Kamikaze Mozart. Daniel de Roulet

Kamikaze Mozart - Daniel de Roulet


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über den Pazifik geflohen ist, hätte sie ihr vorher Bescheid sagen können. Und im Fall eines Rendezvous hätte eine kurze Nachricht genügt. Sie hatten sich doch geschworen, sich nicht zu trennen, hatten die gemeinsame Flucht geplant. Vor fünf Tagen, als der Lautsprecher ihren Namen nannte, hatte sich Shizuko guter Dinge auf den Weg zum Ermittlungsbüro gemacht. Danach wurde sie nicht mehr gesehen. Hat sie das Personal beschimpft, einen Zwischenfall provoziert, Widerstand angekündigt?

      Wenn man aufgerufen wird, muss man zunächst in der Sonne Schlange stehen, nur selten spenden ein paar träge, mollige Wolken Schatten. Dann wird man reihum hinter einem Vorhang befragt, ohne sich setzen zu dürfen.

      Auch vor den Duschen langes Warten. Morgens sind die Männer dran, nachmittags die Frauen. Ein Aushang informiert darüber, wie die Internierung der Japaner ausländischer und nicht ausländischer Herkunft geregelt ist. Es müsse Ordnung herrschen, heißt es dort, der Gebrauch einer anderen Sprache als der englischen sei untersagt und jeder Aufstand ende vor dem Kriegsgericht. Angeblich schießen sie einem direkt ins Herz.

      Essen gibt es genug, dafür aber mangelt es an anderen Dingen. Zum Beispiel an Musik. Seit zwei Wochen hat Fumika keine Klaviertasten mehr gesehen. Mit dem Finger einer Partitur zu folgen und den ersten Wolfgang nur im Kopf zu spielen, hat nicht dieselbe Wirkung. Wenn kein Klavier die Noten zum Klingen bringt, verlieren sie irgendwann jegliche Existenz. Sie lassen sich nicht berechnen wie physikalische Teilchen.

      Fumika hat sich in die Schlange gestellt, die zum achten Rang hochführt. Sie will die Inspektorinnen um Erlaubnis bitten, das Zelt wechseln zu dürfen. Die Chefin ihres Zelts ist eine schmuddelige Matrone, die den ganzen Tag mit erloschener Zigarette im Mundwinkel herumläuft und achtzehn junge Frauen herumkommandiert. Morgens brüllt sie schon um halb sieben ihre Befehle. Die Matten müssen zusammengerollt, die Decken gefaltet, der Tee serviert und der Eingang gefegt werden. Um halb acht, wenn die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika zum Klang des Horns gehisst wird, müssen sich die Evakuierten in einer Reihe aufstellen, die schmalen Augen auf das den Mast hinaufwandernde Stück Stoff gerichtet.

      In Japan war Fumika dank des Klaviers von den Nachmittagen befreit, an denen die Schüler zum Vaterlandsdienst anzutreten hatten. Ihre Schulkameradinnen mussten den Arm recken und Parolen zu Ehren Seiner Majestät unseres Kaisers deklamieren. Sie mussten schwören, dass niemals ein Fremder seinen Fuß auf den heiligen Boden der Vorfahren setzen werde.

      Der Matrone hat sie sofort erklärt, ihre Finger vertrügen nicht den ganzen Tag Waschwasser, sie brauche sie noch zum Klavierspielen. Der Drache hat sich nur über sie lustig gemacht und ihre Künstlersorgen mit einem dreckigen Lachen quittiert. Ein Sammellager sei kein Konservatorium. Eine junge, zwanzigjährige Japanerin, die nicht mal die amerikanische Staatsbürgerschaft besitze, könne jederzeit für eine Spionin gehalten werden und vor dem Hinrichtungskommando landen. Kapiert? Die Mädchen, mit denen sie das Zelt teilt, haben in den Hügelstraßen von San Francisco gewohnt. Manche haben als Kellnerinnen gearbeitet, andere sind auf den Strich gegangen. Ihr Englisch ist so ordinär, dass es Fumika erröten lässt.

      In den anderen Zelten richten sich Familien wie für ein verlängertes Picknick ein. Aus Brettern und Kisten zimmern sie sich Möbel zusammen. Zum Essen setzen Eltern und Kinder sich an einen wackeligen Tisch. Ab und zu reichen ihnen frühere Nachbarn einen Sack Reis oder Gemüse über den Stacheldrahtzaun. Die Wärter lassen es geschehen. Fumika beneidet die kleinen Kinder, die nicht zum Englischreden gezwungen werden. Diesen Verstoß gegen die Vorschriften erlauben sogar die uniformierten Lageraufseher, die mit ihrem Schlagstock unterm Arm zwischen den Zelten umherstreifen.

      Die Schlange zum achten Rang wird immer länger, und die Sonne brennt. Vor Fumika wiegt eine Mutter ihr Baby. Hinter ihr wartet eine alte Frau, dem Schnitt ihres schwarzen Kleides nach zu urteilen, ist sie koreanischer Abstammung. Da Korea inzwischen zu Japan gehört, gelten auch Personen, deren Eltern dort geboren wurden, als Feinde der Vereinigten Staaten. Fumika lässt sich von der Alten erklären, wie ungerecht ihre Lage sei. Die Japaner seien alle schuld an ihrem Unglück, sagt sie. Fumika inbegriffen, sie habe in Kalifornien nichts zu suchen gehabt, hätte auf ihrem Archipel bleiben können, bei ihren Samurai und ihrem Kaiser … diesem Nichtsnutz.

