Macht und Wort. Angela Steinmüller

Macht und Wort - Angela Steinmüller


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Tafelständer, »ein Krompribb ist.«

      Krompribb? Ich war tief verstört und bekam einen Schweißausbruch.

      Nach der Doppelstunde setzte ich wieder die Maske auf, ein blassblaues Modell aus der Apotheke, das ich abends in den Müll zu schmeißen pflegte, und ging zurück zum Lehrerzimmer. Viele Kollegen trugen Stoffmasken, die man nach Gebrauch waschen musste. Ich hingegen bevorzugte medizinische Wegwerfmasken, weil ich mich nicht mit der Seuche modisch gemein machen wollte, und noch war die Zeit für FFP2-Masken nicht gekommen. Krompripp. Mich irritierte sehr, dass mir dieses Wort bekannt vorkam, vertraut, obwohl ich hätte schwören können, es nie zuvor gehört oder gelesen zu haben. Außerdem unterschied sich das Wort grundsätzlich von den ulkigen Begriffen, die ich mir ansonsten ausdachte, um auf die Konventionalität symbolischer Zeichen aufmerksam zu machen. Denn zum einen war »Krompribb« nicht ernsthaft komisch und zum anderen schien es mir, was meinen Puls in die Höhe trieb, nicht ausgedacht zu sein, sondern war wie eine Botschaft, ein fernes Echo, in meinen Geist getreten. Als wollte es mir etwas sagen, mich zu etwas auffordern. Ganz so, als wäre der Umstand, dass dieses Wort nun wie eine Erscheinung, die trauernde Gläubige an einem Berghang heimsucht, in mein Leben getreten war, ein Rätsel, das gelöst werden musste, obwohl es vermutlich keine Lösung gab.

      Im Lehrerzimmer konnte ich mich nicht an meinen Stammplatz setzen, da an dem Tisch mehrere Kollegen ohne Maske saßen und Kaffee tranken und aßen und lachten, als wäre die Seuche etwas, das nur die anderen erwischt. Ich tat daher so, als läse ich die Bekanntmachungen an der Pinnwand, fühlte mich dabei wie ein Fremdkörper, ein Außerirdischer, den es in eine feindselige Welt verschlagen hat, in der er sich tarnen muss, um nicht aufzufallen. Bald wurde mir langweilig und ich ging auf die Toilette.

      Als ich ins Lehrerzimmer zurückkam, saß nur noch ein Kollege an meinem Tisch, einer der netteren, und ich nahm ihm gegenüber Platz und sortierte die Kopien, die ich mir für die nächsten Stunden bereitgelegt hatte.

      »Krompripp!«, murmelte ich leise. »Sagt Ihnen das etwas? Krompripp?«

      »Sollte es das?«, fragte Herr Mählen (Philosophie, Deutsch) und sah von dem Buch auf, in dem er mit einem Textmarker Scheußliches anrichtete.

      »Ich weiß nicht«, gestand ich.

      »Sagt mir nichts. Aber sagt Ihnen das etwas: Atomsemiotik?«

      »Nein«, meinte ich kopfschüttelnd und er erhob sich freudig glucksend, setzte sein Visier auf, während er den Tisch umrundete, nahm – »Darf ich?« – viel zu eng neben mir Platz und wandte mir das Gesicht zu.

      Die Plastikscheibe trennte uns, als ständen wir beide am Fenster, einer im und einer vorm Haus.

      »Atomsemiotik«, begann er zu dozieren (wir Lehrer neigen mit den Jahren immer mehr zum Monologisieren und scheren uns einen Scheiß darum, ob andere das interessiert, was wir enervierend kleinschrittig abspulen). »Man versucht mit Hilfe von Zeichen zukünftige Generationen vor den Gefahren des gelagerten Atommülls zu warnen. Das ist keine leichte Übung. Erstens muss das Zeichen von zukünftigen Generationen als Zeichen verstanden werden. Und zweitens muss das Zeichen als Warnung verstanden werden.« Er griff über den Tisch, angelte ein Blatt Papier von seinem Platz. »Erst nach 100.000 Jahren, schreibt hier ein Robert Gast irgendwo, das habe ich gestern aus dem Internet ausgedruckt, sinkt die Aktivität der eingelagerten Brennstäbe unter den Wert von Natur-Uran, das man zumindest für kurze Zeit mit den Händen anfassen kann.« Er ließ das Blatt sinken und rief aus: »100.000 Jahre! Vor 30.000 Jahren ist der Neandertaler in Europa herumgestolpert. Vor circa 2.000 Jahren gab es Runenschrift, und die kann heutzutage kaum noch jemand lesen. Und Atommüll muss eine Million Jahre sicher abgeschlossen lagern! Schilder sind demnach als Warnung untauglich. Text an sich sowieso. Architektonisches Klimbim – Pyramiden, Tempel oder Stonehenge-ähnliche Monolithen – da vermuten unsere eifrigen Nachfahren dann einen Schatz und fangen sofort mit der Buddelei an.«

