Inspiration Schweiz. Группа авторов
des Elements erfasst auch den Besucher aus dem geschäftigen Zürich.
Martin Ebel
Der Elbenfreund im Berner Oberland
Seine Hobbits hat Tolkien kaum nach dem Vorbild der Schweizer modelliert. Als junger Wanderer erlebte der Autor von «Der Herr der Ringe» hier ein Glück von elbischer Pracht.
Auf der Suche nach schweizerischen Motiven im Werk des Schriftstellers und Philologen J. R. R. Tolkien kommt man auch auf einem Umweg ans Ziel. Der Umweg: Das ist ein Essay mit dem hinter- und ein wenig unsinnigen Titel «Jungfrauen im Nachthemd: Blonde Krieger aus dem Westen» (2003), in dem der österreichische Autor Guido Schwarz Tolkien faschistoide Züge vorwirft.
Es gibt sie eben immer noch: diese Fantasykritik aus dem Geist des ironisch getarnten Bierernstes, der uns die Freude an einer märchenhaften Weltschöpfung verderben will. Hier ist sie wieder, sozusagen als Verwechslung von Mittelerde und Erde und Elb und Nazi. Wobei Schwarz nicht immer ganz unrecht hat (der grundsätzlich multikulturelle Anstand des Professors Tolkien hat ein paar Anteile von reinrassiger, erzblonder Gnadenlosigkeit). Ausserdem teilt er uns die reizende Geschichte mit, wie seine Mutter einmal den «Kleinen Hobbit» las und auf die nette Allegorie kam: «Die Hobbits sind eigentlich die Schweizer.» Und da sind wir doch bei unserem Thema.
Die real existierende Beziehung Tolkiens zur Schweiz ist auf eine konservativ-romantische Art landschaftsgärtnerisch geprägt. Nicht viel mehr als die literarisch inspirierende Erinnerung eines englischen Touristen an eine Naturkulisse von interesseloser Erhabenheit. Erwägungen über das Hobbithafte der Schweizer Eingeborenen wurden nicht angestellt. Sicher ist, dass J. R. R. Tolkien im Jahr 1911, also als 19-Jähriger, der noch keine mittelirdische Geografie entwickelt hatte, zusammen mit elf Kameraden die Schweiz bewanderte. Der Weg führte unter anderem ins Lauterbrunnental, und Tolkien muss da die Erfahrung von ästhetischer und klimatischer Vollendung gemacht haben. Jedenfalls ist der Indizienbeweis, dass er gerade jenes Tal später elbisch mystifizierte, so ziemlich lückenlos.
Das Berner Oberland zwischen Lauterbrunnen und Stechelberg erscheint im «Hobbit» (1937) und im «Herrn der Ringe» (1954) als Rivendell (dt. Bruchtal), die Heimat von Elrond, dem Elbenfreund, in seiner unsterblichen Pracht. Und es sind Musik und Gesang in Elronds Halle des Feuers und ringsherum plätscherndes Wasser und der Duft von Bäumen und Blumen in allem. Der Fluss, der Rivendell durchfliesst, heisst Bruinen auf Elbisch oder Lautwasser in der Sprache der Menschen, und ein «Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur» empfiehlt dem Wanderer die Gegend vor allem im Herbst. Die Elben dort seien freundlicher als anderswo.
In Rivendells Osten ragt hoch das Nebelgebirg. Manche Interpretatoren, einmal im schweizerischen Schwung, haben da Eiger, Mönch und Jungfrau hineinprojiziert, und vielleicht hatten sie recht. Eine Primärquelle verweist mindestens auf eine Inspiration durch das der Jungfrau vorgelagerte Silberhorn, «die Silberzinne – Celebdil – meiner Träume» (so schrieb Tolkien noch 1968 an seinen Sohn), und wir erinnern uns: An der Flanke dieses Bergs zerschmetterte Gandalf der Graue den Balrog, jenen Feuerdämon aus den Tiefen des Ersten Zeitalters; sodass Eis und Glut, in denen dann Gandalf der Weisse geschmiedet wurde, im Grund berneroberländisch waren.
Überhaupt: Gandalf. Er scheint berglerische Verwandtschaft zu haben, wenn auch nicht schweizerische, streng genommen. In Tolkiens Nachlass fand sich eine Postkarte, auf der stand: «The Origin of Gandalf». Sie zeigte das Gemälde «Der Berggeist» (um 1925) des Allgäuers Josef Madlener (1881–1967), das in seiner Herzigkeit nur schwer auszuhalten ist: einen bärtigen Alten mit blauem Hut, der unter Tannen ein Reh streichelt, ein wenig sanfter Rübezahl, ein bisschen Schillers «Bergesalter» («Und mit seinen Götterhänden / Schützt er das gequälte Tier»). Und wenn das Gandalf ist, dann nicht jener, der Blitze schleudert in der Schlacht um Minas Tirith, sondern der, der gern mit Hobbits ein Pfeifchen raucht. Die Stimmung ist ausgesprochen vorälpisch, und in der Schweiz könnte auch das sein.
