Kamikaze Mozart. Daniel de Roulet

Kamikaze Mozart - Daniel de Roulet


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Tasten gegen die Müdigkeit an. Der Lehrer schrieb ihr immer ganz genau das tägliche Übungspensum auf. Und er brachte jede Woche neue Partituren mit.

      Mit zehn Jahren konnte sie ihr erstes Konzert auswendig spielen. Köchelverzeichnis 482, um genau zu sein. Die Inspektorin schreibt sich die Nummer auf. Das Dorf hatte nur sechstausend Einwohner, die Musikschule war sein ganzer Stolz. Ein Mäzen namens vom Pokk hatte die Errichtung des Gebäudes bezahlt und Instrumente gestiftet. Ein ordentlich gestimmtes Klavier für ihre mittellose Mutter. Jedes Jahr bewilligte Paul vom Pokk einem verdienstvollen Schüler ein Stipendium für ein Musikstudium in Nagasaki. Zur Einweihung der Schule war der Mäzen persönlich erschienen. Fumika hatte mit einem alten Mann mit geschmacklosen Fingerringen gerechnet, aber er war im selben Alter wie ihr verstorbener Vater. In den Ruinen des Erdbebens hatte der junge Ingenieur und Erbe eines Zementfabrikanten eine Rettungsmannschaft begleitet. Statt einfach Säcke mit Schweizer Zement für den Wiederaufbau des Landes zu spenden, hatte er sich für das Schicksal der Kinder interessiert, für ihre musikalische Ausbildung.

      Mit vierzehn durfte sie ans Konservatorium von Nagasaki gehen. Ihre Mutter gab sie in die Obhut von Tante Yu, in deren Haus sich Fumika mit drei Cousins und Cousinen ein Zimmer teilte. Morgens stand sie immer früh auf und kam erst zum Abendessen wieder nach Hause. Neben den Klavierstunden wurde sie in Musiktheorie und Musikgeschichte unterrichtet. Sie träumte von Salzburg am Ende des 18. Jahrhunderts, hätte gern den ersten Wolfgang kennengelernt.

      Ihr Lehrer am städtischen Konservatorium, ein Mann um die Dreißig und schon mit Glatze, vermittelte ihr seine Kunst. Er sparte nicht mit Lob, sagte oft etwas Nettes, wenn sie eine Passage gut gespielt hatte. Einmal schob er ihr eine Hand zwischen die Schenkel, aber das sagt sie der Inspektorin nicht.

      Mit achtzehn, nach ihrem Konzertdiplom, kandidierte sie für das Auswahlverfahren. Ein internationales Stipendium für ein Musikstudium in den Vereinigten Staaten, ebenfalls von Paul vom Pokk gestiftet. Sie trug ein vom zwölfjährigen Mozart komponiertes Concerto vor. Schwer zu spielen, selbst für Ältere. Die Jury beglückwünschte sie, verlieh den Preis aber dem Sohn des Konservatoriumdirektors, dem jeder ansehen konnte, dass er weder Talent noch Lust zu lernen hatte. Im Jahr darauf wählte die Jury, diesmal keiner Anweisung unterworfen, einstimmig Fumika und beglückwünschte auch ihre Mutter. Die freute sich, dass ihre vielversprechende Tochter eines Tages genug verdienen würde, um eine ganze Familie zu ernähren.

      Drei Wochen später, im August 1940, ging sie an Bord eines Passagierschiffs, das von Tokio nach San Francisco zwölf Tage brauchte, mit Zwischenstation auf Hawaii. In Berkeley wurde Shizuko, die erste Studentin, die sie nach ihrer Überfahrt kennengelernt hatte, ihre beste Freundin. Schade, dass diese nun unauffindbar ist.

      Ende der Aussage, Fumika unterschreibt. Die Inspektorin fügt das Datum ein und setzt zwei Stempel aufs Papier. Auch sie will sich nicht zu Shizukos Verbleib äußern.

      Dann begleiten zwei Frauen in Uniform Fumika bis zu Zelt 415, durchwühlen ihre spärliche Habe, finden ohne langes Suchen den ins Kopfkissen eingenähten Brief ihres Verlobten. Die Entdeckung hat, wer weiß warum, zur Folge, dass Fumika nicht tätowiert wird. Man verlegt sie in einen aus Stein gebauten Pferdestall, Gebäude 321, in dem bereits drei Familien zusammengepfercht sind, deren kleine Kinder im Stroh schlafen.

      Da diese Japaner schon seit zwei Generationen in Kalifornien leben, sind sie nicht begeistert von ihrer Gegenwart. Sie sind Bürger der Vereinigten Staaten, haben alle japanischen Traditionen abgelegt. Wäre nicht ihre Hautfarbe, hätte niemand das Recht, ihnen Scherereien zu machen. Ein würdevoller älterer Herr schildert ihr seine militärische Laufbahn in allen Einzelheiten. Während des Ersten Weltkriegs sei er Infanterist bei den nordamerikanischen Streitkräften gewesen, habe an der Seite der Franzosen in Belgien gekämpft. Wegen des Giftgases habe er einen Lungenflügel verloren. Doch um das Sternenbanner zu verteidigen, wäre er bereit, abermals seinen Dienst anzutreten. Fumika nickt, vermeidet es, ihm zu widersprechen, bietet an, seine Stiefel zu wienern. Zwei Tage dauert es, bis der ehemalige Soldat ihr Angebot annimmt. Schließlich erklärt er, die Neue stehe unter seinem Schutz. Er werde sie die Kunst des Grabenkampfes lehren. Um ihn nicht zu verärgern, versteckt sich Fumika unter dem Tisch und hechtet mit lautem «Ta-ta-ta-ta!» hervor. Er sagt, wenn man ein guter Krieger sein wolle, dürfe man nicht davor zurückschrecken, sich auch selbst zu töten. Zum Glück ist Fumika kein echter Soldat.

