50 Jahre Speech-Acts. Группа авторов
Tab. 1:
Analysen der Drohung im Vergleich: Parallelen
Doch auch hier zeigen sich deutliche Unterschiede. Auffällig ist abermals, dass die in den modernen Analysen genannten Bedingungen, welche die Präferenzen der Beteiligten betreffen, in der Analyse im Zedler keine direkte Entsprechung haben. Zwar wird hier wiederholt von dem Uebel gesprochen, welches durch die Drohung in Aussicht gestellt wird, doch leitet sich dieses Übel vornehmlich aus objektiv geltenden, durch Gesetze abgesicherten und mithin auch vernünftig einsehbaren Wertmaßstäben her. Letztlich besteht das Übel in einer aus dem Gesetz abgeleiteten Strafe für unbotmäßiges Verhalten, wie es allein unvernünftige Menschen an den Tag legen. Erst wieder die Gesetze streitende Handlungen und nicht schon bloße Dispräferenzen geben für Drohungen Anlass, und so ist die Analyse im Zedler ganz vom geltenden, objektiven Rechtssystem her perspektiviert. Demgegenüber wird in den modernen Analysen ganz auf subjektive Präferenzen umgestellt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Apeltauer (1977) zufolge bewertet S den zu erwartenden Situationsverlauf negativ und präferiert einen anderen; H wiederum bewertet das angedrohte negativ, so dass er seine ursprünglichen Präferenzen zurückstellt und in seinem eigenen Interesse die des Sprechers übernimmt.
Sprechakttheorie nach Searle | Zedler 1734 |
Subjektive Bewertungen und Präferenzen | objektive, d.h. vernünftig einsehbare Rechtmäßigkeit |
Tab. 2:
Analysen der Drohung im Vergleich: Unterschiede
Der prototypische Situationsverlauf der Drohung wird in den modernen Analysen also ganz aus der Perspektive des Individuums und seiner Präferenzstrukturen erfasst.
3 Historizität der Sprechakttheorie
Gerade diese Unterschiede möchte ich nun zum Anlass nehmen, gegen den üblichen Universalitätsanspruch des sprechakttheoretischen Frameworks nach seiner zeitgebundenen Prägung zu fragen. Dass die systematisierende Reflexion über Gelingens- und Misslingensbedingungen von Handlungen wie dem Versprechen oder der Drohung mitnichten ein völlig neuer theoretischer Analysezugang ist, haben die beiden voranstehenden Fallstudien gezeigt (ähnliches kann auch für Handlungen wie Entschuldigungen oder Ratschläge gezeigt werden, denen im Zedler lange und ähnlich systematische Einträge gewidmet sind). Und selbst sprachliche Details des Vollzugs dieser Handlungen werden, wie beim Versprechen gesehen, wenigstens andeutungshaft einbezogen. Wie aber die Gelingensbedingungen identifiziert und formuliert werden und was hierbei Berücksichtigung findet und was nicht, hängt von einer Reihe von historisch-kulturell geprägten Vorannahmen ab.
