Macht und Wort. Angela Steinmüller
Wohld, der früh besiedelten fruchtbaren Halbinsel zwischen der Eckernförder Bucht und der Kieler Förde. Der Ort Krompripp befand sich wenige hundert Meter südlich des heutigen Krusendorf (Schwedeneck). Der Ortsname deutet auf eine sehr frühe, vermutlich vorslawische Entstehung hin. 1231 ist erstmals bezeugt, dass der Ort Krompripp als dem verrufenen Kirchenspiel Flidarhöh zugehörig betrachtet wird. Plötzlich und wie üblich ohne Vorwarnung kündigte sich eine meiner üblichen Unpässlichkeiten an (Taubheitsgefühle in Finger- und Zehenspitzen) und ehe ich mir eine Kanne Kräutertee kochte, recherchierte ich noch, einem vagen Impuls folgend, zu Frau Holle (Taubheitsgefühle in Händen und Füßen) und stieß auf Hel, eine altnordische Göttin, die Herrscherin der Unterwelt, Helheim genannt … hell (englisch) … Hölle (deutsch) … taube Arme … Holle … taube Beine … Holunder … Kanne Tee, heißes Schaumbad, Weinkrampf, Bett.
Die nächsten Tage hatte ich mit diversen Problemen zu kämpfen (einige körperlich, andere psychisch) und es begann windig zu werden und die Temperaturen sanken und die Bäume warfen ihre Blätter ab und die plötzlich kahlen Äste verrenkten sich in bedrohlicher Nacktheit vor einem Licht, das schon die tiefe Klarheit des Winters ahnen ließ. Ich schlief viel. Manchmal legte ich mich nach der Schule zu einem Mittagsschlaf hin und stand erst am nächsten Tag wieder auf. Einmal bettete ich mich in einer Freistunde zu einem Nickerchen im Kartenraum der Geographen und erwachte erst am folgenden Tag vom Gong der Großen Pause.
Ich: Er hat mir das Wort »Krompripp« regelrecht eingeimpft.
Frau Doktor Bishorst: Das scheint so. Durch diese Geschichte, die er Ihnen immerzu vorlas. Haben Sie sich deshalb vor einigen Wochen als, ich zitiere Ihre eigenen Worte, »Automaten meines Vaters« bezeichnet?
Ich: Das müssen Sie bitte als Metapher verstehen. Ich musste einkaufen, kochen, die Hausarbeit verrichten, wie einen Sklaven hat er mich behandelt, einen Sklaven, dem er, wenn er seinen Zorn auf alle Welt zügeln konnte, immer wieder die ein und dieselbe Geschichte vorlas. Das bedrückt mich natürlich. Und mich bedrückt, wenn wir gerade dabei sind, der derzeitige Zustand der Welt, dieses Kulissenhafte, das plötzlich überall Einzug hält. Einem Kollegen habe ich gestern gesagt, Schulbetrieb zu Pandemiezeiten sei, als würden die Monty Pythons Camus’ Pest verfilmen, aber er, mein Kollege, kannte die Monty Pythons nicht. Und Camus, so wie der Kollege mich ansah, auch nicht. Im Mythos von Sisyphos heißt es, ich zitiere aus dem Gedächtnis: Alle großen Taten und alle großen Gedanken haben einen lächerlichen Anfang. Ich stehe, was dieses Zitat von Camus mehr als nur perfekt bebildert, im Unterricht, denke mir ein Wort aus, denke mir nur scheinbar ein Wort aus, denn ich kenne es seit meiner Kindheit, kenne es nämlich aus einer Geschichte, mit der mich Vater malträtierte, das Wort, ich kenne es längst, denke es mir demnach nur scheinbar aus, in Wahrheit erinnere ich mich an ein Wort, das es gibt und das sich sogar googlen lässt, um sich als Name einer verschwundenen Siedlung nicht unweit von der Stadt zu erweisen, wo ich lebe. Ich habe im Waisenhaus oft an Krompripp gedacht. Das ist mir gestern in der Badewanne eingefallen. Nicht an das Wort, meine ich, sondern an den Planeten Krompripp, wo ich lieber atemberaubende Abenteuer erlebt hätte, als Nacht für Nacht –
Frau Doktor Bishorst: Sprechen Sie weiter!
Ich: Als Nacht für Nacht – einmal durchqueren die Schatzsucher in den Eingeweiden eines glasigen Schneckenwesens einen Ozean. Und einmal kocht der Schiffskoch Gulasch aus dem Fleisch eines mehrbeinigen Säugetiers und danach ist die ganze Mannschaft dieses Säugetier. »Gut«, sagt der Cheffunker erleichtert, sobald die Mahlzeit endlich verdaut und ausgeschieden ist, »dass ich nun wieder auf zwei Beinen gehen kann und Zweibeinererinnerungen habe und nicht unentwegt daran denken muss, ein sich blökend windendes Hohlstück in ein Gramploch zu zerren, um meine Eier hineinzulegen.« Verlegenes Lachen. Ja, ich kann große Teile der Geschichte auswendig. Darauf könnte ich stolz sein, bin es aber nicht. Mit Gefühlen ist das sowieso so eine Sache, aber darüber haben wir ja schon mehrmals geredet. Ich weiß, wie das Gefühl heißt, das ich haben sollte, kann es also benennen, aber die Fähigkeit, ein Gefühl benennen zu können, ist nun einmal kein echtes Fühlen. Und jetzt ist Schluss. Ich glaube, ich möchte die Behandlung abbrechen. Das führt zu nichts. Brechen wir hier bitte ab. Ich möchte ganz einfach wieder zurück nach Hause.
