Kamikaze Mozart. Daniel de Roulet

Kamikaze Mozart - Daniel de Roulet


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ihren Gärten herumliegt. Die Größe der Schaukelstühle unter den Vordächern beeindruckt die Mädchen. Sie stellen sich vor, dass auf einem dieser Holzsitze ohne Weiteres eine ganze japanische Familie Platz fände. Aber in Kalifornien werden sie nur von einer einzigen Person benutzt. Jemanden, der schon dort sitzt, zu fragen, ob man mit ihm schaukeln dürfte, wäre ungehörig. Hier behalten die Männer ihre Wiege ein Leben lang.

      Im Schwimmbad haben die Weißen ihre eigenen Tage: Samstag, Sonntag und Montag. Der Dienstag ist für die Mexikaner und andere Mischlinge reserviert. Mittwochs sind die Schwarzen dran. Erst donnerstags, wenn das Wasser schon trübe ist, dürfen die Gelben rein, morgens die Männer, nachmittags die Frauen. Freitags macht das Schwimmbad zu, das Becken wird geleert, der Boden geschrubbt. Samstags, wenn die Weißen wieder an der Reihe sind, ist Sauberkeit garantiert.

      Um nichts in der Welt würden die beiden Freundinnen auf ihr Donnerstagsschwimmen verzichten. Ohne Eile fahren sie an einer Reihe Eukalyptusbäume entlang, vergleichen ihre kleinen Abenteuer und unterhalten sich über Fumikas Verlobten, den offiziellen. Sie fragen sich, ob Herr Tsutsui beim Angriff auf Pearl Harbor dabei war. Wegen dieser Pazifikinsel gelten sie beide jetzt als Feinde. Die japanischstämmigen Ladenbesitzer haben handgeschriebene Schilder mit der Aufschrift «Ich bin Amerikaner» in ihre Schaufenster geklebt. Als ob es nicht reichen würde, dass sie die Waffeln, die sie einem verkaufen, mit Senf und Ahornsirup beschmieren.

      Shizuko erzählt, im Radio habe sie den Präsidenten der Vereinigten Staaten seinen Mitbürgern erklären hören, dass die auf der hawaiischen Inselgruppe stationierte us-Flotte feige angegriffen worden sei. Er habe Maßnahmen angedroht, damit Freiheit und Demokratie überall auf der Welt respektiert würden. Mit dramatischem Tonfall habe er mehrmals gesagt, so gehe es nicht. Die Vereinigten Staaten ließen sich nicht demütigen. Und was nun geschehen werde, habe Japan selbst zu verantworten.

      Sie wundern sich über diesen behinderten Präsidenten, der sich mühsam im Rollstuhl fortbewegt. Könnte man sich Seine Majestät unseren Kaiser ohne Beine, immer sitzend vorstellen? Wie würde er denn Befehle erteilen? Wie bei Militärparaden seine Generäle grüßen? Gar nicht einfach. Wenn dieser Präsident Roosevelt im Radio spricht, hört man gleich, dass er keine Beine mehr hat.

      Shizuko fragt sich, ob seine Rede vielleicht erklärt, warum eine Angestellte sie gestern Abend in der Bibliothek als dreckige Japse beschimpft hat. Fumika entgegnet, sie wolle sich einen so schönen Tag nicht verderben lassen. Sie gehen jetzt schwimmen und denken nicht mehr daran. Nichts ist aufregender, als vom Sprungturm ins Wasser zu springen. Diesmal werden sie es von der dritten Plattform aus versuchen, sich die Nase zuhalten und möglichst weit draußen im Becken landen.

      Die eine stellt Fragen, die andere tritt in die Pedale. Wie viele Kinder sie wohl in die Welt setzen werden? Shizuko will ungefähr zehn, von einem Amerikaner. Darauf legt Fumika ehrlich gesagt keinen Wert. Selbst als ihre Freundin sagt:

      «Wenn du von deinem Piloten ein Kind bekommst …»

      «Du spinnst ja! Erst heiraten wir.»

      «Dann nennt ihr es Wolfgang.»

      «Wenn Seine Majestät unser Kaiser das hören würde …»

      «Er ist nicht mehr mein Kaiser, Fumika.»

      «Achtung, Kreuzung.»

      Nur knapp kann die Radfahrerin einem Lastwagen ausweichen, den eine blühende Magnolie verdeckt hat. Am Schwimmbad angekommen, stellen sie das Rad an einen Mammutbaum, der so dick ist wie fünf japanische Eichen zusammen. Über die Schranke hinweg bewundern sie das Becken, den blau gestrichenen Sprungturm, die schrägen Bretter, auf denen sie sich in die Sonne legen können.