Dass jedoch die Hobbits Schweizer seien, wie die Mutter Schwarz vermutete, ist zu bezweifeln. Das machte ja Tolkien, der von sich sagte, er sei «in allem ein Hobbit, nur nicht in der Grösse», auch zum Schweizer und in der Logik von Guido Schwarz zum verschroben-heimeligen Fröntler. Und das wäre gewiss das saublödeste Klischee über einen mittelenglischen Fantasten, der zu anständig und zu altmodisch war fürs Faschistoide, vielleicht nicht als Verfassungs-, aber sicher als Herzensdemokrat mit einem Traum vom alten angelsächsischen Freibauerntum. Und mit einer Neigung zum englischen Frühstück, zu farbigen Westen und zu selbst bestellten Gärten, wo keine Maschine geduldet war ausser dem Handrasenmäher.
Ohnehin war der Sehnsuchtsort des Menschen und Philologen Tolkien nicht eine Gegend, sondern der Wohlklang und die Freiheit der Sprache, oder genauer: die friedliche Gemeinschaft jener, die in selbst erfundenen Elbenzungen reden. Einen von ihnen traf er als junger Leutnant 1916 an der Somme-Front, einen kleinen Mann, der während eines Vortrags über die Kunst, Menschen aufzuspiessen, plötzlich verträumt lächelte und sagte: «Ja, ich glaube, ich werde den Akkusativ mit einem Präfix ausdrücken.»
Christoph Schneider
Tödliche Verführung in
den Alpen
Hans Christian Andersen hat die berühmte Schneekönigin auch in der Schweiz auftreten lassen – in seinem Märchen «Die Eisjungfrau». Und diesmal siegt der kalte Tod.
Die Gemmiwand mit dem Pass steht da wie ein Riesenfels, den ein wütender Zyklop einmal durch die Gegend geschleudert haben könnte. Literaturliebhaber kenne sie als wildromantische Kulisse für das Literaturfestival Leukerbad und als Schauplatz einer traditionellen Mitternachtslesung – die über dem Abgrund schwankende Gondel in stockfinsterer Nacht suggeriert, dass man sich in einer Zone des Übergangs befindet.
Für den dänischen Märchendichter Hans Christian Andersen mit seinem spätromantischen Flair fürs Transitorische bevölkerten sich Berge, Gletscher und Täler zwischen Berner Oberland, Wallis und dem Genfersee auf seiner Schweizreise von 1861 mit fantastischen Wesen. Die nahmen auch gleich in einer Geschichte Gestalt an: Beim Schreiben fackelte Andersen nicht lange.
Doch bevor er seine Texte publizierte, las er sie in den Salons von Förderern und Bekannten vor, wobei ihn deren Reaktionen oft entweder in Euphorie oder in depressive Verstimmungen stürzen konnten. In seinen Tagebüchern liest sich das so: «Meine Stimmung ist zum Aus-der-Welt-Springen, glaube keinem, nicht einmal mir selbst. – Ich werde bestimmt verrückt.» Durchaus lebensfroh fügt er allerdings an: «Mittagessen bei Ørsteds».
Die Schweiz war für Hans Christian Andersen ein Hort der Ruhe, aber auch eine mächtige Quelle der Inspiration. Die Landschaften hatten es ihm angetan, und Wilhelm Tell stand im Olymp seiner persönlichen Helden ganz oben. Die überwältigenden Reiseerfahrungen aus den Schweizer Bergen schlugen sich in den ersten Sätzen seines Märchens «Die Eisjungfrau» nieder, das Andersen gleich nach seiner Reise von Grindelwald nach Bex zu schreiben begann, und der Protagonist der «Eisjungfrau» lässt sich als luftigere Variante des Schweizer Nationalhelden verstehen – als Wilhelm Tell mit einem Andersen-Herz.
Wie so viele der abgründig-aberwitzigen Texte des Dänen beginnt es mit einer direkten Ansprache des Märchenonkels an seine Leser: «Wir wollen einmal die Schweiz besuchen, uns in dem herrlichen Gebirgsland umsehen, wo die Wälder an den steilen Felswänden emporklettern; wir wollen auf die blendend weissen Schneefelder hinaufsteigen und wieder zu den grünen Wiesen hinabgehen, wo Flüsse und Bäche dahinrauschen.»
Andersen war ein leidenschaftlicher Reisender. Im 19. Jahrhundert war jede Reise ein Abenteuer, vor allem für den mäkeligen Hypochonder aus Odense. In seinen Tagebüchern beklagt er sich auch öfter über körperliches Unwohlsein und andere Unannehmlichkeiten. Seine Tagebücher dokumentieren