Kamikaze Mozart. Daniel de Roulet

Kamikaze Mozart - Daniel de Roulet


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lassen. Die winzige senkrechte Wolke, die den Federwolken als Lokomotive dient, kann einem solchen Aufgebot an gigantischen Exemplaren nicht Paroli bieten.

      Die Fahrt vom Sammelzentrum zum Internierungslager mit der Santa-Fe-Eisenbahn wird voraussichtlich nicht länger als achtundvierzig Stunden dauern. Fumika ist in einen Waggon Dritter Klasse eingesperrt, dessen Fenster außen mit Eisenstäben gesichert sind. Laut den Zahlenangaben auf einem Emailschild gibt es hier neunzehn Raucher- und siebenundzwanzig Nichtraucherplätze, also sechsundvierzig Sitzplätze insgesamt. Aber die Militärs haben sich nicht danach gerichtet. Oder sie können nicht zählen. Deshalb muss Fumika sich auf den Fußboden setzen und an die schmale Toilettentür lehnen. Andauernd steht sie auf, um den Durchgang freizumachen. Und hier riecht es noch übler als in den Ställen.

      Wenn sie die Augen schließt, ist sie im Hafen von Nagasaki. Neben dem Fukusai-ji-Tempel ein am Kai vor Anker liegender Flugzeugträger, die Reihe der Giebeldächer, die verschiedenen Ebenen des Parks, in dem Tante Yu ihr die Namen der Bäume und der in bläulicher Ferne liegenden, verschwommenen Berge beigebracht hat. Sie hört das Plätschern der Wellen, in denen die in der Morgendämmerung heimgekehrten Fischerboote hin und her schaukeln. Die Luft riecht nach Gischt. Und auf der Zunge liegt der Geschmack von rohem Seeigel.

      Das Knarren einer Bodenplanke im Waggon versetzt sie zurück nach Hause. Sie ist wieder in dem Zimmer in Nagasaki, in dem sie allabendlich ihre Tatami ausrollt. Die papierbespannten Schiebewände gleiten schabend durch ihre Führungsschienen. Jetzt taucht eine noch ältere Erinnerung auf, aus dem hübschen Haus in Osaka, in dem sie vor dem Erdbeben geboren wurde. Ihre Mutter singt ihr ein Wiegenlied. Ihr erschöpfter Vater schnarcht schon. Er ist für den großen Tempel verantwortlich und muss daher immer sehr früh aufstehen.

      Der Zug hält oft, immer auf freiem Feld. Dann steht er lange, und die Passagiere bekommen Angst, dass man sie in der Wüste vergessen hat, dass sie verdursten werden. Hat die Lokomotive vielleicht eine Panne? Oder wurde sie abgehängt? Wenn der Zug sich wieder in Bewegung setzt, behaupten die, die eine Katastrophe kommen sahen, das sei nur eine Atempause vor der Hinrichtung gewesen.

      Wenn ihre Mutter sie nur sehen könnte. Und ihre Cousins sie hören. Wenn Tante Yu nur hier wäre. Und ihr Klavierlehrer. Wenn nur, denkt sie. Aber sie weiß ja, dass die Menschen zu Hause alle Hände voll zu tun haben mit dem Krieg, dem Kochen und dem Fegen der Bürgersteige vor dem Haus. Ihr Vater ist seit fünfzehn Jahren tot, sein Leib schwebt über den Wolken.

      Im Waggon wird die Frage, wer für diese Situation verantwortlich ist, immer heftiger diskutiert. Laut einem Japaner der ersten Generation sind die der zweiten Generation daran schuld, weil sie den amerikanischen Kontinent übervölkert haben. Im Gegenteil, meint ein weißhaariger Herr mit schriller Stimme, die Schuld liege ausschließlich beim Präsidenten der Vereinigten Staaten, der durch seine allzu nachgiebige Politik gegenüber China Seine Majestät unseren Kaiser in den Krieg getrieben habe.

      Ein dicker, verschwitzter Koch führt andere Gründe an. Er glaubt zu wissen, dass Hitler mit den Sowjets vereinbart hat, Japan zu umzingeln. Man werde die Auslandsjapaner als menschliche Schutzschilde benutzen, um eine Invasion der Vereinigten Staaten von Amerika durch Japan zu verhindern. Jemand sagt:

      «Glauben Sie wirklich, das interessiert uns?»

      «Treiben Sie lieber irgendwo Wasser auf.»

      «Oder Musik.»

      «Legen Sie uns eine Platte von Wolfgang auf.»

      «He, Kleine, du bist doch Musikerin.»

      «Ich habe in Berkeley Klavier studiert.»

      «Gegen den Krieg ist dein Mozart nicht der Rede wert.»

      Fumika protestiert. Diese Leute haben ja keine Ahnung von ihrem Wolfgang. Es würde reichen, wenn jeder sich von einer Sonate für Pianoforte und Violine wiegen ließe. Die Ereignisse in der Welt würden zu bloßen Zwischenfällen schrumpfen. Die Essenz des Lebens liegt ganz und gar im mittleren Adagio. Der dicke Koch kichert albern. Fumika schweigt, sie weiß, dass sie recht hat.

