Kamikaze Mozart. Daniel de Roulet

Kamikaze Mozart - Daniel de Roulet


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geht weiter, er hinterher. Während sie von den Anfängen des Nationalsozialismus am Berliner Institut erzählt, zieht ein riesiger Eisbrecher am Horizont entlang. Unheimliches Krachen des aufgeschlitzten Meeres. Lise bleibt stehen, um sich das Schauspiel anzusehen. Er nutzt die Gelegenheit, um wieder zu Atem zu kommen. Eine wahre Opernkulisse. Die bläuliche Masse eines überdimensionalen Schiffs, gefolgt von mehreren in seinem Kielwasser fahrenden Fischerbooten. Er fragt Lise, warum sie so lange in Deutschland geblieben sei.

      Weil die Politik sie weniger interessiert habe, sagt sie, als die Radioaktivität. Unverhoffte Perspektiven hätten sich ihr eröffnet. Nach und nach seien ihre früheren Annahmen über die Existenz von Elementarteilchen gebröckelt. Ihrem Kollegen Otto Hahn schlägt sie vor, Uran mit Neutronen zu bombardieren, eine Eingebung, deren Resultat beide überrascht. Sie staunen über das, was sie ausgelöst haben, verirren sich in den Mäandern der Chemie, sogar der Alchemie. Der Anschluss Österreichs macht Lises Ausreise unumgänglich. Sie flieht erst nach Dänemark, dann nach Schweden. Dieses Land hat soeben fünfhundert jüdische Kinder aufgenommen, da wird es auch einer alten Dame Zuflucht gewähren. Aus der Ferne entwickelt sie weitere Hypothesen zu den durchgeführten Experimenten. Otto schreibt ihr lange Briefe, in denen er von den Aktivitäten im Labor berichtet, schildert die Ratlosigkeit der Forscher angesichts der neuen Ergebnisse. Der Beschuss von Uran setzt nicht nur Radioaktivität frei, sondern auch unvermutete Gase. Lise fragt sich, wo der Fehler liegen mag.

      Täglich sucht sie nach einem Begriff, mit dem sich das Phänomen besser beschreiben ließe. In der Biologie bezeichne man so etwas als Spaltung, sagt sie und macht Wolfgang auf den Klang des Wortes aufmerksam. Mitten im Djurgården bleibt sie stehen und wiederholt:

      «Spaltung.»

      Wolfgang ermisst die Kraft ihrer Intuition: Der Beschuss des Kerns führt dazu, dass er zerbricht. So werden große Entdeckungen gemacht. Das spürt er, während Lise spricht. Im Bann dieser kleinen Frau, die ihm den Weg weist, folgt er ihr, wiederholt das Wort Spaltung. Als genügte es, das Phänomen zu benennen, um es zu beherrschen. Noch heute Abend werde sie an Otto Hahn schreiben, sagt sie, beschleunigt ihren Schritt, will den Djurgården verlassen.

      Sie kehren zurück ins Hotel, lassen sich in der großen Eingangshalle, wo im Kamin ein Feuer brennt, in die Sessel sinken. Er macht ihr zaghaft den Hof. Lise lächelt, aber über die Eleganz der Wissenschaft. Er wagt es nicht, ihr zu sagen, was er empfindet. Mit den Frauen ist er nicht so geschickt wie mit den Atomen. Er findet Lise aufregender als all die großen Schwedinnen, die mit ihren wippenden hellblonden Zöpfen im Schnee spielen. Der kleine Schuss hochprozentigen Alkohols im Tee steigt ihm zu Kopf. Sie schaut ihn zärtlich an, nimmt ihre schwarze Brille ab, fragt ihn, wie er sich entscheiden würde zwischen Wissenschaft und Musik.

      «Eindeutig für die Wissenschaft.»

      Sie glaubt ihm nicht, sagt, er sei ein schlechter Lügner, nimmt ihn nicht besonders ernst. Einmal wirft sie den Kopf zurück.

      «Sie sind entzückend, Wolfgang.»

      Von diesem Augenblick an redet er sich ein, sie könnte seine zweite Freundin werden. Trotz des Alkohols aber hat er nicht den Mut, einer Frau, die älter ist als seine Mutter, eine Liebeserklärung zu machen. Behutsam ergreift er die Hand, die sie ihm reicht, verbeugt sich nach preußischer Manier. Lises Finger sind warm geworden und die Flecken verschwunden. Es steckte also kein Laborunfall dahinter. Auch nicht das Alter.

      Sie verabschiedet sich mit wohlwollendem Lächeln. Trotz des Angebots aus Zürich wird sie Schweden nicht verlassen.

      «Und Sie, Wolfgang, was für Pläne haben Sie?»

      Da er nächste Woche nach Berkeley fahren wird, zu Oppenheimer, wünscht sie ihm viel Glück bei diesem brillanten Marxisten.

      8

      Berkeley

      Februar 1939. Wolfgang überquert den Atlantik und den nordamerikanischen Kontinent. Professor Scherrer hat ihn vorbereitet: «Robert Oppenheimer ist ein toller Bursche, Sie werden sehen.» Und um ihn im Spektrum menschlicher Typen einzuordnen, hat er gesagt: «185 Zentimeter und 51 Kilo, 34 Jahre, Professor für theoretische Physik in Berkeley und am Caltech.»