Wer im Frühling nach Kiel zieht und sich den ganzen Sommer über freut, nun endlich dort zu wohnen, wo andere Leute Urlaub machen, empfindet das Einsetzen des Herbstregens wie eine persönliche Beleidigung, doch wir, die wir hier aufgewachsen sind und natürlich die Ostsee niemals ein Meer nennen würden, registrieren lediglich mit stoischer Ernüchterung, dass es nun zu regnen begonnen hat, um einige Monate lang nicht mehr damit aufzuhören. Im Radio debattierten sie über die Notwendigkeit eines zweiten Lockdowns, ich kaufte ein weiteres Zehnerpack Masken in der Apotheke und fuhr durch eine Szenerie nach Hause (schräg fallender Dauerregen, Menschen mit Masken, fahles Licht, das anscheinend von unten kommt), die an verworren systemkritische, hypnotisch langatmige Ostblock-Science-Fiction-Filme aus den siebziger Jahren gemahnte. Das rhythmische Rucken des Scheibenwischers erinnerte mich an die kultische Bewegung, die in Vaters Geschichte motivisch eingesetzt wird, und diese Erinnerung an ein Wischen oder besser an ein Schaben oder vielmehr Kratzen (Eisflocken rieseln weiß wie Puderzucker und unter dem gewölbten Sichtfenster sieht man den Admiral im Kälteschlaf) ließ einen Plan keimen. Dieser wuchs in Windeseile und trug schließlich, ich parkte den Wagen gerade routiniert unter dem Holzdach des Carports, die Blüte eines Entschlusses, den ich schon viel früher hätte fassen müssen. Doch noch zögerte ich.
Am nächsten Tag meldete ich mich krank, verbrachte den Vormittag im Bett, las – von zwei erholsamen Nickerchen unterbrochen – zum wiederholten Mal meine Lieblingsnovelle von Gene Wolfe und fand sie ein weiteres Mal erheblich besser als bei der vorherigen Lektüre, hatte aber dieses Mal das kribbelnd-juckende, an eingegipste Extremitäten erinnernde Gefühl, der Text versuchte mir unter der pittoresken Oberfläche (»Und während dieser ganzen Zeit sprach der Tote am Steuerrad zu mir«) sowie jenseits der verzwickten Handlung etwas Dringliches mitzuteilen, das, verstünde ich es, mein Leben verändern würde. Gegen drei Uhr nahm ich ein Bad und kochte sodann mit Vergnügen einen Steckrübeneintopf.
Eine Hälfte davon löffelte ich im Sessel vor dem Fernseher (»Schulen und Kitas werden weiter geöffnet bleiben«), die andere Hälfte kam ins Eisfach.
Gegen fünf fuhr ich zur Wüstung Krompripp.
Von Kiel aus nahm ich die B 503, überquerte auf der Hochbrücke Holtenau den Nord-Ostsee-Kanal, kurvte vor mich hinsummend und -pfeifend durch den herbstlichen Dänischen Wohld, verließ die Schnellstraße auf Höhe von Surendorf und bog sogleich scharf links ab in Richtung Krusendorf, um mit andächtiger Ehrfurcht eine malerische Allee zu befahren, die Böcklin nicht hätte besser malen können – rechts von mir die Eckernförder Bucht bisweilen blau aufblitzend über dem Festland, links gepflügte Felder, Weiden mit Jungbullen und Schafen, an einem Tümpel ein Graureiher.
Ich parkte in der Nähe der alten Kirche, einem klobigen Gebäude aus Backstein, dessen Farbe fast identisch mit der Blätterpracht der Bäume auf dem Kirchhof war oder auch dem Pelz des Eichhörnchens, das mit antennengleich aufgerichteten Pinselohren meinen Weg kreuzte, als ich einige Meter die dörfliche Raiffeisen Straße entlangging, ehe von ihr ein namenloses Sträßlein abzweigte, das mich erst über eine kaum befahrene Schnellstraße zu mit niedrigen Zäunen eingefriedeten Äckern, dann durch unbebautes Niemandsland zum Gelände der Wüstung Krompripp führen würde, laut Google Maps einem winzigen Wäldchen zwischen den zur Gemeinde Schwedeneck gehörenden Örtchen Krusendorf und Birkenmoor.
Es nieselte leicht, ich setzte die Wollmütze auf, ein kühler Wind schlug mir von hinten in den Mantelkragen, kühl und beinahe süßlich nach Vanille duftend, die Ostsee. Auf einem Granitblock am Rand des Feldweges hockte ein Habicht und verfolgte mein zügiges Vorübergehen mit einem annähernd mechanischen Drehen des Kopfes. Plötzlich wurde der Weg wieder zur asphaltierten Straße und ich näherte mich einem offenbar militärischen Sperrbezirk: Das winzige Wäldchen, wo ich die Wüstung Krompripp vermutete, umschloss ein bemerkenswert hoher, mit Stacheldraht gekrönter Zaun. Ich verlangsamte den Schritt, sah, dass es kein normaler Stacheldraht war, was auch irritierend gewesen wäre, sondern sogenannter NATO-Klingendraht, was mir Angst einflößte,