Kamikaze Mozart. Daniel de Roulet

Kamikaze Mozart - Daniel de Roulet


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rasieren, uns die Nägel ausreißen.»

      Fumika will dem Ganzen etwas Positives abgewinnen, sagt, jetzt habe sie eine gute Ausrede, um nicht nach Japan zurückzukehren. Um diesen Herrn Tsutsui nicht zu heiraten. Und auf Wolfgangs Rückkehr zu warten. Wenn der erfahre, dass sie in Schwierigkeiten steckt, werde er kommen, um sie zu retten.

      Im Gegenteil, meint Shizuko, Liebe und Krieg dürfe man nicht durcheinanderbringen. Es ist so ungerecht, wenn das Leben eine Wendung ins Unglück nimmt. Sie sind beide dreiundzwanzig Jahre alt. Wäre das nicht genau der richtige Moment zum Glücklichsein? Außerdem war Shizuko am Abend mit einem neuen Verehrer im Bett verabredet. Ist das auch bald verboten?

      Zum Trost erzählt Fumika von früherem Schmerz. Von ihrem Vater, der starb, als sie erst vier war. Während des Erdbebens waren die Vulkane erwacht. Unter den Trümmern fand man seine Leiche nicht wieder. Eines Abends, als ihre Mutter dachte, sie schlafe, hörte Fumika ein Gespräch unter Erwachsenen mit an und erfuhr von dem Grauen, das geschehen war: Ihr Vater war in das kochende Wasser des Vulkans gefallen und hatte um sich geschlagen. Ihre Mutter erzählte den Erwachsenen, sein Körper sei weiß geworden wie ein Hühnchen im Kochtopf. Er habe entsetzlich geschrien, und niemand habe ihn retten können.

      Shizuko findet es unnötig, dass man ihr von fernen Abscheulichkeiten und vom Unglück anderer erzählt. Darüber lässt sich leicht reden, wenn man es selbst überlebt hat. Alles Vergangenheit. Aber wie man bevorstehendem Unglück begegnen soll, weiß man nicht. Fumika merkt, dass ihre Freundin anfängt, ins Blaue hinein zu philosophieren. Also gut, Shizukos Vater, wohnhaft im Staat Ohio, schlägt sie, was aber immer noch besser ist als sadistische Soldaten. Nein, sagt Shizuko, zu ihrem Vater geht sie nie mehr zurück. Sie spricht von ihm wie von einem Ungeheuer, dem sie für immer entkommen ist. Nichts wird besser mit der Zeit. Im Gegenteil, die Zeit zieht einen hinein in den Schmerz.

      Nehmen wir mal eine Mozart-Sonate. Erst kommen tieftraurige Passagen, als müsse die ganze Welt verzweifeln. Doch plötzlich huschen ein paar heitere Töne vorbei, berühren das Herz. Man hat das Gefühl, der Schmerz sei vorbei, die Leichtigkeit wieder da.

      Na gut, und was jetzt? Alles in einen Koffer packen und sich im Sammelzentrum einfinden? Ob auch die Partituren ins Gepäck passen? Lieber würden sie fliehen. Aber wie? Fumika könnte als Indianerin durchgehen, als Apachin oder Navajo zum Beispiel, und sich in einem pueblo in der Wüste verkriechen. Aber Shizuko würden alle ansehen, dass sie nicht von hier ist, das steht ihr ins Gesicht geschrieben. Deshalb wird sie sich auf einem Schiff verstecken und nach Europa reisen müssen. Aber da ist Krieg. Ob die Leute in Europa genug zu essen haben, um einen asiatischen Flüchtling zu ernähren?

      Sie beschließen, sich nicht von der Traurigkeit unterkriegen zu lassen. Dafür ist es noch zu früh. Dieser Krieg hier kann dauern. Doch was immer geschieht, sie werden sich nicht trennen, das schwören sie einander. Das gibt ihnen den Mut, zum Konservatorium zurückzufahren.

      In der Telegraph Avenue steigen sie ab und laufen neben dem Rad her, jede auf einer Seite. Die Männer in ihren zu großen Schaukelstühlen unter den Vordächern schauen ihnen wortlos hinterher. Seit einer Weile folgen ihnen drei Schüler mit Ranzen auf dem Rücken und machen sich über ihre Konservatoriumskopftücher lustig. Plötzlich schreit einer: «Dreckige Japsen!»

      Zwischen dem linken Ohr der einen und dem rechten der anderen zischt ein Steinchen vorbei.

      2

      Erster Brief

      Nagasaki, den 1. März 1942

      Sehr verehrtes Fräulein Fumika,

      meine liebe Verlobte!

      Ihre Mutter hat Ihnen die ausgezeichnete Nachricht übermittelt. Unseren Familien ist es gelungen, sich in allen Punkten, auch in der Geldfrage, zu einigen. Unsere Verlobung ist beschlossene Sache. Daher drängt es mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wäre Amerika nicht so weit von meiner Kaserne in Nagasaki entfernt, würde ich Sie in meinem Urlaub sehr gern besuchen. Aber der Pazifische Ozean wird uns noch für einige Monate trennen. So mache ich Ihnen brieflich den Hof, in der Vorfreude darauf, dass Sie zu unserer Vermählung im September in unser schönes Land zurückkehren. In der linken Tasche meines Waffenrocks trage ich das Foto bei mir, auf dem Sie am Klavier sitzen. Sie sind darauf sehr hübsch anzusehen, ganz besonders gefällt mir die Form Ihres Kinns und Ihr seitlich zusammengestecktes Haar. Ist diese Frisur bei den Studentinnen von Berkeley gerade in Mode? Wir hätten uns am Konservatorium von Nagasaki begegnen können. Dort habe ich zwei Jahre vor Ihnen mein Geigenstudium beendet. Doch nicht der Zufall hat uns zusammengeführt, sondern unsere Familien.