      Herr Aurel (Religion, Kunst, Darstellendes Spiel) mischte sich in das Gespräch ein, als hätte er urplötzlich hinter uns Gestalt angenommen: »Bleiben nur die Mythen«, sagte er leise lachend in seiner unangenehm flüsternden Sprechweise. Er war hochgewachsen, dürr und seine Maske saß zu tief. Großporig und fettig glänzend ging seine Nasenspitze mondgleich über dem Horizont des heruntergezogenen Maskenrandes auf, denn er, der geborene Verschwörungstheoretiker, nahm die Bedrohung durch den Virus noch weniger ernst als die übrigen Trottel. Er war sowieso wunderlich. Einmal hatte ich vom Fenster eines Klassenzimmers aus beobachtet, wie er einen Baum am Rande des Schulhofs erst tätschelte, um danach begütigend auf ihn einzureden. »Nehmen wir Frau Holle«, dozierte nun auch er munter drauflos und wippte dabei in der Hüfte vor und zurück wie ein mechanisches Püppchen. »Besagte Madame kennen Sie natürlich aus dem Märchen der Grimmbrüder. Ein Mädchen fällt oder springt in einen Brunnen und erwacht in Frau Holles Welt. Vorbild ist, und das wussten vermutlich auch die Grimms nicht, eine germanische Erd- und Himmelsgöttin namens Hulda oder Perchta. Der Holunder«, er hob einen krummen, gichtigen Zeigefinger, »ist ihre Pflanze. Ja, der Holunderkult geht bis auf Muttergöttinnen der Jungsteinzeit zurück. Im Mythos heißt es, durch den Holunder habe man Zugang zum Reich der Frau Holle. Das findet sich auch im Kinderlied wieder.« Herr Mählen sah mich vielsagend durch die Scheibe an, als Herr Aurel nicht so leise sang, wie es angemessen gewesen wäre (wenn es denn überhaupt angemessen ist, unter Erwachsenen plötzlich ein Kinderlied anzustimmen): »Ringel, Ringel, Reihe, / sind der Kinder dreie / sitzen unterm Hollerbusch, / machen alle husch, husch, husch. Das dreifache ›husch‹ zeigt deutlich, dass man sich, wenn man an Frau Holle glaubte, verstecken musste. Vor wem? Natürlich vor den römischen und später den christlichen Besatzern. Außerdem wird in dem Lied von einem kultischen Tanz gesprochen, die Dreiheit wird erwähnt und selbstredend der Holunder. Wenn man über die Kluft der Zeit zukünftige Suchende darauf hinweisen will, wie man ins Reich der Frau Holle gelangen kann, hilft allein der Mythos. Und den transportiert man am besten durch drastische Geschichten oder die rhythmische Magie von Versen, die von Generation zu Generation tradiert werden, weil sie Kinder und Erwachsene gleichermaßen betören und scheinbar keine Bedeutung haben. Frau Holle, Brunnen, Holunder …«

      »Aha«, sagte Herr Mählen matt.

      »Sagt Ihnen das Wort ›Krompripp‹ etwas?«, fragte ich Herrn Aurel.

      »Nein«, antwortete er eine Spur zu schnell und, wie ich meinte, etwas zu übereifrig, aber da gongte es, und die Pause war zu Ende.

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      Doppelstunde Deutsch, Mittelstufe, Balladen, heute Herder. Einzelstunde Philosophie, Unterstufe, Freundschaft, heute Aristoteles. Vertretungsstunde Oberstufe: »Macht eure Hausaufgaben oder verhaltet euch still, damit ich keinen Ärger bekomme. Und das Fenster bleibt die ganze Zeit offen!«

      Zu Hause zog ich die Thrombosestrümpfe aus, legte mich ins Bett und las vorm Einschlafen vermutlich zum ersten Mal in meinem Leben das Märchen von Frau Holle, das sich als unerwartet kurz erwies. Herr Aurels Gerede mit im Mythos verborgenen Zugängen zum Reich der Frau Holle ließ mir keine Ruhe. Nach dem Mittagsschlaf recherchierte ich deshalb bei Wikipedia. Die Heimat des Märchens sei nicht eindeutig festzustellen, da es mehrere Regionen gebe, wo man behauptete, Frau Holle sei in einem der dortigen Hügel oder Berge zu Hause. Danach werden der Hohe Meißner, die Hörselberge sowie die Orte Hörselberg und Hollerich genannt. An solchen Orten müsste man dann wohl nach einem Brunnen Ausschau halten, dachte ich. Nach einem Brunnen in der Nähe eines Holunderbuschs? Plötzlich wusste ich, wo ich das Wort »Krompribb« zum ersten Mal gehört hatte, und erschrak.

      Frau Doktor Bishorst: Nicht so schnell, bitte! Wir können gleich weiter über dieses merkwürdige Wort reden, das Sie heute über Gebühr beschäftigt, doch eigentlich hatten wir die Vereinbarung getroffen, in der heutigen Sitzung über Ihre Eltern zu sprechen, um die Erkenntnisse aus diesem Gespräch mit der Tatsache in Verbindung zu bringen, weshalb sie nie, Zitat, »Interesse an zwischenmenschlichen Kontakten« gehabt haben.

      Ich: Einverstanden. Ich bin, wie Sie wissen, anfangs bei meinem Vater aufgewachsen. Das war keine schöne Zeit. Entweder hat er mich ignoriert oder wie


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