Macht und Wort. Angela Steinmüller

Macht und Wort - Angela Steinmüller


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ich die Gedanken noch selbst fassen. Der SC-2.0 unterdrückt lediglich die Äußerung und kommentiert. Würde ich all das aussprechen, was mir durch den Kopf geht, wäre ich verloren.

      Wir fahren in die Station »Dittmanswiesen« ein. Ich sehe zu, dass ich den Waggon verlasse, ohne weiter aufzufallen. Das Gedränge der Menschenmenge hat ihre Vorteile.

      Obwohl der Mai sehr warm ist, fühlt es sich kalt an, als ich nach draußen trete. Es ist, als gefrören die Schweißtropfen auf meiner Haut zu Eis. Ich bin ein Nervenbündel; sich selbst krampfhaft beruhigen zu wollen, klappt selbstverständlich nicht. Ich hatte das niemals nötig. Mein linkes Augenlid zuckt hektisch und es hört einfach nicht auf.

      SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 08:17 Uhr

      Ich schalte den Einkaufswagen über die Shopapp frei. Wenn man am liebsten unsichtbar wäre, bemerkt man erst, wie sehr man im Netz hängt. Gleichgültig, was man tut, man ist auf dem Schirm.

      Jetzt bin ich sicher: Sie beobachten mich. Der Eindruck trügt nicht – es sind die jungen Menschen, die den trüben Blick zeigen. Nun ist »junger Mensch« aus meiner Perspektive sehr relativ. Ich bin mittlerweile ein alter Sack. Nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, ist zwar nicht strafbar, aber man verliert viele Vorteile. Für die meisten ist das ein weiterer, guter Grund, sprachlich nicht aufzufallen. Ich bin da keine Ausnahme.

      Das Fairsell-Lebensmittelzentrum ist geöffnet. Meine Befürchtungen waren unnötig. Ich schäme mich meiner Angst. Was Einbildung alles auslösen kann.

      Ich belüge mich selbst und versuche mir einzureden, dass das nächste Update sicher bald kommen wird.

      Ich kaufe mehr ein, als ich ursprünglich vorhatte. Ich kompensiere, das ist mir klar, aber der Drang ist überwältigend. Immerhin muss ich mir hier keine Gedanken um die Qualität der Produkte machen. Fairsell garantiert höchste ethische Standards. Dennoch könnte die schiere Menge Anstoß erregen. Konsumismus gilt als überholt, ja überwunden. Unser Land ist progressiv, gleichgültig, ob man Schritt halten kann.

      Der Zweifel wächst, es fühlt sich nicht fortschrittlich an, sondern einengend. Mir wird übel. Hoffentlich kotze ich dem Fairsell nicht vor die Tür. Derart unsoziales Verhalten bedeutet heftigen Punktabzug im LifeAccount. Das kann ich in meiner Situation ganz und gar nicht brauchen.

      SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 08:26 Uhr

      Es ist eine Tortur. Ich höre die anderen sprechen. Da dies mein bevorzugtes Fairsell ist, kennen mich viele. Ich versuche krampfhaft, allen Gesprächen aus dem Weg zu gehen. Der mLector arbeitet ohne Unterlass, denn die Neigung, auf Fragen oder direkte Ansprache zu antworten, ist stark. Es ist so anstrengend, still zu bleiben. Mein Kopf droht zu platzen. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte.

      Die jungen Fischaugen reagieren kaum, das bin ich gewohnt. Ich beeile mich so gut ich kann und alles ähnelt sehr einer Flucht.

      Das ist es letztendlich auch. Ich will zurück in meine Zelle.

      SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 08:55 Uhr

      Kaum habe ich das Fairsell verlassen, werde ich angehalten. Die beiden androgynen Gestalten packen mich und schieben mich nachdrücklich in einen Wagen, der ebenso nichtssagend aussieht, wie sie selbst. Unauffälligkeit scheint sich als gesellschaftliches Optimum endgültig durchgesetzt zu haben. Ich erinnere mich daran, dass es früher anders war. Ebenfalls erinnere ich mich daran, dass mich vor endlosen Jahren jemand fragte, wie ein Kollektiv, das schließlich nach simpelster Gruppendynamik funktioniert, also grundsätzlich primitiv ist, jemals progressiv sein könne. War das Paul? Die Frage kam mir damals ziemlich ketzerisch vor, fragwürdig. Was für ein Widerspruch. Die Ironie ist kaum auszuhalten.

      An die Antwort erinnere ich mich nicht mehr. Ich habe zu lange korrekt gedacht … Damals, in den ersten Tagen von Scissors war die Gesellschaft noch ein korrekt-inkorrekter Flickenteppich.

      Ich frage, wohin sie mich bringen.

      Eine Antwort erhalte ich nicht.