      Erlauben Sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle. Ich bin 1917 geboren und werde am 2. Mai fünfundzwanzig Jahre alt. Auf dem Foto, das ich diesem Brief beifüge, sehen Sie mich in der Uniform eines Unteroffiziers der Marine. Es ist meine Ausgehuniform, während der Flugübungen trage ich eine andere, da der weiße Stoff zu empfindlich ist. Mein Vater, Inhaber einer Firma für Paravents, beschäftigt elf Arbeiter und einige Frauen. Gewiss sind Sie schon einmal an unseren Werkstätten vorbeigekommen, sie liegen hinter dem Bahnhof, im oberen Teil des Parks. Bald wird mein älterer Bruder die Nachfolge unseres Vaters antreten. Meine Schwester, die zurzeit als Krankenschwester Dienst in unserer Armee tut, wird heiraten, sobald das Haus ihres Verlobten fertig ist. Sie, sehr verehrtes Fräulein Fumika, und ich werden dann bei meinen Eltern wohnen. Sobald Japan den Krieg gegen die Vereinigten Staaten gewonnen hat, werde ich mir eine radiologische Praxis einrichten, die uns erlauben sollte, bequem von unserer Arbeit zu leben. Ich bin mir sicher, dass Sie eine hervorragende Sprechstundenhilfe sein werden. Und an Patienten dürfte es uns angesichts des Krieges nicht mangeln.

      In meiner Kaserne lässt man uns nur wenig Zeit zur Erledigung unserer persönlichen Angelegenheiten, eine halbe Stunde pro Tag. Deshalb kann ich mir nicht gestatten, Ihnen einen langen Brief zu schreiben. Dennoch möchte ich eine Sache klarstellen, die unsere Ehe andernfalls unnötig belasten würde. Es geht um die Musik. Wie Sie wissen, ähnelt Ihr Leben in diesem Punkt dem meinen. Ich selbst könnte Ihnen noch heute mindestens sechs Sonaten von Tartini vorspielen. Doch ich bin zu der Ansicht gelangt, wir sollten Prioritäten setzen. Die Musik vermag unserem Vaterland nicht den führenden Platz zurückzugeben, der ihm gebührt. Deshalb müssen wir uns nach dem Krieg der Wissenschaft, ja sogar der Technik widmen, in meinem Falle der Radiologie.

      Ihre Mutter hat der meinen berichtet, dass Sie eine Laufbahn als Konzertpianistin anstreben. Leider muss ich Ihnen sagen, dass ich die Dinge anders sehe. Ich wünsche mir, dass Sie sich um die Erziehung unserer Kinder kümmern. Ich plane vier, wenn möglich drei Jungen. Da Sie als Pianistin Übung haben, werden Sie rasch lernen, Krankenberichte auf der Schreibmaschine zu tippen.

      Unser erfolgreicher Angriff auf die feindliche Flotte in Pearl Harbor im vergangenen Dezember garantiert uns ein rasches Kriegsende. Bald schon werden Sie bei Ihrer Rückkehr auf unseren Archipel einen Ozean überqueren, der endlich den Namen Pazifik verdient. So werden wir uns noch vor unserer Hochzeit im September kennenlernen. Dass unsere Familien unsere Verbindung arrangiert haben, muss nicht bedeuten, dass wir einander nicht wirklich gefallen könnten. Zurzeit sind unsere Mütter damit beschäftigt, die zeremonielle Kleidung und alles Nötige für die Ausstattung unseres Haushalts auszusuchen. Leider hindern mich meine intensiven Bemühungen um die Verteidigung unseres Vaterlandes daran, mich selbst darum zu kümmern.

      Ich hoffe, Sie erfreuen sich bester Gesundheit, und erflehe in dieser Hoffnung für Sie und Ihre Familie den Segen Seiner Majestät unseres Kaisers.

      Ihr Verlobter, Tetsuo Tsutsui

      3

      Das Sammellager

      Nach vierzehn Tagen Internierung wird Fumika erneut ins Ermittlungsbüro gerufen. Was wollen sie denn schon wieder von ihr? Zum dritten Mal schallt an diesem Morgen ihr Name aus dem Lautsprecher.

      Umgeben von penetrantem Mistgestank, wartet sie in der Schlange. Auf der ehemaligen Pferderennbahn stehen die Zelte so dicht nebeneinander, dass man jedes Gähnen aus dem Nachbarzelt hört. Bräunliches Segeltuch, hässlicher Militärstil. Um Platz für die Evakuierten zu schaffen, wurden die Rennpferde zu ihren Besitzern zurückgeschickt. Hinter den geschlossenen Wettbuden haben die Soldaten Stacheldraht gespannt. Gelbe drinnen, Bleichgesichter


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