So erscheinen bei Thomas von Aquin das bessere Gut (melius bonum) und mithin Tugendwerke (opera virtutis) als bevorzugte Gegenstände von Versprechen (II, 2, 88 a. 2), womit Gottgefälligkeit als entscheidendes Richtmaß für die theoretische Reflexion dieser Handlung ausgewiesen ist und auch die Formulierung der Bedingungen gültiger Versprechen prägt. In den frühneuzeitlichen Analysen spiegelt sich dagegen das naturrechtlich geprägte Weltbild wider, in dem geltendes Recht in der ständegesellschaftlichen Grundordnung als vernunftmäßig erkennbares Recht gefasst und legitimiert wird (vgl. Döring 2001, S. 35f.), so dass auch in der theoretischen Reflexion über Handlungen auf eben dieses Recht Bezug genommen werden muss. Vor diesem Hintergrund erscheinen nun die modernen Sprechaktanalysen, die bei der Analyse und Klassifikation von Sprechhandlungen ganz auf individuelle Glaubenszustände und subjektive Präferenzen abstellen, als individualistisch und, so meine These, auch ökonomisch-liberal geprägt. Ähnlich wie in utilitaristischen Ethiken mit ihrem Konzept der Nutzenkalküle (Kutschera 1999; Riley 2008) ist zentraler Bezugspunkt das letztlich ökonomisch räsonierende Individuum. So prägen Ausdrücke wie benefit, to prefer und interest die modernen Analysen, und ganz ausdrücklich schreibt Searle zu dem Teil seiner Analyse des Versprechens, der sich den Präferenzen der Sprecher_innen widmet und diese noch genauer als „needs, desires“ (Searle 1969, S. 58) fasst:
I think a more elegant and exact formulation would require the introduction of technical terminology of the welfare economics sort. (Searle 1969, S. 59)1
Gerade dieser beiläufige Rekurs auf die Wohlfahrtsökonomie, die wie der eng verwandte Utilitarismus im Liberalismus des 19. Jahrhunderts wurzelt (vgl. Kleinewefers 2008, S. 35–37), macht deutlich, wie sehr der Searle’sche Entwurf durch historisch gebundene Vorannahmen geprägt ist – und mit ihm auch neuere Ansätze, die allen Modifikationen zum Trotz doch zumindest die Zentralität präferenz- und interessensbezogener Begriffe übernehmen.
Diese historische Prägung der modernen Sprechakttheorie mag dadurch kaschiert werden, dass sie sich in naturalistischer Weise auf vermeintlich überzeitliche „expressed psychological states“ (Searle 1969, S. 70) beruft.2 Der Kontrast mit den vormodernen Analysen, die im Prinzip ähnlich, aber doch ganz anders vorgehen, zeigt jedoch, wie viel an historisch-kulturell geprägten Vorannahmen dieser Engführung auf individuell verfügbare psychische Zustände schon vorausgeht. Dass in den vormodernen Analysen die subjektiven Präferenzen kaum ausschlaggebend sind, ist für diese Zeit so bezeichnend wie für die heutige die Tatsache, dass gesellschaftliche Rangordnungen und erst recht solche Aspekte wie Schicklichkeit tendenziell für irrelevant gehalten werden oder zumindest das eigentliche Regelset für den Vollzug von Sprechakten nicht unmittelbar betreffen.
In ganz ähnlicher Weise hat die Anthropologin Rosaldo (1982) die Searle’sche Theorie aus ethnologisch-kulturvergleichender Perspektive einer grundlegenden Kritik unterzogen (vgl. auch Richland 2013). In nur unzureichend reflektierter Weise sei die Sprechakttheorie an ganz grundlegende, aber kulturspezifische Vorannahmen über „human agency and personhood“ (Rosaldo 1982, S. 203) gebunden, und gerade in seiner Analyse des Versprechens „Searle […] himself falls victim to folk views that locate social meaning first in private persons“ (Rosaldo 1982, S. 212). Die vermeintlich universellen Termini seien deshalb Ergebnis einer nicht als solche erkannten Generalisierung von „culturally particular views of human acts, intentions, and beliefs“ (Rosaldo 1982, S. 212). Grundlage für Rosaldos Kritik sind ethnographische Beobachtungen der Ilongot auf den Philippinen, und ihr Argument lautet wohlgemerkt weniger, dass dort Sprechhandlungen selbst anders vollzogen würden als in ihrer eigenen Gesellschaft in den USA. Vielmehr erweist sich der sprechakttheoretische Zugriff mit seinen individualistischen Grundannahmen als inadäquat für die ethnographische Beschreibung. Umgekehrt wird dadurch die Sprechakttheorie selbst als Ethnographie der eigenen Gesellschaft lesbar:
Searle uses English performative verbs as guides to something like a universal law. I think his efforts might better be understood as an ethnography – however partial – of contemporary views of human personhood and action as these are linked to culturally particular modes of speaking. (Rosaldo 1982, S. 228)
Dieser metatheoretischen Wendung folgend und ganz im Sinne von Foucaults Verständnis von Geschichte als Ethnologie der eigenen Kultur (vgl. Foucault 2001, S. 766f.) können die hier diskutierten vormodernen Sprechaktanalysen Anlass sein, die