeschaut zu werden. Das war es immer, aber erst jetzt beginne ich, darauf zu achten.

      Ich versuche mich damit zu beruhigen, dass ich mir selbst eine Paranoia attestiere. Netter Einfall! Funktioniert dummerweise nicht.

      Derart isoliert zu sein ist bedrohlich. Ich schwitze häufig ohne Grund und dann rast mein Herz, wie nach einem Lauf. Ich bin sehr lange nicht mehr gelaufen. Die Jahre fordern ihren Tribut. Körperlich könnte ich es wohl, aber mir fehlt die Energie.

      Dieser Wohnblock hat jetzt etwas von einem Gefängnis; nach über zwanzig Jahren, die ich hier lebe. Es ist ein wenig, als bewege man sich in einer labyrinthartigen Ansammlung übermannshoher Monolithe. Zu groß, um darüber hinwegschauen zu können, kein erkennbarer Horizont. Und obwohl es nur einzelne Steine sind, die eng beieinanderstehen, ist man allein zwischen ihnen und verloren. Man nimmt sonst niemanden wahr, gleichgültig, wie viele sich noch durch diesen Irrgarten bewegen.

      Die Vereinzelung, die daraus resultiert, macht mir zu schaffen.

      Die Desorientierung nimmt zu. Essen muss ich trotz allem. Dass Einkaufen einmal zur Mutprobe werden könnte, hätte ich niemals vermutet. Es ist längst nicht mehr nur der toxische Straßenname. Mein Hals wird eng.

      Dort draußen muss man sprechen …

      SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 09. Mai 2041. 00:27 Uhr

      Ich kann nicht einschlafen. Meine Gedanken schwirren wie wild durch meinen Kopf, ebenso wild kommentiert vom Compendium. Im Zustand des Dösens kann man Gedanken nicht im Zaum halten. Es ist erschreckend, wie unkorrekt man denkt, wenn die Schutzwälle des CSC in sich zusammenbrechen. Die ungezügelte, überkommene Natur meldet sich zu Wort – und diese Worte sind … böse!

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      Man sollte denken, wir hätten das überwunden. Aber dem ist nicht so.

      Langsam frage ich mich, ob nicht bereits die Annahme, man könne die reale Natur – wie die Hirnfunktion etwa – überwinden, der eigentliche Fehler ist. Es klingt so … unsinnig. Kann man Hunger überwinden? Verdauung? Stoffwechsel? Sex? Das Atmen? Aber das ist Biologismus und damit unakzeptabel. Aber ist das nicht genau das, was wir sind, wenn man uns isoliert? Ich versuche mir vorzustellen, was bleibt, wenn man uns unsere Biologie wegnähme. Versuche erneut, einzuschlafen.

      Morgen muss ich nach draußen …

      SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 07:58 Uhr

      »He, Sie! Was fällt Ihnen ein?«

      Die Frau zuckt zurück, als habe sie eine elektrische Leitung berührt. Es ist eng hier, im Feierabendverkehr ist die Magnetbahn komplett überfüllt. Seit den Tagen der Pandemie reagieren viele Menschen auf Nähe sehr extrem. Insofern ist der öffentliche Nahverkehr eine Art Kriegsgebiet. Ich zucke ebenfalls zurück. Eine instinktive, aber keine kluge Reaktion … eher ein Schuldeingeständnis. Ich vermute richtig.

      »Nehmen Sie Ihre Griffel weg!«

      Ich beiße mir auf die Lippen. Bereits das ist ein körpersprachlicher Fehler, ich weiß. Bloß nichts sagen. Auf keinen Fall.

      Habe ich sie etwa berührt? Ich erinnere mich nicht daran, etwas gespürt zu haben, aber auf meine Einschätzung kommt es nicht an. Außerdem bin ich übermüdet, wie ich es nie zuvor war. Alles in mir ist in Alarmbereitschaft, ich fühle mich fiebrig. Es war ein Fehler, aus dem Haus zu gehen, das war mir bereits nach den ersten Minuten klar. Aber ich musste ja den Helden spielen.

      Mit denen nimmt es üblicherweise ein böses Ende.

      Die Frau starrt mich an, als sei ich ein Insekt. Natürlich stehe ich als weißer Mann bereits grundsätzlich unter Verdacht, aber daran hatte ich mich gewöhnt – zumindest ging ich bisher davon aus. Dazu kommt, dass ich nicht mehr jung bin. Ein Euphemismus.

      Die fette Frau [Warnung! Keine Gewichtsdiskriminierung.] gluckst unangenehm und die ersten Leute um sie herum wenden ihre Blicke mir zu. Das Framing funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk. [Rassismuswarnung! Keine nationale Zuschreibung.]

      Ohne Vorwarnung stehe ich unter Strom. Ich kenne die Reaktionsabläufe. Jeder tut das, heutzutage. Der Vorwurf wird als Faktum betrachtet. Die Panik in mir löst die letzten begrifflichen Hemmungen. Die Zicke ist auf Krawall gebürstet!

      [Sexismuswarnung! Gruppenorientierte Feindseligkeit gegen Frauen. Wird eine Handlung/Äußerung als sexistisch empfunden, ist sie es per definitionem auch. Bereits die Infragestellung des Sachverhalts erfüllt ihn.]

      Wenn der mLector derart ausführlich kommentiert, wird es unangenehm. Die Unschuldsvermutung ist längst still verstorben. Bisher fand ich das positiv. Am Zwinkern ihrer Augen sehe ich, dass sie etwas postet. Sie ist voll im Trend und über einen GawkPin in der Hornhaut vernetzt. Ihr Kopf wackelt empört hin und her. Wenn ich Glück habe, ist das gepostete Bild unscharf, obwohl die Autokorrekturen das üblicherweise verhindern.

      »Kein gutes Zeichen …«, denke ich.

      Wird ein solcher Vorwurf viral, hat man verloren. Die Schnelligkeit der Polyposts verhindert Nachdenken, Abwägen oder ähnlich fruchtlose Tätigkeiten. Die Sorgfalt ist nicht still verstorben, sie wurde mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Es reagiert das unmittelbare Gefühl. Nietzsche sagte einmal, dass sich die Reife eines Geistes an der Dauer der Verzögerung der Reaktion zeigt. Wann habe ich das gelesen?

      [Anmerkung: Der Gedanke kann zu mentalem Extremismus führen. Nietzsche ist als toxische Quelle belastet und nicht zitierungsfähig. Streichen.]

      Die Frau ist empört und scheint sich in ihren Zustand hineinzusteigern. Der dicke Kopf mit den Pausbacken ist puterrot. Sie wedelt wie verrückt


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