Macht und Wort. Angela Steinmüller

Macht und Wort - Angela Steinmüller


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regte.

      Eines Tages, die Blätter an den Bäumen färbten sich bunt, verspätete sich Bo. Unter seinem Mantel versteckte er ein Buch, das er aus der geheimen Bibliothek gestohlen hatte. Nur der Oberste und zwei seiner Untergebenen wussten von der Bibliothek. Ihr Zugang führte unter das Rathaus. Bo hatte sie das erste Mal betreten, nachdem er Mia kennengelernt hatte. Vorher hatte er dazu keinen Anlass gesehen. Eine Mitnahme der Bücher war nicht erlaubt. An den Tagen, an denen er Mia traf, widersetzte er sich dem Gesetz, das er sein Leben lang mit Überzeugung vertreten hatte. Das Mädchen hatte ihn verändert.

      Das Buch war sehr alt und enthielt Märchen der Gebrüder Grimm. Er freute sich darauf, mit Mia in die Geschichten aus der uralten Zeit abzutauchen. Er eilte über den von Laub bedeckten Boden. Aus der Ferne erkannte er, dass die Lesestunde ausfiel. Er stoppte kurz, versteckte das Buch unter einem umgestürzten Baum. Dann rannte er weiter. Mia lehnte an dem Stamm einer Buche, ein Erzieher hob die Hand mit einem Stock. Bos Herz zerbrach in dem Moment, als der Erzieher den Stock auf Mias schmalen Rücken sausen ließ. Nichts hatte ihm jemals solche Schmerzen zugefügt wie Mias stumme Schreie. »Stopp!« Bo war der Oberste, er stand über dem Erzieher, der sofort von Mia abließ und ein paar Schritte zurückging, den Kopf gesenkt.

      »Ich kümmere mich persönlich darum.« Er nahm Mia bei der Hand, zog sie mit sich. Beim Vorübergehen bückte er sich und holte das Buch unter dem Baumstamm hervor, schob es unter den Mantel, in seinen Hosenbund. Gemeinsam verließen sie den Wald und stiegen in den Wagen, der am Rand auf ihn gewartet hatte.

      Er legte einen Finger auf die Lippen. Kein Wort. Die Mikrofone im Auto nahmen jeden Ton auf. Außerhalb der Höhle galten Gesetze, die Bo vertrat und zu ihrem gemeinsamen Schutz aufrechterhalten musste.

      In seiner Wohnung durfte Mia sprechen, doch das Kind war verschreckt, sie weinte leise. Bo wusste, wie sie sich fühlte. Aus seiner Hausapotheke holte er eine schmerzlindernde Salbe und bat Mia, ihr Shirt hochzuziehen. Ein rotblauer Striemen zeigte sich quer über dem Rücken.

      »Ich bin vorsichtig, versprochen.« Sanft schmierte er die Salbe auf die Verletzung und dachte an die seinen. Die Schläge kamen im Sekundentakt, zehnmal. Danach hatte er geblutet und mehrere Wochen nicht auf dem Rücken liegen können. Die Narben waren noch heute sichtbar. Er schüttelte den Kopf, wie hatte er das unterstützen können, all die Jahre? Wie viele Kinder mochten diesen Schmerzen ausgesetzt gewesen sein?

      Das musste enden! Aber wie sollte er ein hundert Jahre altes Gesetz kippen? Allein?

      Bo richtete Mia ein kleines Zimmer ein, in das sie sich zurückziehen und für sich sein konnte. Er freute sich nach der Arbeit über ihre Gesellschaft. Jeden Tag brachte er ein neues Buch aus der geheimen Bibliothek mit. Mehr und mehr wurde ihm bewusst, in welcher Gefahr er schwebte und gleichzeitig, wie glücklich er mit der Veränderung in seinem Leben war. Wenn jemand herausbekam, dass er Mia bei sich versteckte, verlor er alles, wofür er in jungen Jahren geschwiegen hatte. Dann war er gezwungen, seinen Anzug gegen einen Overall zu tauschen, den er in den Fabriken tragen musste. Auto, Haus und alle Privilegien wären mit einem Schlag verschwunden. Verlustangst war ein vernichtendes Gefühl, mit dem das Regime die Machtvollen unter Druck setzte. Diese Erleuchtung brachte Helligkeit in seine Gedanken, die von Machtbesessenheit und Narzissmus gelenkt gewesen waren.

      Bo wollte versuchen, die Untergebenen des Rathauses in eine neue politische Richtung einzuweisen. Es wurde Zeit für seine innere Stimme, die neu geborene Rebellion. Alle Untergebenen sollten spüren dürfen, welch fabelhaften Gefühle, Worte auszulösen vermochten.

      Vorher musste er Mia an einen sicheren Ort bringen, den er in ihrer Herkunft zu finden glaubte. Er fuhr allein, an einem sonnigen Herbsttag. Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras, am Wegesrand wuchsen wilde Blumen.