      Fumika beschreibt ihren Geigenspieler Wolfgang genauer. Na ja, einen Makel hat er. Der ist ihr gleich beim ersten Mal aufgefallen. Hinten, am linken Ende seines Lächelns, fehlen ihm zwei Zähne. Er sagt, er habe sich in der Schweiz mit Studenten geprügelt. Davon habe sein Gebiss dieses Andenken zurückbehalten. Außerdem habe er damals auch ein zugeschwollenes Auge, ein paar ausgerissene Haarbüschel und mehrere Beulen davongetragen. Sie hätten ihn am Bordstein liegen lassen, nachdem sie ihm zwei Rippen gebrochen hätten. Von all dem habe er sich erholt, außer von diesem unschönen schwarzen Loch im Mund, das ihn daran erinnere, dass er mit Berlin noch eine Rechnung offen habe, selbst wenn das Ganze in Zürich passiert sei. Fumika und Shizuko finden beide, dass er für diesen kleinen Schönheitsfehler nichts kann. Außerdem gewöhnt man sich schnell daran. Beim Essen kann er ja auf der anderen Seite kauen. Jedes Mal, wenn er lächle, sagt Fumika, verberge er das Loch mit der Zunge. Das mache er sehr gut. «Eigentlich», schließt sie, «verstehe ich nicht, warum er sich für Physik statt für die Geige und mich interessiert. Dieses Chicago, wo er jetzt lebt, ist viel zu weit weg.»

      Im Schwimmbad ist kein einziger Badegast zu sehen. Das Becken ist leer. Nicht eine Welle im Wasser. Was ist los? Was hat das zu bedeuten? Über die Schranke hinweg halten sie Ausschau. Der Aufseher, der normalerweise ein Fünfcentstück dafür verlangt, dass er am Drehkreuz die Sperre löst, hat seinen Posten verlassen.

      Eine mit einem großen Plakat überzogene, vom Kleister noch feuchte Tafel versperrt den Durchgang. Mehrere junge Frauen stehen schweigend davor und lesen. «Anweisungen an alle Personen mit japanischen Vorfahren.» Fumika liest den Text laut und fröhlich vor, als sei es ein Brief ihres Verlobten. Aber hier geht es um etwas ganz anderes. Nicht nur ist das Schwimmbad geschlossen, die Badegäste werden ernsthaft ermahnt:

      «Alle Bürger japanischer Abstammung mit oder ohne amerikanische Staatsbürgerschaft, die sich noch auf amerikanischem Territorium aufhalten, werden aufgefordert, sich zwischen morgen, Freitag, 8 Uhr, und übermorgen, Samstag, 17 Uhr, in einem Sammelzentrum einzufinden. Folgendes ist mitzubringen: Laken und Decken (keine Matratzen), Toilettenartikel, Kleidung zum Wechseln, Messer, Gabeln, Löffel, Teller, Schalen sowie unentbehrliche persönliche Habe. Jeder Gegenstand wird verpackt und erhält ein Etikett mit dem Namen und der von den Behörden vergebenen Registriernummer.

      Die Bündel dürfen nur so groß sein, dass eine Person allein sie tragen kann. Das Mitführen von Tieren ist verboten. Kein Gegenstand darf von Dritten zum Sammelzentrum gebracht werden.

      Die Regierung der Vereinigten Staaten wird sich über ihre Behörden um die Besitztümer der Evakuierten kümmern sowie um den Verkauf ihrer Immobilien, für die die Verantwortung allein bei den Eigentümern liegt.» Was bedeutet das? «Dies gilt auch für Kühlschränke, Waschmaschinen, Klaviere und anderes schweres Mobiliar.

      Auf Wunsch werden Küchenutensilien gelagert, aber nur wenn sie sachgemäß verpackt und mit der Registriernummer ihres Besitzers versehen sind. Jede Familie und jede alleinstehende Person wird nach Anweisung der Kontrollstelle für Zivilbevölkerung zum Sammelzentrum gebracht.

      Gezeichnet: Der Armeekommandant der Territorialzone.»

      Schwer zu verstehen, diese üble Nachricht. Die eine zupft ihr Kopftuch zurecht, die andere reißt es sich wütend herunter. Sie hoffen, das Ganze ist nur ein Scherz, über den sie gleich lachen werden, wenn sie in ihre Badeanzüge schlüpfen.

      Aber die anderen Studentinnen um sie herum ziehen so lange Gesichter, dass ein Irrtum wohl ausgeschlossen ist. Einer der beiden rollt unverhofft eine Träne über die Wange. Die andere hakt sie unter, schweigend gehen sie über die Straße zu ihrem Fahrrad zurück, das an dem riesigen Mammutbaum lehnt. Ein weltweites Unglück, dessen Ursache man nicht begreift, ist schnell passiert. Und kann einem den Schwimmbadnachmittag am Donnerstag restlos verderben.

      Um fünf Uhr nachmittags hätten sie Unterricht in Musiktheorie. Allen, die nicht erscheinen, hat der Lehrer den Ausschluss von den Abschlussprüfungen angedroht. Was ist wichtiger: die Erklärungen des Meisters zur Harmonie einer Quinte oder die öffentliche Bekanntmachung eines Armeekommandanten der Territorialzone?

      So leicht kommen ihnen nicht die Tränen, aber die Lust am Radfahren ist ihnen vor lauter Kummer vergangen. Sie versuchen, sich zu beruhigen, schließlich können sie es zu zweit mit diesem Krieg aufnehmen.

      «Wir sollten abhauen, Fumika.»

      «Zu spät.»

      «Man wird uns einsperren.»

      «Aber


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