Kamikaze Mozart. Daniel de Roulet

Kamikaze Mozart - Daniel de Roulet


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gesellt sich Fumika zu ihm. Er erzählt ihr aus seinem Leben. Sie lässt ihn seine Geschichte wiederholen, ohne ihn zu unterbrechen, springt mit leisem «Ta-ta-tata!» aus dem Schützengraben. Er zielt auf sie und bedankt sich von ganzem Herzen.

      Tagsüber revanchiert er sich, indem er ihr zeigt, wie man durch Himmelsbetrachtungen Langeweile vertreibt. Sie lernt, die Wolkenfamilien an ihrer Position und ihrer horizontalen Ausdehnung zu erkennen. Zum Schluss kann sie sie alle beim Namen nennen. Besten Dank, mein Herr.

      Im Lager kann sich jeder zum Zeitvertreib eine Geschichte ausdenken. Fumika malt sich aus, sie wäre ein junges Mädchen aus Salzburg, vergisst ihre Insel, sieht sich als die Verlobte eines jungen Mannes mit deutschem Akzent. Das Haar mit einer Schleife im Nacken zusammengebunden, verbeugt er sich tief, nach altem Brauch. Sie reicht ihm die Hand. Eine geschmeidige Geste, wie bei einem Anfangsakkord. Und er, Wolfgang, gibt ihr mit einem strahlenden, spitzbübischen Lächeln auf dem Gesicht einen angedeuteten Handkuss. Abends setzt Mozart sich im Kerzenschein ans Cembalo und komponiert für sie allein eine Sonate in D-Dur.

      Vier Monate vergehen, die Haft dauert an. Nach und nach leert sich das Sammelzentrum, die Insassen werden in weniger provisorische Lager verlegt. Manche machen, wenn sie auf der Liste erscheinen, am Abend vor ihrer Abreise eine Runde durchs Lager und verabschieden sich. Fumika spürt ihre Beklommenheit, als bedauerten sie plötzlich, dass man einander fremd geblieben ist, unfähig war, mehr als Höflichkeiten auszutauschen. Zuerst verschwinden die Zeltbewohner, dann die Stallbewohner. Jeden Morgen werden ganze Familien auf Armeelaster verfrachtet. Angeblich wurde in der Wüste von New Mexico ein festes Lager für sie errichtet.

      Von Tag zu Tag wird der Herbsthimmel grauer, die Kälte schneidender. Federwolkenbänder, von den Höhenwinden in die Länge gezogen, treiben vom Ozean herüber, verweben sich immer dichter, bis sie eine milchige Decke bilden, die den Tag bis zum Abend in fahles Licht taucht. In den ungeheizten Ställen fehlt die Wärme der Pferde. Anfang Dezember entdeckt Fumika endlich ihren Namen auf der Liste der Abreisekandidaten des nächsten Tages. Zum letzten Mal wird sie ins Ermittlungsbüro gerufen, nimmt dort ihre Partituren entgegen, die wie Kriegsarchive aufbewahrt wurden. Auch den ersten Brief ihres Verlobten gibt man ihr. Und einen zweiten, der unterdessen eingetroffen ist.

      4

      Zweiter Brief

      Nagasaki, den 2. Oktober 1942

      Sehr verehrtes Fräulein Fumika,

      meine liebe, teure Verlobte!

      Ihre Mutter hat die meine davon unterrichtet, dass Ihnen das gleiche entsetzliche Schicksal widerfahren ist wie unseren 130 000 einstigen Landsleuten, die heute in den Vereinigten Staaten von Amerika leben. Ich habe Seine Majestät unseren Kaiser im Radio gegen diesen Affront protestieren hören. Dürfte ich meinen persönlichen Angelegenheiten, also Ihnen, mehr als nur eine halbe Stunde täglich widmen, würde ich mir gewiss größte Sorgen machen. Aber ich habe mit der Wartung unserer Flugzeuge solchen Ärger, dass sie mich zum Glück von morgens bis abends und teilweise auch nachts in Anspruch nimmt. Wegen des Pazifikkrieges herrscht Benzinmangel, weshalb wir eigene Treibstoffmischungen herstellen müssen, die leider nicht immer gelingen. Schlimm wird es, wenn nach einem Sturzflug, bei dem der Flugzeugmotor abgestellt wird, dieser nicht mehr anspringt. Kürzlich sind zwei meiner Kameraden nach dem Durchfliegen einer Wolke abgestürzt. Wegen einer verstopften Düse.

      Solange ich nichts von Ihnen persönlich höre, wird mir Ihr Schicksal, sehr verehrtes Fräulein Fumika, weiterhin Sorgen bereiten. Angeblich hat man Sie und all unsere übrigen Landsleute in Stadien, auf Rennbahnen, in Pferdeställen und sogar in zu Gefängnissen umfunktionierten Badeanstalten interniert. Am besten wäre es, Sie fänden eine Möglichkeit, zu fliehen und abermals den Pazifik zu überqueren. Unser Ausbilder ist der Meinung, wir sollten die Vereinigten Staaten überfallen, um Sie zu befreien. Sollte ein solches Unternehmen beschlossen werden, so seien Sie versichert, dass ich mich freiwillig melden werde, um zurückzuerobern, was mir gehört. Manchmal male ich mir am Steuerknüppel meines Jagdfliegers Zero folgende Szene aus: Sie sind in einem Turm gefangen, in dem Sie Tag und Nacht Mozartsonaten spielen, und plötzlich hören Sie ein Flugzeug näher kommen und gehen ans Fenster. Wir erkennen einander, Sie springen neben mich, und ich bringe Sie zurück nach Nagasaki. Ich hoffe, Sie vertrauen darauf, dass Ihr zukünftiger Gatte Sie aus den Klauen dieser Ungeheuer befreien wird.