      Mias Eltern wohnten am Rande der Stadt auf einem der Selbstversorgerhöfe, hielten ein paar Kühe und Schafe, bauten Gemüse und Obst selbst an. Als Mias Mutter Bo erkannte, nahm sie das letzte von fünf verbliebenen Kindern auf den Arm und rannte weg.

      »Nein, warte. Ich komme von Mia.«

      Die Frau blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Bo ging schnell auf sie zu. »Bitte, bleib. Ich weiß, wer ich bin und was ich getan habe. Mia lebt bei mir. Es geht ihr gut. Ich habe sie versteckt. Das klingt alles verwirrend aus meinem Mund. Ich kann sie zu dir bringen. Für immer. Aber wir müssen aufpassen. Wenn jemand herausbekommt, dass sie zu Hause ist, dass ich sie nicht in die Fabrik gegeben, sondern versteckt habe, sind wir alle verloren.«

      Seine Offenheit könnte ihn ans Messer liefern. Doch in den Augen der Frau erkannte Bo den Schmerz einer Mutter, die ihre Kinder in die Obhut des Staates geben musste. Sie schwieg und weinte stille Tränen der Hoffnung.

      »Ich bringe sie heute Nacht.«

      Bo hielt Wort. Er brachte Mia zu seinen Eltern zurück. Den elften Geburtstag durfte sie wieder in ihrer Familie feiern. Mia ging ein bisschen schüchtern auf ihre Mutter zu, doch die lief ihr entgegen, fiel auf die Knie und drückte ihr verlorenes Kind an sich.

      Bo wischte sich über die Augen. Wann hatte er das letzte Mal geweint? Er wandte sich ab, doch Mia rief ihn zurück. »Besuchst du mich? Wir müssen die Geschichte noch beenden.« Sie sah ihn mit großen, neugierigen Augen an. Ihre Zukunft war ungewiss. Er nickte, setzte sich auf das Fahrrad und fuhr los.

      Nach wenigen Metern stoppte eine Gruppe Rebellen Bos Fahrt. Sein Herz schlug schneller.

      Die Rebellen feierten am Randgebiet sprachfreudige Partys mit Musik aus alten Zeiten. Sie hielten sich nicht an das Gesetz. Viele von ihnen steckten in den Fabriken fest. Diese sechs Männer und vier Frauen hatten sich der Festnahme bisher widersetzt.

      »Wir haben gesehen, was du gemacht hast.«

      Ohne Furcht vor einer Strafe sprach der Anführer Bo an.

      »Warum?«, fragte der Mann.

      »Mir fehlt das Glück der Worte.«

      In dieser Nacht fuhr Bo nicht nach Hause, er setzte sich mit den Männern und Frauen zusammen und hörte ihnen zu. Sie hatten keine Skrupel, offen mit ihm zu sprechen, was ihm auf der einen Seite imponierte, auf der anderen ärgerte. Bo hatte für den Erhalt und die exakte Verwendung der Sprache gelebt. Er war der Oberste, dafür hatte er viel gegeben. Und doch begrüßte er die offene Art der Rebellen, die mit ihm respektvoll, aber nicht verängstigt sprachen. Er steckte in einem verwirrenden Zwiespalt.

      So viele Worte an einem Abend hatte Bo noch nie in seinem Leben gewechselt. Als die Sonne aufging, fühlte er sich worttrunken.

      Am nächsten Tag teilte Bo den zehn Untergebenen mit, dass er an dem bevorstehenden Bewerbungsverfahren teilnehmen würde. Diese Ankündigung überraschte, Bo war seit seinem eigenen Einstellungsgespräch nicht mehr anwesend gewesen.

      Die Machtvollen saßen auf ihren Plätzen, der Bewerber wartete, als Bo den Raum betrat.

      »Guten Morgen!«, sagte Bo und schritt einmal quer durch den Raum, um sich einen Stuhl zu holen, der auf einem zusammengestellten Stapel am Rand stand. Bo setzte sich neben den Mann. Seine Untergebenen wechselten überraschte Blicke, sagten aber kein Wort.

      Der Bewerber war nervös, seine Ohren glühten rot und er zitterte leicht.

      »Wir können offen reden. Du bist Stan?«

      Der Mann nickte.

      »Ich meine das genauso. Ab jetzt darfst du sprechen. Ich erlaube es dir.«

      Der älteste Machtvolle öffnete den Mund, doch Bo schnitt ihm mit einem Fingerzeig das Wort ab.

      Nach dem Gespräch verabschiedete sich Stan mit einem Satz, den Bo nicht vergessen würde. »Danke, das Gespräch hat mich süchtig gemacht.«

      »Wir sehen uns morgen«, sagte Bo.

      Stan verließ den Saal, Bo blieb noch einen Moment sitzen und wandte sich an seine Untergebenen.

      »Ich weiß, dass ihr mit diesem Vorgehen nicht einverstanden seid. Mein Auftreten hier hat mehrere Gründe.«

      Bo


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