      Am Tag seiner Ankunft stellt Wolfgang sich bei Oppenheimers Sekretärin vor. Berkeleys Wiesen blühen in der Sonne, die Luft ist mild, die Mammutbäume sind riesig. Er spürt, dass er Kalifornien mögen wird. Die junge Frau, die sein Einführungsschreiben entgegennimmt, verschwindet im Nebenraum. Der Professor empfängt seinen Gast auf europäische Art mit einem kräftigen Händedruck und einer angedeuteten Umarmung. Als er Wolfgangs leichten Akzent hört, stellt er seine Fragen in perfektem Französisch. Er nimmt einen Stapel Papiere von einem Stuhl, bittet ihn, sich zu setzen, bleibt selbst aber stehen, unruhig. Er ist so mager, dass man das Gefühl hat, ihn im Profil zu sehen. Mit seinen unterschiedlich hohen Schultern wirkt er etwas schief gebaut. Sein Haar ist leicht gelockt, eher gewellt. Am stärksten aber fällt das intensive Blau seiner Augen auf und die in seinem Lächeln lauernde Ironie.

      Sie unterhalten sich über Lise Meitner. Oppenheimer kennt Hahns Artikel über den Beschuss von Uran mit Neutronen.Wolfgang berichtet ihm von ihrem Gespräch in Stockholm. Es sei Lise Meitner gewesen, die den Begriff Spaltung erfunden und am Weihnachtsabend an Hahn geschrieben habe.

      Oppenheimer zufolge hat ihr Briefpartner die Entdeckung umgehend veröffentlicht, und zwar unter seinem Namen. Meitner habe er nicht als Mitautorin des Artikels angeben können, da sie als Jüdin im Exil lebe. Seit einigen Tagen sei der Text sogar in Japan bekannt. In den Vereinigten Staaten habe er eine geradezu kopernikanische Revolution ausgelöst. Einstein soll dem Präsidenten der Vereinigten Staaten geschrieben und von einer neuen Möglichkeit berichtet haben, eine Bombe von unerhörter Sprengkraft zu bauen. Kernspaltung.

      Zunächst habe er Zweifel an dieser Hypothese gehabt, sagt Oppenheimer, ja, Zweifel, wie Descartes, fruchtbare Zweifel. Doch nachdem er das Experiment in seinem Labor wiederholt habe, sei er zu einem glühenden Anhänger der Kernspaltung geworden. Voller Enthusiasmus wandert er in seinem Büro auf und ab. Auf jedem Tisch, jedem Stuhl stapeln sich Unterlagen, aufgeschlagene Bücher, offene Ordner. Auch an den über und über mit Blättern behängten Wänden ist kein Fleckchen mehr frei. In einem Regal entdeckt Wolfgang französische Romane, Aragon, Claudel, Martin du Gard. Auf Deutsch die dicken Bände von Marx’ Kapital. Auf Englisch John Steinbeck. An einer verschmierten Wandtafel stehen die abschließenden Berechnungen des Meisters über die Wirkung der Kernspaltung. Der Faktor zehn hoch sechs steht für das Verhältnis von Dynamit und Uran. Die Gleichung ist mit gelber Kreide doppelt unterstrichen. Ein Wert, der noch genauer zu berechnen wäre, nicht wahr? Für den Anfang wäre das eine interessante Sache, die er Wolfgang anvertrauen könnte.

      «Was sagen Sie dazu, Steinamhirsch?»

      Oppenheimer fügt der Aufgabe einige Arbeitsanweisungen hinzu. Er will nicht Herr Professor, sondern Oppie genannt werden. Jeden Freitag erwartet er ihn zum Mittagessen in seiner auf einem Hügel gelegenen Villa, zum Treffen der Professoren, Assistenten und Gastwissenschaftler. Man soll ihn ruhig so oft stören wie nötig, ohne Furcht vor seiner Sekretärin.

      Wolfgang ist angetan von diesem neuen Arbeitsstil, der sich völlig von den preußischen Sitten an der Zürcher Hochschule unterscheidet. Auf väterliche und zugleich zwanglose Art nimmt Oppie ihn beim Arm, um ihn mit seinen anderen Assistenten bekannt zu machen. Jedem einzelnen stellt er ihn als den Mann vor, der kürzlich Lise Meitner begegnet ist. Und fügt hinzu: «Die Frau, der wir die Kernspaltung verdanken.»

      Ein sympathisches Team. Alle bewundern Oppie und scheuen sich nicht, ihm zu widersprechen, wenn er sich bei Einzelheiten ihrer Biografie irrt. Unter einem Mammutbaum draußen im Park, neben dem Gebäude für theoretische Physik, schildert Oppie seinem neuen Assistenten nun auch seinen eigenen Lebenslauf.

      Er stammt aus einer jüdischen Familie. Am Ende des 19. Jahrhunderts kam sein Vater aus Deutschland in die Vereinigten Staaten und machte mit dem Verkauf von Futtermaterial für Bekleidungen ein Vermögen. Oppie studiert in Harvard und Cambridge, schreibt anschließend in Göttingen seine Dissertation über die Quantentheorie kontinuierlicher Spektren. Er liebt Frankreich, hat Freunde in England, schwärmt von Korsika, spricht Holländisch, hat die spanischen Republikaner gegen die Faschisten


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