      Ich verstehe sehr gut, dass Sie angesichts Ihrer Gefangenschaft noch nicht auf meinen ersten Brief antworten konnten. Doch ich kann mir auch vorstellen, dass Sie froh sind, bald einen Ehemann zu bekommen, den Ihre Familie zu einem guten Preis ausgewählt hat. Das Foto, das ich Ihnen geschickt habe, wird Ihnen helfen, sich an meine Gegenwart zu gewöhnen, so wie ich mich an die Ihre. Kürzlich habe ich mein Offizierspatent erworben, ich werde also ab Ende nächster Woche eine neue Uniform tragen. An der Hose ändert sich nichts, nur an Jacke und Mütze. Da unsere Ausgangszeiten gekürzt wurden, wird der Fotograf in die Kaserne kommen, um unseren Jahrgang abzulichten. Auf das Ergebnis müssen wir drei Wochen warten. Dann erhalten Sie ein Foto, mit dem das alte hinfällig wird. Es dürfte einen noch besseren Eindruck auf Sie machen. Die Offiziersuniform werde ich auch bei unserer Hochzeit im September tragen. Natürlich hoffe ich, dass Sie schon früher wieder in der Heimat sein werden.

      Habe ich mich eigentlich klar genug ausgedrückt, als ich Ihnen bezüglich der Musik schrieb? Da Sie nach Ihrem Diplom für Orchesterreife das Musikstudium fortgesetzt haben, werden die Erziehung unserer Kinder und das Maschineschreiben etwas ganz Neues für Sie sein. Ich selbst habe damals, als ich meine Geige weglegte, geglaubt, nicht so leicht darauf verzichten zu können. Aber der Wille ist alles, die Gefühle müssen folgen. Fast hätten mich die von der Musik ausgelösten Emotionen daran gehindert, ein guter Soldat zu werden. Doch glücklicherweise hat die Kaserne statt eines Musikers einen Mann aus mir gemacht.

      Wenn dieser Brief Sie erreicht, so antworten Sie mir doch bitte auch auf die beiden Fragen, die ich jetzt noch ansprechen möchte. Zum einen geht es um die Anwesenheit der Brüder Ihres Vaters bei unserer Hochzeit. Da Ihr Vater beim Erdbeben von 1923 ums Leben kam und Ihre Mutter nicht wieder geheiratet hat, findet meine Mutter, es gehöre sich, auch Ihre beiden Onkel mit deren Familien einzuladen. Das ist eine finanzielle Frage, zu der mich Ihre Meinung interessieren würde.

      Die zweite Frage betrifft die musikalische Darbietung während des Empfangs, der vor der Trauung stattfinden soll. Es ist ausgeschlossen, dass ich selbst die Tartinisonaten spiele, wie es sich meine Großmutter väterlicherseits wünscht. Wären Sie damit einverstanden, wenn der Vater eines meiner Freunde, ein Bankdirektor aus Nagasaki, dies übernimmt? Es handelt sich um einen gewissen Herrn Hirota. Ich möchte Sie vorwarnen, er ist kein sehr guter Geiger, aber ein Mann mit einer durchaus vorteilhaften Position, die uns bei der Aufnahme des Darlehens, das wir für die Ausstattung meiner radiologischen Praxis benötigen werden, zugutekommen könnte.

      Ich kann mich einer Vorfreude auf Ihre Antworten auf meine beiden Fragen kaum erwehren. Ich wünsche Ihnen, dass Sie trotz der schwierigen Lage, in der uns unsere Feinde meinen halten zu müssen, weder den Mut noch den Glauben daran verlieren, dass uns Seine Majestät unser Kaiser den Sieg bringen wird. Ich erflehe Seinen Segen für Sie, in der Gewissheit, dass meine patriotischen Gedanken ihren Weg zu Ihrem Herzen finden werden.

      Ihr Verlobter, Tetsuo Tsutsui

      5

      Der Zug der Evakuierten

      Die Soldaten postieren sich in einer Reihe entlang des Zugs, um zu verhindern, dass Gefangene ihr Gepäck auf dem Bahnsteig zurücklassen und fliehen. Fumika findet sie komisch mit ihren Helmen, die wie über den Kopf gestülpte Suppenschüsseln aussehen. Beim Anblick ihrer müden Arme und gemächlichen Bewegungen wird ihr klar: zu schwere Gewehre und viel zu viele Patronen.

      Angeblich haben manche von ihnen Frauen, die auf der anderen Seite des Kontinents leben und auf Briefe warten, die nicht kommen. Wenn der Zug abgefahren ist, haben die Soldaten vielleicht den Rest des Tages frei. Dann können sie wenigstens eine Postkarte schreiben, können Grüße und einen Kuss an ihre Frauen oder ihre Töchter schicken. Die bekommen bestimmt gerne mal Post, während sie auf das Ende des Krieges warten.

      Fumikas Blick fällt auf die Himmelsgebilde über dem Gefangenenzug. Mehrere Wolkenfamilien sind zur Abfahrt


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