Kamikaze Mozart. Daniel de Roulet

Kamikaze Mozart - Daniel de Roulet


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auch seine Gotte und schenkt ihm jedes Jahr einen Silberlöffel zum Geburtstag. Zu seinem zwanzigsten bekommt er von ihr sogar einen Jungfernflug ab dem Flugplatz Dübendorf.

      Nach seinem ersten Ball an der ETH gibt Wolfgang Heidi den Laufpass. Seine Kommilitonen finden die junge Frau zu provinziell und eines Ingenieurs nicht würdig. Außerdem hat sein ehemaliger Lehrer Enoch Laplace sich in sie verliebt. Sie träfen sich heimlich, erzählt sie Wolfgang. Der ist erst gekränkt, dann traurig und betrinkt sich mehrere Samstage hintereinander. Als Heidi ihm schließlich schreibt, sie habe alles nur getan, um ihn eifersüchtig zu machen, ist es zu spät, die Liebe ist verflogen.

      Einmal im Monat bekommt Wolfgang Besuch von seiner Mutter. Da er nun keine Freundin mehr hat, hakt sie sich schon am Bahnhof bei ihm unter. Gemeinsam, wie ein Liebespaar, bewundern sie den See und die große Brücke. Wolfgangs Mutter ist eine sehr schöne Frau, die ihr Ehemann nicht verdient hat. Der verbringt seine Zeit damit, seine drei Töchter zu verhätscheln. Hätte seine Frau nicht nach der dritten aufgehört, hätte die vierte Delta geheißen. Der Buchhändler mag aus dem Deutschen übersetzte Bücher. Seiner Jüngsten, Gamma, die sich in der psychiatrischen Anstalt von Val-de-Ruz befindet, bringt er jeden Sonntag eines mit.

      Nur samstags, wenn angesehene Kunden sich etwas zu lesen kaufen, hilft Frau Steinamhirsch gern in der Buchhandlung aus. Dann schiebt sie die Verkäuferin Fräulein Degoumois zur Seite, um mit strahlendem Lächeln den Herrn Doktor, den Herrn Pfarrer oder den Herrn Bürgermeister zu begrüßen. Sie kommentiert die letzte Abonnementvorstellung, welche die Herren doch sicherlich genossen haben. Dann klagt sie über das Wetter, sagt, La Chaux-de-Fonds, das seien sechs Monate Winter und sechs Monate Steuern, und lässt keine Gelegenheit aus, die brillante Karriere ihres Sohnes in Zürich zu schildern. Sie fesselt ihre Zuhörer und hält sie so lang wie möglich auf, um den Augenblick hinauszuzögern, in dem sie sich nach dem gewünschten Buch erkundigen. Hierfür müssen sie sich an Fräulein Degoumois wenden.

      Wolfgang neckt seine Mutter gern deswegen, wenn er Arm in Arm mit ihr am See spazieren geht, vorne die Schwäne, in der Ferne die verschneiten Berge. Dann unterhalten sie sich über Wolfgangs neue Leidenschaft, die Physik des unendlich Kleinen. Tut seine Mutter nur so, als verstünde sie, was er ihr erzählt? Oder begreift sie wirklich den Unterschied zwischen negativ geladenen Elektronen und Neutronen?

      Wenn Professor Scherrer den großen Physikhörsaal betritt, müssen die Studenten sich erheben und so lange stehen bleiben, bis er seine dicke schwarze Ledermappe krachend aufs Pult geworfen hat. Er schreibt eine Formel an die Tafel und zeigt mit dem Finger auf einen der Studenten, der die Ziffern- und Buchstabenabfolge erklären soll. Eines Tages gerät Wolfgang an eine Gleichung von Max Planck und merkt im letzten Moment, dass Professor Scherrer ihm eine Falle stellt. Die Formel wurde widerlegt. Zitternd demonstriert er in drei Schritten den Irrtum der alten und den Triumph der neuen Wahrheit. Professor Scherrer lobt seine Scharfsicht:

      «Schlau wie immer, unser kleiner Steinamhirsch aus La Chaux-de-Fonds.»

      Wie üblich zündet er sich eine dicke Zigarre an, bevor er die Vorlesung fortsetzt. Von Zeit zu Zeit macht er eine kurze Pause, um die Zigarre erneut anzuzünden. Dann herrscht jedes Mal eisige Stille auf den Rängen.

      Im ersten Jahr vertieft Wolfgang seine Kenntnisse in Mathematik, anschließend in Chemie und Physik. Seine ersten Ferien verbringt er im Werkstofflabor, die nächsten mit dem Zusammenbauen von Hydraulikpumpen. Es zieht ihn zur theoretischen Physik, praktische Übungen reizen ihn wenig. In seiner Diplomarbeit befasst er sich mit der Heisenbergschen Unschärferelation, sperrt Schrödingers Katze ein und besiegelt das Schicksal der Transurane. Der hochzufriedene Professor Scherrer lädt ihn gemeinsam mit seinen Assistenten zu sich nach Hause ein, ein seltenes Privileg. Frau Scherrer, die schöne Ida, flüstert ihm auf Französisch zu:

      «Mein Gatte setzt große Hoffnungen in Sie, mein Junge.»

      Noch am selben Abend schreibt Wolfgang seiner Mutter, um ihr die gute Nachricht zu verkünden.

