50 Jahre Speech-Acts. Группа авторов

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gegenüber gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen und erst recht gegenüber einer göttlichen Macht eingeräumt wird. Diesen Vorrang aber nicht in naivem Fortschrittsoptimismus als größere Entsprechung mit den Tatsachen, sondern eben als Produkt historisch gebundener Diskurse zu sehen, scheint mir die eigentliche Herausforderung der vormodernen Sprechaktanalysen zu sein.

      4 750 Jahre Sprechakttheorie?

      Wenn sich nun schon bei Thomas von Aquin ganz systematische und mit modernen Ansätzen vergleichbare Analysen von dem finden, was sich in neuerer Terminologie als Sprechakt bezeichnen lässt – müssen wir dann statt des 50-jährigen nicht vielmehr das 750-jährige Jubiläum der Sprechakttheorie feiern? Nein, natürlich nicht. Schon die Textsorten sind völlig andere. Thomas von Aquins Analysen und deutlicher noch die im Zedler sind explizit normative Handreichungen für gute Christen bzw. für gute Bürger.1 Gerade die hier gewählten Beispiele des Versprechens und der Drohung sind schließlich auch juristisch relevante Handlungen,2 für die die Analysen im Zedler eben auch praxisrelevantes Wissen bereitstellen.3 Das für die moderne Sprechakttheorie charakteristische sprachtheoretische Interesse, das am Beispiel konkreter Sprechhandlungen die weitreichendere These ausarbeitet, dass Sprechen überhaupt Handeln ist, und auch die Pointe, selbst in den Konstativa noch performative Aspekte aufzuspüren (vgl. Austin 1968) – all das hat in den vormodernen Analysen keine Entsprechung (vgl. Wichter 1996). Für die Linguistik besonders interessant sind schließlich die semantischen Engführungen der Sprechakttheorie bei Searle, welche die Semantik etwa von sprechhandlungsbezeichnenden Verben als Gebrauchsregeln für oberflächensprachliche Indikatoren der illokutionären Rolle beschreibbar macht (vgl. Harras/Proost/Winkler 2007). Auch das hat keine Entsprechung in den vormodernen Analysen.

      Mit anderen Worten: Die Eigenständigkeit der Sprechakttheorie und auch ihre zentrale Rolle für die Gegenstandskonstitution der linguistischen Pragmatik sollen hier nicht in Abrede gestellt werden. Erst recht nicht sollen der linguistischen Pragmatik die Analysen von Thomas von Aquin und anderen als Vorbilder anempfohlen werden. Und so wird hier auch nicht gefordert, dass die moderne Sprechakttheorie ihre Prägung durch individualistischen und ökonomisch-liberalen Vorannahmen überwinden müsse. Es geht nur (und das ist nicht einmal wenig) darum, dass diese Prägung bewusst gemacht wird, um vorschnellen theoretischen Generalisierungen, auch in den eigentlich partikularisierenden Anwendungen wie der Historical Pragmatics, vorzubeugen.

      5 Ausblick: Grenzziehungen zwischen Sprechen und Handeln

      Noch etwas fällt auf, wenn man vormoderne Sprechaktanalysen mit modernen vergleicht: Die Grenzen zwischen Sprechen und Handeln wurden offenbar zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich gezogen. Insgesamt findet man in den vormodernen Analysen ein ausgesprochen intrikates Verhältnis von Sprechen und Handeln (für Thomas von Aquin vgl. Nissing 2006). Dazu sei hier noch ein Eintrag aus dem Zedler zum Verbieten herangezogen, in dem es heißt:

      Verbieten […] heißt eigentlich so viel, als einem etwas untersagen, oder nicht verstatten wollen, welches ihm sonst gar wohl frey gestanden, und er auch ausserdem ohne Bedencken tun mögen. Und zwar geschieht solches auf zweyerley Art, mit Worten, oder mit der That. Jenes heisset insgemein ein Verbot, dieses aber eine Gewalt, welche entweder mit der blossen Hand, oder auch wohl mit Gewehr und Waffen, u. s. w. geschiehet. Eigentlich ist ein Verbieten ein Wehren von demjenigen, welcher das Recht hat, einen andern, darzu zu verbinden, etwas zu thun oder nicht zu thun. Wehren aber heisset, einem andern seinen Willen, daß er etwas nicht thun solle, dergestalt zu erkennen zu geben, daß man seiner Willkühr nicht gesetzt seyn lässet, ob er dasselbige unterlassen wolle oder nicht. (Zedler 1746, Bd. 47, Sp. 161f.)