      Was sie an der Musik so liebt: Musik benötigt keine Worte, um Gefühle auszulösen. Man weint, ohne dass Mozart irgendwelche Geschichten von verlassenen Kindern zu erzählen bräuchte. Man lächelt, auch wenn es gar kein Happy End gibt. Alles geschieht jenseits von Worten und ihrer Bedeutung. Manchmal gibt der Komponist seinen Melodien einen Titel. Im Nachhinein, nur damit man darüber reden kann, nicht weil es da eine Geschichte gäbe, die man kennen müsste, um die Musik zu begreifen. Wenn er die Partitur mit Ah, vous dirai-je, maman überschreibt, kann Fumika sich auch Ah, vous dirai-je, papa vorstellen. Es funktioniert genauso, es tröstet einen. Noch mehr sogar. Der dicke Koch bittet um Stille im Namen derer, die sich ausruhen wollen. Als wäre einer der Evakuierten schuld an den quietschenden Bremsen.

      Auf dem Waggonboden sitzend, streckt Fumika einen Finger nach dem anderen aus. Dann in der umgekehrten Reihenfolge. Die Fingerglieder lockern. Der Anschlag ist alles. Dann kommt der Rhythmus, im Dienst der Gefühle. Ihre Finger laufen über eingebildete Tasten. Eine Hand springt über die andere, erstürmt die hohen Töne, läuft über die weißen Tasten zurück, wirft sich auf zwei schwarze, schlägt einen Akkord an, hält gemeinsam mit der anderen Hand inne. So würde der zweite Satz enden, den das kleine Genie zum ersten Mal gespielt hat, als es sein Vater Leopold am Hof eines griesgrämigen Königs dem Publikum präsentierte. Sie stellt sich vor, wie der erste Wolfgang seine Darbietung mit einer Verbeugung abschließt, während hübsche Fürstinnen zu ihm eilen, um ihm über die Wangen zu streichen.

      In einer Kurve fährt der Zug wieder an. Am immer blauer werdenden Himmel zieht sich, vom Fenster eingerahmt, der Dampf der Lokomotive in die Länge. Weil die Luft trocken ist, sagt der alte Herr. Es gibt für alles eine Erklärung, das Blau am Firmament ist kein Wunder. An der Brust einer Nachbarin hat ein Säugling seine Milch ausgespuckt. Fumika singt ihm leise ein Wiegenlied. In dem Alter verstehen Kinder noch kein Englisch.

      Gegen Abend hält der Zug abermals mitten in der Wüste. Kein Lebenszeichen außer Telefonmasten, die wohl ein Wutausbruch des Himmels aus dem Boden gerissen hat. Soldaten mit Hunden, wie aus dem Nichts aufgetaucht, öffnen die Türen und brüllen: «Sanitätskontrolle!» Einer von ihnen steigt in den Waggon. Er trägt eine Stoffmaske vor Mund und Nase, fragt, ob es Notfälle gebe, Leute mit Fieber. Niemand meldet sich. Wäre jemand krank, müsste er in Kauf nehmen, von seiner Familie getrennt zu werden. Die alte Dame, die vorhin gejammert hat, sie werde sterben, hütet sich tunlichst, den Sanitäter auf sich aufmerksam zu machen. Die Tür wird von außen wieder verriegelt. In der von den vergitterten Fenstern in Scheiben geschnittenen Abendröte bellen die Hunde. «Abendrot, Gutwetterbot», hat Tante Yu immer gesagt.

      Die ganze Nacht bleibt im Waggon das Licht an. Aber mehr noch raubt einem das plötzliche Ruckeln den Schlaf, der sich ständig ändernde Rhythmus. Ein Witzbold meint, Pearl Harbor liege nun schon ein Jahr zurück, und wie man höre, sei der Krieg jetzt pazifistisch, wegen besagtem Ozean. Niemand lacht, der Witz ist zu abgedroschen.

      Der Zug rollt gen Westen, meidet die bewohnten Gegenden. Man könnte glauben, die Vereinigten Staaten seien nichts als eine weite, kakteenbewachsene und mit ausgeblichenen Skeletten einstiger Haustiere verzierte Steinwüste. Vielleicht werden sie bei ihrer Ankunft alle erschossen. Auch egal, Hauptsache, es ist vorbei, sagt eine junge Mutter, deren Kind pausenlos fragt: «Mama, wann kommen wir an?»

      Der weißhaarige Herr mit der hohen Stimme erzählt, dass er 1917 in einer Kupfermine in Compton, Arizona, gearbeitet hat. Zu Tausenden hätten sie gestreikt. Man habe sie in Viehwaggons gepfercht und tausend Meilen weg von zu Hause gebracht. Es sollte ihnen eine Lehre sein. Jemand bittet ihn, zu schweigen und lieber etwas von seinem restlichen Wasser abzugeben.

      Zwar haben alle die im Sammelzentrum ausgehängten Anweisungen befolgt und vorgesorgt, aber inzwischen sind sämtliche Getränkebehälter leer. Mit den Lebensmitteln sieht es kaum besser aus. Als der Zug hält, hört man lautes Klagen aus einem der Nachbarwaggons. Eine Frau scheint die Nerven zu verlieren. «Wasser, Wasser! Macht auf!», schreit sie. Niemand beruhigt sie, da sie im Namen aller klagt.

      6

      La Chaux-de-Fonds

      Wolfgang Steinamhirsch


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