Macht und Wort. Angela Steinmüller
ein rotes Hemd, kein weißes. In dieser Nacht schlief er schlecht, denn der nächste Tag sollte ihn seinem Traum näherbringen, für die Wahrheit zu kämpfen und die Sprache zu behüten.
Seine rebellische Jugendphase endete abrupt, als er von den Erziehern erwischt wurde. Tränen und Stockhiebe waren die Folge. Danach hatte er nicht einmal seine Lust herausgestöhnt, wenn er – längst erwachsen – mit einer Frau geschlafen hatte. Er blieb stumm, bis zu diesem Tag.
Am Morgen stand vor dem Haus ein Auto, das ihn fahrerlos zum eingegebenen Ziel fuhr. Er nahm auf der Rückbank Platz, schnallte sich an und wartete darauf, dass sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. Nichts geschah.
Auf dem im vorderen Bereich montierten Monitor zeigte sich ein Guten-Morgen-Gruß, gefolgt von: »Ich warte auf deinen Befehl!«
Bo beugte sich nach vorne und klickte auf den Bildschirm. Der Wagen bewegte sich nicht. Seinen Mut zusammennehmend, denn einen Fehler durfte er sich nicht leisten, flüsterte Bo: »Losfahren.«
Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Seine Stimme klang heiser, was Bo dem gestrigen Schreien zuordnete – seine Stimmbänder waren ungeübt. Das würde sich ändern.
Ab sofort erhielt Bo Privilegien, die ihn von den Untergebenen abgrenzten. Die laufenden Kosten seines Hauses und seines Lebens übernahm die Stadtverwaltung. Rechnungen existierten für ihn nicht mehr, seine Einkäufe waren ab sofort frei. Er gehörte zu den Großen, den Machtvollen – fast. Solange er noch ein rotes Hemd trug, stand er eine Etage unter den Männern und Frauen, die ihn für seine Einstellung dem Demutstest unterzogen hatten. Nach Rot kam Weiß, doch Bo visierte das schwarze Hemd an, das nur eine Person tragen durfte: Der Oberste.
Das Auto brachte ihn zu einem Hintereingang, den er bisher nicht kannte. Davor standen zwei Männer, die sich unterhielten. Ein seltenes Bild, an das sich Bo erst gewöhnen musste.
Er stieg aus, nickte den beiden Männern zu und schritt auf die Tür zu. Sie trugen rote Hemden, wie er. Bo war der Neue, er würde kein Gespräch beginnen.
Hinter der Tür erwartete ihn ein Android, der ihn freundlich begrüßte. »Guten Morgen, Bo! Ich führe dich an deinen Arbeitsplatz!«
Der Android bewegte sich steif. Bo folgte ihm bis zu einem kleinen Büro. An der Seite der Tür hing sein Namensschild. Sein Herz hüpfte. Er hatte es geschafft!
Zwei Jahre später.
Bo knöpfte das schwarze Hemd zu und betrachtete sein Spiegelbild, im Hintergrund sah er die junge Frau auf dem Bett, die ihn mit großen Augen ansah. Bo wandte den Blick ab. Er verließ sie, ohne ein Wort. Das Auto wartete vor der Tür, er ließ es stehen und ging zu Fuß, der Wagen folgte ihm geräuschlos.
Seine Karriere war steil nach oben gegangen. Nach nur wenigen Monaten hatte er den Sprung in die obere Liga geschafft. Inzwischen war er der Oberste der Machtvollen, gewählt von den Untergebenen, die seine Konsequenz und seine scharfen Worte feierten. Im Laufe der letzten zwei Jahre hatte er viele Menschen auf die Treppe und in die Fabriken geschickt. Seine Worte waren Gesetz. Warum fühlte er sich in letzter Zeit machtlos? Er hatte alles erreicht, was er sich je gewünscht hatte. Nur Glück spürte er nicht.
Eine Stimme flüsterte in seinem Kopf, die rebellische Stimme aus vergangenen Tagen. Er verbannte sie. Sprechen war mit den Machtvollen nicht erlaubt.
Er ging durch die Straßen, vorbei an Untergebenen, die einen Bogen um ihn schlugen. Keine Stimmen, kein Flüstern, nur die Schritte von leisen Sohlen über Asphalt.
Sein Spaziergang führte ihn zum Wald, das Auto parkte und wartete auf Bos Rückkehr. Erste Knospen zeigten sich an den Bäumen, die Luft roch nach Harz und Moos. Er wählte einen Weg, den er zuletzt in seiner Kindheit eingeschlagen hatte, um all die wunderbaren Wörter aufzusagen und Geschichten zu schreiben. Was damals ein Verbrechen gewesen war und ihm Schläge eingebracht hatte, war heute für ihn die normalste Sache der Welt. Mit dem Unterschied, dass ihm die Freude an der Sprache vergangen war. Der Eingang der Bärenhöhle lag versteckt hinter einem Gebüsch.