       Center for Speech Control. Sprechwart G. Herlinger: Bericht über SCS-Abonnent 85.396.448, Eigenname Schlesinger, Rudolf

      Der ehemalige Abonnent sitzt im Warteraum und ist sichtlich verwirrt. Das ist naheliegend und immer so. Wie all die anderen Altabonnenten hat er die Beendigung der Unterstützung für Scissors 2.0 nicht gut verkraftet. Die gemessenen medizinischen Werte zeigen den typischen erhöhten Adrenalinpegel, ausgelöst durch die Unsicherheit.

      Bei vielen kam es zu nervösen Beschwerden aller Art, sogar zu ausgeprägten Neurosen. Im Gegensatz dazu hält er sich dann wieder gut. Er zeigte keine aggressiven Ausbrüche. Nicht nach außen, nicht gegen sich selbst. Ganz im Gegenteil zieht er sich wohl immer mehr in sich zurück. Dadurch ist er gut handhabbar.

      Scissors 2.0 ist überholt. Aber es hat gedauert, bis die Implementierung der Version 4.0 eine gewisse Abdeckung erreicht hatte. Die Jungen haben wir im Griff. Scissors 4.0 greift zu einem viel früheren Zeitpunkt in die neuronalen Prozesse ein. Die alte Version korrigierte die Formulierungen und die Wortwahl direkt vor der Artikulation. Die Nutzer denken frei, werden dann aber auf den rechten, sprachlichen Pfad gebracht. Das wirkte häufig unbeholfen und der Sprachfluss zeigte Unterbrechungen und Verzögerungen. Die Chinesen haben bei der Entwicklung gute Vorarbeit geleistet.

      Der Abonnent, der auf den Namen Schlesinger, Rudolf hört, legt den Kopf auf die Hände und Unterarme, auf die Tischplatte. Er ist erschöpft. Die Alten sind auf die Version 4.0 nicht mehr upgradefähig. Sie denken, obwohl sich vieles abgeschliffen hat im Laufe der Jahre, im Wesentlichen noch selbstständig. Das ist zur Konzeption von Scissors 4.0 nicht kompatibel. Eine nachträgliche Kontrolle von Formulierung und Wortschatz ist nicht mehr nötig, aber die beiden Hardwaretypen sind nicht kombinierbar. Scissors 2.0 ist ein Auslaufmodell.

      Der Charakter, das Bewusstsein, entsteht neben den normalen, biologisch vorgegebenen Dispositionen und Determinanten, aus jeder einzelnen, und sei sie noch so kleinen Erfahrung. Das ist per se nicht kontrollierbar, also setzen wir früher an.

      Bei der unmittelbar postnatalen Implementierung von Scissors 4.0 werden die synthetischen Neuronalverbindungen direkt in den Gyrus temporalis medius eingearbeitet. Dort findet die wortsemantische Verarbeitung statt und die Bedeutung der einzelnen Wörter wird geregelt. Die Verschaltung mit den anderen Sprachzentren, wie dem Broca-Areal oder den Wernicke-Zentren war ein schwer zu lösendes Problem, das in den Tagen der Entwicklung dazu führte, dass bei vielen Probanden kein taugliches Welt- und Körperbild entstand. Sie liegen noch heute im Wachkoma; wo gehobelt wird, fallen Späne. Erst seit Scissors 4.0 ist es möglich, die Schnittstellen dauerhaft online zu halten, ohne dass es negative Auswirkungen auf die Probanden hatte.

      Scissors 3.0 war ein Fehlschlag, aus dem wir gelernt haben. Aber diese Schwierigkeiten sind überwunden. Scissors 4.0 interveniert bereits vor und während der Wortfindung und verhindert falsche Begriffe. Die Aktualisierung des Compendiums findet auf andere Weise statt als beim älteren Modell. Da nun die nötige Durchdringung der Bevölkerung erreicht ist, waren die 2.0-Upgrades unnötiger Aufwand. Deshalb wurde die Unterstützung eingestellt. Eine simple Kosten-Nutzen-Analyse gab den Ausschlag.

      Um Panikreaktionen der Betroffenen zu verhindern, sammeln wir sie ein und bringen sie geschützt und isoliert unter. Es betrifft im Wesentlichen die älteren Jahrgänge, und so wird sich das Problem früher oder später auf ganz natürliche Weise erledigen.

      Nur wer korrekt denkt, spricht auch so. Sprache formt die Realität.

      Bei Scissors 2.0 gab es zu Beginn den Vorwurf, wir zwängen den Menschen Gedanken auf. Von Nötigung war die Rede. Die neue Version macht den Vorwurf obsolet. Die Gedanken entstehen von selbst, das Gehirn kommt auf die richtige Lösung; mit etwas Hilfe, aber von selbst. In den Sprechzentren entstehen nur noch erwünschte Begriffe.

      Das


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