      Verbieten wird hier als Handlung eingeführt, die sich sprachlich wie nichtsprachlich vollziehen kann. In beiden Fällen jedoch ist es kommunikatives, bedeutungsvolles Handeln in dem Sinne, dass es einen Willen zu erkennen gibt.1 Ähnliches lässt sich für Beleidigungen zeigen, womit in den frühneuzeitlichen Quellen nicht nur die sprachliche Beleidigung – die sogenannte Verbal-Injurie –, sondern jede Tat bezeichnet ist, durch welche man einem vermittelst der Unterlassung einer ihm schuldigen Pflicht, sein gebührendes Recht versaget (Zedler 1733, Bd. 3, Sp. 1013; vgl. hierzu auch Meier 2015). Und Konversation umfasste weit über das Gespräch hinaus überhaupt alle Formen geselligen Umgangs (vgl. Linke 1996, S. 133). Dass Sprechen überhaupt Handeln ist, wie es geradezu ein Axiom der gegenwärtigen, pragmatisch orientierten Linguistik ist, ist wohl kaum standardmäßiges frühneuzeitliches Gelehrtenwissen gewesen. Aber umgekehrt sind zahlreiche Typen von Handlungen Reflexionsgegenstand gewesen, die sich sprachlich ausprägen können, aber nicht müssen, und deren Einbettung in gesellschaftliche Machtzusammenhänge im Übrigen immer mitgedacht wird.

      Demgegenüber sind die moderne Sprechakttheorie und auch die durch sie inspirierten diskurstheoretischen Ansätze etwa bei Habermas (1971) von einer konsequenten Versprachlichung des Sozialen gekennzeichnet (vgl. Deppermann/Feilke/Linke 2016, S. 13f.). Soziales Handeln wird konsequent von der Sprache her gedacht, und selbst Institutionen und die von ihnen ausgehende Macht bzw. Machteinschränkung werden im sprechakttheoretischen Framework als sprachlich konstituiert vorgestellt (vgl. Leezenberg 2013, S. 295). In neueren Diskussionen um die Theorie der Praktiken, die sich üblicherweise von der als zu intentionalistisch kritisierten Sprechakttheorie distanziert, wird dies längst moniert. Statt „bewussten, zweckrationalen Akteursintentionen“ gilt die „Einsozialisierung in kontextgebundene Gepflogenheiten“ (Deppermann/Feilke/Linke 2016, S. 8) als Grundlage für gelungene Realisierungen von Praktiken. Gegen ein allzu abstraktes Verständnis von sprachlichem Handeln (vgl. Deppermann 2015, S. 328) und gewissermaßen für eine Re-Sozialisierung von Sprache wird darauf hingearbeitet, Sprache wieder zu erden, ihren leiblichen Vollzug, aber auch ihre Prägung durch außersprachliche und dispositive (vgl. Spieß 2012) Faktoren grundlegend zu berücksichtigen. Es wäre auch hier ganz sicher übertrieben zu sagen, dass die untersuchten historischen Quellen hierfür ein Vorbild sein können. Denn aller Detailliertheit zum Trotz sind sie als theoretische Reflexionen zu weit entfernt von Zeugnissen konkreter kommunikativer Praxis, die Gegenstand empirischer Analysen werden könnte. Dennoch können sie in ihrer Andersartigkeit vor Augen führen, welche historisch situierten Wissensbestände die heutige, tendenziell versprachlichte Sicht auf das Soziale grundieren. Und das dürfte dann auch zur Dekonstruktion dieser Sicht einen Beitrag leisten.

      Literatur

      a) Quellen

      Hobbes, Thomas (1651): Leviathan or the matter, forme, & power of a common-wealth ecclesiasticall and civill. London: Crooke.

      Pufendorff, Samuel von (1711): Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte. Franckfurt: Knochen. Original: Samuelis Pufendorfii De iure naturae et gentium libri octo. Londoni Scanorum: Junghans 1672.

      Walch, Johann Georg (1726): Philosophisches Lexicon […]. Leipzig: Gleditsch.

      Thomas von Aquin (o.J.): Summe der Theologie. In: Emmenegger, Gregor (Hg.): Bibliothek der Kirchenväter. Online unter: www.unifr.ch/bkv/summa/

      Zedler, Johann Heinrich (Hg.) (1732–54): Grosses Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste […]. Halle, Leipzig: Zedler.

      b) Forschungsliteratur

      Apeltauer, Ernst (1977): Drohen. In: Sprengel, Konrad/Bald, Wolf-Dietrich/Viethen, Heinz Werner (Hg.): Semantik und Pragmatik. Bd. 2. Tübingen: Niemeyer. S. 187–198.

      Austin, John L. (1962): How to do things with words. Oxford: Clarendon.

      Austin, John L. (1968): Performative und konstatierende Äußerung. In: Bubner, Rüdiger (Hg.): Sprache und Analysis. Texte zur englischen Philosophie der Gegenwart. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 140–153.

      Boulter, Stephen J. (2006): Aquinas and Searle on singular thoughts. In: Paterson, Craig/Pugh, Matthew S. (Hg.): Analytical Thomism: Traditions in dialogue. London, New York: Ashgate. S. 59–78.

      Bülow, Lars/Bung, Jochen/Harnisch, Rüdiger/Wernsmann, Rainer (Hg.) (2016): Performativität in Sprache und Recht. Berlin, Boston: De Gruyter.

      Bung,


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