      Ein paar Tage später reicht sie im Ermittlungsbüro einen Antrag ein. Doch obwohl sie alle Verwaltungsformulare ausgefüllt hat, gibt man ihr weder das Foto noch den Brief ihres Verlobten zurück. Im Pferdestall stattet ihr ein Inspektor des militärischen Geheimdiensts einen Besuch ab. Er sieht verärgert aus. Sie muss ihm auf eine der oberen Tribünen des Stadions folgen, wo er sie auffordert, genau zu erklären, welche Art von Verbindung sie zu dem von ihrer Familie ausgewählten japanischen Flieger unterhält. Wieder versichert sie, dass sie ihm nie begegnet ist. Vor zwei Jahren sei sie dank eines Schweizer Stipendiums und des Vertrauens, das ihr Lehrer in Nagasaki in sie gesetzt habe, der inzwischen auf dem Feld der Ehre gefallen sei, zum Klavierstudium nach Berkeley gekommen. Der Inspektor wundert sich:

      «Welches Feld der Ehre?»

      «Der Dienst an unserem Kaiser.»

      «Wo?»

      «Jetzt ist er im Paradies.»

      Von der Ohrfeige, die sie ihm geben musste, damit er seine Hand von ihren Schenkeln nahm, erzählt ihm Fumika nicht. Stattdessen erklärt sie, jetzt, im Mai 1942, würde sie sich, wenn sie nicht in diesem Lager inhaftiert wäre, auf ihr für August geplantes Konzertdiplom vorbereiten. Danach wolle sie nach Hause, nach Japan, zurückkehren, trotz der Angebote des Direktors des Symphonieorchesters von Kalifornien, der ihr eine steile Karriere prophezeit habe.

      Am nächsten Morgen ruft der Inspektor sie erneut zu sich, um mehr über ihre Kindheit, ihren Klavierlehrer, ihre Familie zu erfahren. Er interessiert sich für die von Seiner Majestät unserem Kaiser angeordneten patriotischen Übungen am Konservatorium von Nagasaki. Und sie muss alles aufzählen, was sie über den Arbeitsablauf in der Mitsubishi-Werft unten vor Tante Yus Terrasse weiß. Abends, bei Sonnenuntergang, sah man nicht selten einen Flugzeugträger mit Dutzenden an Deck aufgereihter Jagdflugzeuge vom Typ Zero aufs Meer hinausfahren. Während sie ihrem Onkel, der als Lehrer an einem technischen Gymnasium arbeitete, den Rücken massierte, zählte dieser laut die Rettungsboote. Seiner Meinung nach war das die beste Methode, um herauszufinden, wie viele Seeleute an Bord waren. Auf zwei Männer kommt je ein Platz im Rettungsboot. Ein japanisches Schiff sinkt nie, ohne die Hälfte seiner Besatzung mit in die Tiefe zu reißen.

      Sie kehrt zum Pferdestall und zu den Kindern zurück, denen sie beibringt, wie man Papier zu kleinen Schönwetterwolken faltet. Da es kein Buntpapier gibt, benutzen sie Essensverpackungen. Zum Beispiel Kakaotüten. Aber für die Wolkenpfoten fehlen ihr Trinkhalme. Die erwachsenen Kalifornier benutzen nämlich zum Trinken von Obstsäften ein höchst raffiniertes Nuckelsystem. Ein Trinkhalm ist ein Röhrchen, das man ins Glas steckt und durch das man die Flüssigkeit einsaugt. Wenn am Boden des Glases oder des Bechers oder in der Flasche nichts mehr übrig ist, erzeugt das Saugen ein lautes Geräusch, das Kinder nicht in die Länge ziehen dürfen. Seitdem die langen Trinkhalme im Lager Mangelware sind, vermissen alle dieses Schlürfgeräusch.

      In Friedenszeiten kamen die Wettliebhaber jeden Sonntag hierher zur Rennbahn, um auf die glänzenden, herausgeputzten Pferde zu setzen. Auf der großen Tafel stehen immer noch die Namen der letzten Wette. Was ist aus den Reichen geworden, die hier ihre Mätressen spazieren führten? Und aus den Armen, die ihre gesamten Wochenersparnisse auf ein einziges Pferd setzten? An den Giebeln der winzigen, hinter den Tribünen aufgereihten Häuschen stehen noch die Startzeiten des letzten Rennens, die Sitzplatzpreise und die Namen der Pferde: Artamis, Balthazar, Camellia. Wenn der Krieg vorbei ist, werden sie wiederkommen. Und da in den zu Schlafsälen umfunktionierten Boxen noch immer der Geruch nach Pferdeäpfeln hängt, werden die Stuten sich wohlfühlen.

      Die Zeit vergeht sehr langsam, wenn man kein Klavier hat. Die Gedanken schweifen in alle Richtungen. Abends kann Fumika nicht einschlafen, wandert am Zaun entlang, vorsichtig, um nicht vom beweglichen Lichtstrahl erfasst zu werden, mit dem der Soldat herumspielt. Er richtet seinen Schweinwerfer auf die Erde, da er ja nicht die Sterne am Himmel anstrahlen kann. Auch der alte Japaner, der


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