Inspiration Schweiz. Группа авторов
auf eine Berufswahl samt einem nachhaltigen Degout über das Leben in der Grossstadt.
Jetzt war die Zeit reif, das Leben in neue Bahnen zu lenken. Kleist wollte, seinem Idol Jean-Jacques Rousseau folgend, zurück zur Natur, «im eigentlichsten Sinne ein Bauer» werden und sich dazu mit Geld aus seiner Erbschaft in der Schweiz «ankaufen», wie er seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge noch aus Paris mitgeteilt hatte. Seine Formel für dieses Weltfluchtprogramm lautete: «Denn nur in der Welt ist es schmerzhaft, wenig zu sein, ausser ihr nicht.» Wilhelmine lehnte dankend ab. Kleist nahm ihr das übel. Ihr Verhältnis betrachtete er fortan als beendet.
Auf der Suche nach einem Landgut gelangte Kleist im Februar 1802 nach Thun. Bürgerkriegsähnliche Tumulte im Gefolge von napoleonischen Verfassungsreformen stellten Kleists Ansinnen jedoch schon bald infrage. Im April siedelte er auf die Obere Insel beim Ausfluss der Aare aus dem Thunersee über, wo er für vier Monate ein kleines Anwesen bezog, das sich auf der dem See zugewandten Inselspitze befand und 1940 abgerissen wurde.
In launigem Tonfall schilderte er seiner Halbschwester Ulrike den Alltag auf seinem folkloristischen Berner Réduit: «Auf der Insel wohnt auch weiter niemand, als eine Fischerfamilie. Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirthschaft führt: ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt, wie ihr Taufname: Mädeli.» Im Übrigen komme er selten von der Insel, «sehe niemand, lese keine Bücher, Zeitungen» und «brauche nichts als mich selbst».
Zuweilen erhielt Kleist Besuch von Heinrich Zschokke. Der gebürtige Magdeburger, ein umtriebiger Geist, wackerer Republikaner und studierter Theologe, lebte damals an der Gerechtigkeitsgasse in Bern, wo er Kleist beherbergt hatte, ehe dieser nach Thun gezogen war. In Zschokkes Wohnung hing ein Bild, das wohl in Vergessenheit geraten wäre, hätte es Kleist nicht zu seinem berühmtesten Lustspiel, dem «Zerbrochenen Krug», inspiriert. Der Kupferstich trug den Titel «Le juge ou la cruche cassée» und war Gegenstand eines «poetischen Wettkampfs».
Daran beteiligten sich neben Zschokke und Kleist auch Ludwig Wieland, der Sohn des Dichters Christoph Martin Wieland, sowie der Verleger Heinrich Gessner, Wielands Schwager und Hauswirt. In den Figuren dieses Stichs, erinnerte sich Zschokke 1842, «glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge, und einen grossnasigen Richter zu erkennen. Für Wieland sollte dies Aufgabe zu einer Satyre, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden.» Die Skizze, die Kleist den Sieg eintrug, ist nicht erhalten, ebenso wenig die erste Niederschrift des «Krugs» aus dem Jahre 1803. Gesichert ist jedoch, dass Kleist das Lustspiel im Sommer 1806 in Königsberg fertig stellte.
Seine Landmann-Pläne zu begraben, kostete Kleist nicht viel. Er setzte aufs Dichten und tat dies nun erstmals auch kund: Er müsse sich nun «mit Lust oder Unlust, gleichviel, an die Schriftstellerei machen», schrieb er im Mai 1802 im letzten Brief an Wilhelmine. Und kurze Zeit zuvor an Ulrike: «Ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht, und eine grosse That.»
Kleist hatte offenbar Gefallen gefunden an seinem Dichterexil. Er sei «von allem Gemeinen so entwöhnt, dass ich gar nicht mehr hinüber mögte an die andern Ufer, wenn ihr nicht da wohntet. Aber ich arbeite unaufhörlich von der Befreiung von der Verbannung du verstehst mich.»
Ulrike hat gewiss verstanden. Immer wieder hatte Kleist in den Briefen Heldenbilder gemalt. Hier imaginierte er erstmals den Dichter als Helden: als verbannten Sohn, der von den Fanfaren des Feuilletons begleitet nach Hause zurückkehrt, weil ihm der grosse Wurf gelungen ist. Ein Triumph, der umso kompletter wäre, weil seine Familie zu ihrer Beschämung endlich sähe, dass der Taugenichts eben doch gesellschaftsfähig ist.
Zwar wurde nicht zu Kleists Ruhm getrommelt, als er im Herbst 1802 ziemlich mittellos nach Deutschland zurückkehrte. Aber immerhin hatte er sein erstes Kind geboren, das Drama «Die Familie Schroffenstein», das zu grossen Teilen auf der Aareinsel entstanden und Ende November anonym im Verlag seines Freundes Heinrich Gessner erschienen war.