      Die Matrone hat sie und die anderen gewarnt: Jeden Streit vermeiden. Im Sammellager gebe es auch Agents Provocateurs. Angeblich haben die Inspektorinnen den Befehl, diejenigen zu enttarnen, die dem Reich der aufgehenden Sonne helfen könnten, in Kalifornien zu landen. Deshalb: Sich nie dazu verleiten lassen, mit Fremden über Politik zu reden.

      Trotzdem kann Fumika es sich nicht verkneifen, der Alten zu sagen, dass sich Japan ihrer Meinung nach nicht auf eine Inselgruppe beschränkt. Seine Majestät unser Kaiser herrsche auch über mehrere Festlandgebiete, die zu ein und demselben Lebensraum gehörten.

      Eine Frau in der Schlange, die so tut, als spreche sie zu ihrem Baby, rät ihr flüsternd, still zu sein, die Wände hätten Ohren. Fumika begreift, dass die Koreanerin womöglich eine dieser berüchtigten Agents Provocateurs ist. Mit einem Satz über das Glück, das man in dieser Gegend mit dem Wetter habe, beendet sie das Gespräch. Hier, sagt sie, könnten die Wolken anschwellen, ohne je ihr Wasser zu verlieren.

      Darauf verflucht die Alte alle Japaner. Den Männern wünscht sie, dass sie den Krieg gegen Amerika verlieren, den Frauen, dass sie zweiköpfige Ungeheuer gebären. Keiner reagiert. Die Schlange bewegt sich langsam auf den Vorhang zu. Als Fumika an der Reihe ist, befragt eine uniformierte Beamtin sie anhand eines Ermittlungsbogens und verkündet dann, man werde ihr jetzt die Häftlingsnummer auf die Schulter tätowieren. Fumika protestiert. Nie und nimmer! Was wird Tetsuo Tsutsui denken, wenn er das schändliche Zeichen auf der Schulter seiner Verlobten entdeckt? Wie man weiß, ritzen die Völker des Westens den Myladies Lilien auf die Schulter. Und was werden ihre Eltern sagen? Und der Gesundheitsdienst im Hafen von Tokio, wenn sie so nach Hause kommt? Sie bleibt stur:

      «Ich bin doch keine Prostituierte, Madam.»

      «Du wohnst in Zelt 415?»

      «Jawohl, im Zelt für alleinstehende Frauen.»

      «Dann wirst du tätowiert.»

      «Aber ich bin verlobt.»

      «Das sagen alle.»

      Fumika öffnet die Seitentasche ihres Kittels und zieht ein Foto heraus. Als die Inspektorin es ihr aus der Hand reißt, begreift sie, dass sie auch dieses Foto in ihr Kopfkissen hätte einnähen sollen. Verächtlich mustert die Frau das Bild. Die Uniform gefällt ihr ganz und gar nicht.

      «Wer ist dieser Kerl mit den Tressen?»

      «Mein Verlobter, Herr Tsutsui, Madam.»

      «Kennst du sein Geburtsdatum?»

      «1917, Madam.»

      «Und seinen militärischen Rang?»

      «Offizier der Luftwaffe, Madam.»

      «Unteroffizier. Ich kenne mich aus.»

      Das Foto wird beschlagnahmt. Auf der Rückseite notiert die Inspektorin Fumikas Angaben. Dazu ihren Namen, den der vermeintlichen Verlobten, zurzeit im Sammellager inhaftiert. Fumika soll sagen, ob sie irgendwelche Schriftstücke von diesem Tsutsui bei sich hat. Da ihr Nein zu zaghaft klingt, schickt die uniformierte Frau sie hinter einen zweiten Vorhang, fordert sie auf, ihre Taschen zu leeren und sich auszuziehen. Splitternackt bückt Fumika sich für die Analuntersuchung, schluckt die Tränen hinunter.

      Noch einmal muss sie ihr Leben von vorne erzählen, angefangen beim Tod ihres Vaters. Das mit dem weißen Huhn im Kochtopf lässt sie aus. Nach dem Erdbeben, als Osaka nur noch aus Gestank und Verwüstung bestand, hat ihre Mutter beschlossen, wieder in ihr Heimatdorf bei Nagasaki zu ziehen. Dort hat Fumika auf einem alten, von einem Mönch gestimmten Klavier ihre ersten Melodien gespielt. Sie hatte das Gefühl, die Musik begleite ihre eigene Traurigkeit und die ihrer Mutter, die ihren Mann verloren hatte.

      Später, aber davon braucht sie nicht zu erzählen, hat sie entdeckt, dass Musik auch fröhlich sein und neue Empfindungen auslösen kann. Weder Tränen noch Lachen, sondern Melancholie, verwoben mit einem Sehnen nach etwas, das man nicht anders ausdrücken kann als eben mit Musik.

      Jeden Morgen


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