Er bückte sich, um die Höhle zu betreten. Innen konnte er aufrecht stehen, stieß sich aber zweimal den Kopf. In seiner Erinnerung war die Höhle höher und größer. Hinter der nächsten Ecke lag der Platz, an dem er selbstausgesprochene Worte jungfräulich in seinen Ohren vernommen hatte, nie so laut, dass sie von den Wänden zurückhallten.
Der Platz war besetzt.
Im Schein von zwei Taschenlampen, auf dem Stein, der auch Bo als Stuhl gedient hatte, saß ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt. In den Händen hielt sie ein Buch, Bos Geschichtensammlung, die er zurückgelassen hatte, nachdem ein Erzieher ihn aus der Höhle gezogen und bestraft hatte. Sie las laut. Ihre Stimme zitterte leicht, klang hell und klar.
Es war einmal ein junger Mann, der in einem Land lebte, ähnlich dem unseren. Es war das Land der Dichter und Denker, der Schriftsteller und Redner.
Die Menschen lauschten den Geschichten und Gedichten, sie sprachen miteinander in respektvollem Ton und spürten eine innige Verbundenheit, die durch Worte verstärkt wurde. Sprache vermittelte Güte und Vertrauen.
Der Junge mit dem Namen Bo, der in diesem Land lebte, liebte den Klang der Worte. Er hegte den Wunsch, Schriftsteller zu werden, dafür las er viele Bücher, die ihn den Rhythmus der Sprache lehrten.
Bo lauschte dem Mädchen, sein Herz klopfte schneller. Er lächelte. Er war dieser Junge. Aber er hatte vergessen, was Worte in ihm auslösten. Glück. Er hatte sie die letzten Jahre falsch angewendet und nur Unglück damit bewirkt.
Sein rechtes Bein verkrampfte sich und er musste das Gewicht verlagern, dabei stieß er gegen ein paar Steine, die zur Seite kullerten. Das Mädchen drehte sich erschrocken zu ihm um und sprang auf, sie drückte das Buch an ihre Brust und schüttelte den Kopf.
Nimm es mir nicht weg, wollte sie damit sagen. Bitte, nicht auf die Treppe, flehten ihre Blicke.
»Es ist okay«, sagte Bo. »Dein Geheimnis ist bei mir sicher.« Er ahnte, wie verrückt das aus seinem Mund klingen musste.
Bo ging auf sie zu, setzte sich auf einen anderen Stein und hielt seine rechte Hand hin, sie gab ihm das Buch.
Er schlug die ersten Seiten auf und lachte. Seine Handschrift war miserabel. Heute brauchte er nicht mehr schreiben, er diktierte.
Das Mädchen starrte ihn ängstlich an.
»Wie heißt du?«
Sie antwortete nicht. Natürlich nicht. Er war ein Machtvoller, der Oberste.
»Ich bin Bo.«
Ihre Augen weiteten sich.
Er nickte. »Ja, der Bo aus dem Buch. Es ist mein Buch. Als ich so jung war wie du, kam ich auch hierher, bis ich …«
Bo verstummte.
Erwischt wurde, beendete er seinen Satz stumm.
Dieses Regime, das er selbst verkörperte, hatte ihm die Freude an der Sprache geraubt. Er hatte nicht geahnt, welches Verbrechen er damit an den Kindern, der Menschheit und sich selbst verübt hatte. Bo hatte die Gesetze nie infrage gestellt. Er hatte es nicht besser gewusst.
Nach diesem Tag trafen sie sich einmal in der Woche, den gesamten Sommer lang. Mias Phantasie brachte Bo zum Staunen. Sie schrieben zusammen Geschichten und lasen sich gegenseitig vor – Bo, der das Glück fand, und Mia, die es ihm mit ihren Ideen schenkte. Wie Vater und Tochter, Lehrer und Schülerin. Ein stummes Vertrauen, das sie durch Worte und Taten aufbauten.
Jedes Mal verließ Bo das geheime Versteck mit einem Glücksgefühl, das mit jedem Schritt in Richtung Wagen verschwand. Sobald er saß, war nichts davon übrig. Dann war er wieder der erbarmungslose Bo – der Oberste, der das Reden nur den Machtvollen erlaubte. Er verdrängte den Gesetzesbruch,