Steuerstrafrecht. Johannes Franciscus Corsten
Rspr. des BGH, mit der das Gericht auch dann auf die niedrigere Betragsgrenze von 50 000 EUR abstellte, wenn der Täter steuermindernde Umstände vortäuscht, indem er etwa nicht entstandene Betriebsausgaben oder Vorsteuerbeträge geltend macht.[775] Die Begründung lautete, der Täter unternehme auch in diesen Fällen einen „Griff in die Kasse“ des Staates, „weil die Tat zu einer Erstattung eines (tatsächlich nicht bestehenden) Steuerguthabens oder zum (scheinbaren) Erlöschen einer bestehenden Steuerforderung führen soll“.[776] So stellte der BGH bei der Geltendmachung nicht bestehender Vorsteueransprüche auf die Summe des zu Unrecht anerkannten (bzw. in Versuchsfällen des geltend gemachten) Vorsteuerabzugs ab, nicht auf die Auszahlungshöhe.[777] Zuzustimmen war dem BGH (nur) insoweit, als er dazu ausführte, dass in dem Auszahlungsbetrag auch rechtmäßig geltend gemachte Vorsteuerbeträge enthalten sein können, die somit nichts über die Höhe der verkürzten Steuern aussagen.[778] Unzutreffend stellte der BGH aber nicht auf den zu Unrecht ausgezahlten Betrag ab, sondern zog selbst bei einer im Saldo verbleibenden Zahllast den Betrag von 50 000 EUR heran.[779] Richtig wäre zwischen dem Hinterziehungserfolg einerseits und der Frage, inwieweit dieser zu einem „Griff in die Kasse“ führt andererseits, zu unterscheiden gewesen. Nur soweit zu Unrecht geltend gemachte Vorsteuerbeträge dazu führen, dass ein Guthaben gegen den Fiskus entsteht oder sich erhöht, kommt es zu einem „Griff in die Kasse“, unabhängig davon, ob der Betrag dem Steuerpflichtigen ausgezahlt wird oder auf eine andere Steuerschuld verrechnet wird. Demgegenüber handelt es sich bei den Umsatzsteuerverbindlichkeiten auf der einen Seite und den Vorsteuererstattungsansprüchen auf der anderen Seite um reine Rechengrößen, über die nicht eigenständig verfügt werden kann. Gegenüber dem Finanzamt teilt der Steuerpflichtige lediglich „die zu entrichtende Steuer oder den Überschuss, der sich zu einen Gunsten ergibt“ mit (§ 18 Abs. 3 S. 1 UStG). Dementsprechend hat der BGH in anderem Zusammenhang zutreffend betont, dass der Anspruch auf Vorsteuererstattung verfahrensrechtlich ein unselbstständiger Anspruch ist.[780] Eine Verrechnung durch den Steuerpflichtigen, wie sie nach der Rspr. für einen „Griff in die Kasse“ genügte, ist nur mit einem Umsatzsteuersaldo in Form eines Vorsteuerüberhangs möglich.[781] Richtig wäre es daher gewesen, für die Frage, inwieweit ein „Griff in die Kasse“ vorliegt auf den zu Unrecht ausgezahlten Vorsteuerbetrag und zur Bestimmung, inwieweit eine Gefährdung des Steueranspruchs vorliegt, auf den zu Unrecht nicht abgeführten Umsatzsteuerbetrag abzustellen. Ähnlich verhält es sich mit der Geltendmachung von vorgetäuschten Betriebsausgaben. Die Verbuchung von Betriebseinnahmen und -ausgaben hat rein bilanzielle Wirkung. Sie begründet keine Steueransprüche.[782] Die Differenz wird als Steuerforderung des Fiskus oder als Steuerguthaben des Steuerpflichtigen festgesetzt und bildet den Steueranspruch. Nur wenn die Anmeldung oder Festsetzung im Ergebnis zu einer Steuererstattung führt, kann somit die Rede von einem Griff in die Kasse sein. Ein „Griff in die Kasse” kann ebensogut durch das Vortäuschen von Betriebsausgaben oder Vorsteuerbeträgen erreicht werden, wie durch das Verschweigen von Betriebseinnahmen oder Ausgangsumsätzen bzw. durch eine Kombination beider Vorgehensweisen.Erlangte der Täter durch seine Tathandlung Erstattungsansprüche von mehr als 50 000 EUR, so wäre das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 erfüllt gewesen. Führt die Tat hingegen nur dazu, dass sich für den Steuerpflichtigen eine zu niedrige Zahllast ergibt, so erlöschen weder bestehende Steueransprüche noch werden Steuern erstattet.[783] Wie Grießhammer[784] zutreffend feststellte, hat nur der Gesetzgeber die Kompetenz, das erfolgsbezogene Tatbestandsmerkmal „in großem Ausmaß” in ein handlungsbezogenes Merkmal umzuqualifizieren, indem er den typischerweise erhöhten Unrechts- und Schuldgehalt entgegen § 370 Abs. 3 Nr. 1 nicht mehr aus dem Umfang des Taterfolges, sondern aus der Art seiner Herbeiführung herleitet. Die dargestellte Rspr. war deshalb abzulehnen.