Dieser hatte Kleist zusammen mit Zschokke und Wieland mehrfach in Thun besucht; bei dieser Gelegenheit las Kleist dem Trio aus seinem Erstlingsdrama vor, was offenbar Stürme der Heiterkeit verursachte. In seinen Memoiren hielt Zschokke fest, dass bei der Lektüre des letzten Aktes, in dem die Familienfehde ihrem gräulichen Höhepunkt zutreibt, «das allseitige Gelächter so stürmisch und endlos ward, dass, bis zu seiner letzten Mordszene zu gelangen, Unmöglichkeit wurde».
Kleist nannte seinen Erstling später «eine elende Scharteke». Ihm schwebte Grösseres vor, ein epochales Werk, das «Kind, schön Gedicht, und grosse That» in einem hätte sein sollen. Seine ganzen Hoffnungen setzte er in das Trauerspiel «Robert Guiskard, Herzog der Normänner», an dem er vermutlich ebenfalls während seines Aufenthalts in Thun zu schreiben begonnen hatte. Das Stück wurde nie vollendet. Im Oktober 1803 verbrannte Kleist in Paris sein Guiskard-Manuskript, vernichtet von der Einsicht, dass dieses Werk «für mich zu schwer ist», und bereit, den «schönen Tod der Schlachten» in Napoleons Armee zu sterben. Doch das wäre dann ein anderes Kapitel aus Kleists Leben.
Urs Strässle
«Hier geboren, an dieses klaren Flusses Wellenspiel»
Dreimal verbrachte Johannes Brahms ausgedehnte Sommerferien in Thun. Beim ersten Aufenthalt entstand die A-Dur-Violinsonate, die «Thuner».
Gustav Mahler war ein Sommerkomponist. An seinen Sinfonien arbeiten konnte der Wiener Operndirektor nur in den Theaterferien. Johannes Brahms hatte keine derartige Hauptbeschäftigung, aber auch ihm ging im Sommer das Komponieren besonders leicht von der Hand, ob in Pörtschach, Ischl oder Mürzzuschlag in Österreich, in Wiesbaden oder Baden-Baden in Deutschland oder in der Schweiz.
Diesem Land war er seit einer Reise, die er mit Clara Schumann und deren Kindern (nach dem Tod von Robert) unternommen hatte, schwärmerisch zugetan und kehrte immer wieder. Zwar war die Schweiz musikalisch nur «halb entwickelt», aber in Basel und Bern, Zürich und Winterthur sassen begeisterte «Brahminen», die sein Werk propagierten und ihren Schöpfer gern empfingen.
«Schweizer Sommer» verbrachte Brahms 1866 in Fluntern und 1874 in Rüschlikon; 1868 nahm er seinen Vater ins Berner Oberland mit. Von Rosenlaui aus schrieb er an Clara eine Postkarte mit einer Alphornmelodie, der er den Text unterlegte: «Hoch aufm Berg – tief im Tal – grüss ich Dich – vieltausend Mal.» Er hat das Signal dann im Schlusssatz seiner Ersten Sinfonie markant eingesetzt.
Drei Sommer, von 1886 bis 1888, hat Brahms in Thun verbracht. Zahlreiche Werke entstanden dort, die zweifellos von der lieblichen Landschaft und deren Kontrast mit der Hochgebirgssilhouette angeregt wurden, ohne dass ein vergleichsweise signalhafter Bezug nachzuweisen wäre. Aber das ist bei der Musik, zumal bei einem «Nichtprogrammatiker» wie Brahms, ohnehin schwer.
Im ersten Sommer – ein langer Sommer, er dauerte vom 27. Mai bis zum 5. Oktober – entstanden mehrere Kammermusikwerke, darunter die 2. Cellosonate op. 99, das 3. Klaviertrio op. 101 sowie Lieder und Chorsätze. Die 2. Violinsonate op. 100, die er ebenfalls in diesen Wochen schrieb, trägt gar den Beinamen «Thuner Sonate». Sie «malt» die Landschaft nicht, sondern zeigt höchstens einen Abdruck der wohlig-beschwingten Stimmung, die Brahms in seiner Sommerresidenz erfüllte. Er hatte sich beim Tischlermeister und Kaufmann Johann Spring eingemietet, im heute eingemeindeten Vorort Hofstetten in einem geräumigen Holzhaus direkt am Ufer der Aare, mit Blick auf den Fluss und die Bergriesen dahinter: Niesen, Eiger, Mönch, Jungfrau.
«Ich glaube, es ist die schönste Wohnung, die ich noch hatte», schreibt er an seinen Verleger Simrock. Er hatte Platz (zum Auf- und Abgehen durch mehrere Zimmer, dabei komponierte er), und er hatte Ruhe; im nahen Bern wohnte Joseph Viktor Widmann, Redaktor beim «Bund» und ein alter Freund, den er übers Wochenende besuchen konnte. Der «Freienhof», ein gemütlicher Biergarten, war nicht weit, «für meine Behaglichkeit ist das nichts Kleines». Zu dieser Behaglichkeit gehörte gutes Essen, guter Wein, eine kräftige Zigarre