      Von außen betrachtet, ist Wolfgang ein eher kühler, nicht besonders herzlicher junger Mann. Eine gewisse protestantische Strenge, gepaart mit Unbeholfenheit. Aber in seinem Innersten, jedenfalls so, wie er es begreift, sieht sich Wolfgang als eine empfindsame, leidenschaftliche, enthusiastische Person. Ständig ist er in irgendeine Frau verschossen. In eine Passantin, eine Studentin. Manchmal schwebt er gar in einem Zustand der Verliebtheit, ohne zu wissen, wem er seine Liebe erklären soll. Er verspürt ein Übermaß an Verlangen, das jedoch keinen Ort findet, um sich zu ergießen, fragt sich, wie er seinen Blick auf sich selbst mit einer anderen teilen kann. Nicht einmal Professor Scherrer vermag die philosophische Frage «Existiert die Welt außerhalb unserer selbst?» mit Sicherheit zu beantworten. Real ist vielleicht nur die Welt der Statistik und der Berechnungen. Die Sinnenwelt ist nichts als ein unfassbares Gebilde.

      Und plötzlich zeigen sich wieder menschlichere Gefühle. Die Erinnerung an das erste Mal, als er Heidi geküsst hat, offenbart ihm erneut die Gewissheit, dass der andere existiert, doch jeder in seiner eigenen Welt. Schließlich findet er sich damit ab. Spät in der Nacht, während er an seiner Doktorarbeit schreibt, das Fenster vor dem Sternenhimmel geöffnet, beschließt er, diese ins Leere gehende Zärtlichkeit den Zustand der Einsamkeit zu nennen.

      Ende 1938 eröffnet Professor Scherrer seinem Schützling, die nächste Station seiner Laufbahn sei Kalifornien. Er werde zu Professor Robert Oppenheimer nach Berkeley gehen. Zunächst aber schickt er ihn in einer Sondermission nach Stockholm.

      An einem Novembermorgen in aller Frühe klopft seine Gotte an die Tür. Sofort malt Wolfgang sich das Schlimmste aus. In der Familie hat sich ein Unglücksfall ereignet, der ihm indes nicht wirklich nahegeht. Seine Schwester Gamma hat sich an ihrem sechzehnten Geburtstag das Leben genommen. Auf dem Friedhof von La Chaux-de-Fonds verabschiedet er sich von ihr und nutzt die Gelegenheit, um Familie und Heimatstadt Auf Wiedersehen zu sagen. Bald wird er im Zug sitzen und durch das Deutschland von Reichskanzler Hitler nach Schweden fahren. Die Avenue Lèopold-Robert versinkt schon im Schnee, das Cafè Moreau, Schauplatz seiner Rendezvous, kommt ihm recht armselig vor. Heidi Stähelin, die er bei der Beerdigung trifft, spricht ihm mit trauriger Miene ihr Beileid aus. Er nimmt es ohne innere Betroffenheit entgegen. Die Wege seiner beiden anderen Schwestern sind inzwischen vorgezeichnet. Alpha wird Lehrerin werden, Beta Krankenschwester. Sein Vater wird untröstlich bleiben und seine Mutter die Frau eines unglücklichen Provinzbuchhändlers, die sich ihren Sohn als Dirigenten oder notfalls als Physikprofessor an der Neuenburger Universität zurechtfantasiert.

      Er kann ihr nur versprechen, oft zu schreiben und sich nie mehr mit Nazistudenten zu prügeln. In Zürich glaubte er, ein paar jungen Hitzköpfen erklären zu müssen, dass ihr Hitler ein Taugenichts sei, der nicht einmal die Universität besucht habe. Daraufhin kam es zu einer Schlägerei, von der Wolfgang Spuren zurückbehalten hat, die seiner Mutter gar nicht gefallen.

      Am Bahnsteig lässt Frau Steinamhirsch den Tränen, die sie bei der Beerdigung zurückgehalten hat, freien Lauf, während ihr Sohn ihr hinter der beschlagenen Fensterscheibe liebevoll, aber verlegen winkt. Ihm wäre es lieber, diese Frau mit dem schwarzen Hutschleier würde weniger Gefühl und mehr wohlgesittete Zurückhaltung zeigen. Im letzten Moment schiebt er das Fenster herunter und wirft Mama mit den Fingerspitzen einen Kuss zu.

      7

      Stockholm

      An Heiligabend des Jahres 1938 lernt Wolfgang in Stockholm im Haus eines ehemaligen Assistenten von Professor Scherrer Lise Meitner kennen. Ein Fest zu Ehren mehrerer im schwedischen Exil lebender Wissenschaftler. Die kleine weißhaarige Frau lächelt ihm zu, während sie ihr Glas auf das Wohl der Wissenschaft hebt. Sie kommt gerade aus Deutschland. Dort ist sie eine renommierte, bewunderte Forscherin. Wovon ihr das verschmitzte Lächeln geblieben ist. Er hätte sie gern zur Freundin.

      Am späten Nachmittag begleitet er sie zurück in ihr Hotel. Da es schon dunkel ist, hakt sie sich bei ihm unter, um auf dem vereisten Bürgersteig nicht auszurutschen, und erkundigt sich unterwegs nach Professor Scherrers Arbeiten zum Beschuss von Atomen mit Neutronen. Dann schlägt sie vor, die Fortsetzung des Gesprächs auf den nächsten Tag zu verschieben.

      Sie verabreden sich für den späten Vormittag zu einer Skiwanderung. Als Wolfgang sich mit Kusshand verabschiedet,


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