(3) Aktuelle Rechtsprechung des BGH zum großen Ausmaß
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Das hat offenbar auch der BGH erkannt[785] und daher die bisherige Rspr. aufgegeben und stattdessen eine einheitliche Grenze von 50 000 EUR für das Erreichen des großen Ausmaßes eingeführt.[786] Er begründet dies (weiterhin) mit der in dieser Höhe auch für den Vermögensverlust großen Ausmaßes beim Betrug gem. § 263 StGB von der Rspr. entwickelten Betrag.[787] Dabei stellt er die „strukturellen Unterschiede“ zwischen den Normen heraus, da § 263 StGB anders als § 370 den Eintritt eines Vermögensschadens voraussetze. Hingegen genüge für die Steuerhinterziehung die „tatbestandliche Gefährdung des Steueraufkommens“.[788] Die Gleichsetzung von Schaden und „tatbestandlicher Gefährdung“ in § 370 finde ihre Rechtfertigung darin, „dass die falsche Steuerfestsetzung nahezu immer zu einem Schaden führen wird“.[789] Stehe aber „die Gefährdung des Steueranspruchs dem beim Fiskus eingetretenen Schaden bei der Tatbestandserfüllung qualitativ gleich“, sei „die Verdoppelung des Schwellenwertes bei dem sog. Gefährdungsschaden nicht zu begründen.“[790] Als Möglichkeit zur Abmilderung der sich aus der Reduzierung des Betrages ergebenden Verschärfung betont der BGH den großen Spielraum, der dem Tatgericht auch bei Überschreiten der Grenze von 50 000 € verbleibt, um entgegen der Indizwirkung des Betrages dennoch keinen besonders schweren Fall anzunehmen.
(4) Kritik an der aktuellen Rechtsprechung des BGH zum großen Ausmaß
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Die Vereinheitlichung des Hinterziehungsbetrages für die Bestimmung des großen Ausmaßes ist grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings überzeugt das Abstellen auf den für § 263 StGB entwickelten Betrag unter Hervorhebung der „strukturellen Unterschiede“ der beiden Normen nicht. Näher hätte es gelegen, aus der Erkenntnis, dass § 370 niedrigere Anforderungen an die Rechtsgutsgefährdung stellt als § 263 StGB, konsequenter Weise auch einheitlich höhere Beträge für das Erreichen des großen Ausmaßes anzusetzen. Ein einheitliches Abstellen auf den höheren der früher angewendeten Beträge von 100 000 EUR wäre dem geringeren Unrechtsgehalt der Steuerhinterziehung gegenüber dem Betrug gerechter geworden und hätte zudem die Rechte der von der Rechtsprechungsänderung betroffenen Steuerpflichtigen geachtet, die seit Einführung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 davon ausgehen muss, dass sie bei einer Steuergefährdung im Umfang von unter 100 000 EUR keine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes begehen. Die geänderte Rspr. wirkt für den davon betroffenen Steuerstraftäter im Ergebnis wie eine rückwirkende Gesetzesverschärfung und wirft daher die Frage auf, ob sie sich mit dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 2 GG (§ 1 StGB) vereinbaren lässt.[791] Das BVerfG hat die Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips für Strafzumessungsvorschriften bestätigt,[792] wertet Rechtsprechungsänderungen allerdings grundsätzlich nicht als Verstoß. Die Gerichte sind danach an eine einmal feststehende Rspr. insb. dann nicht gebunden, wenn diese sich im Licht geläuterter Erkenntnis oder angesichts des Wandels der sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse als nicht haltbar erweist.[793] Selbst wenn eine wesentliche Änderung der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen nicht eingetreten ist, kann ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rspr. abweichen, wenn dies hinreichend und auf den konkreten Fall bezogen begründet ist.[794] Zudem muss sich die Änderung im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung halten.[795] Hingegen kommt, wenn keine nachvollziehbare Anpassung der Rspr. erfolgt, insb. wenn sachfremde Erwägungen angestellt werden, ein Verstoß gegen das Willkürverbot gem. Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht.[796] Mit der Entscheidung, den für das große Ausmaß entscheidenden Betrag bei Verkürzung der zu zahlenden Steuer zu halbieren, wird keine nachvollziehbare Anpassung an bessere Erkenntnisse vorgenommen. Der Vergleich mit dem beim Betrug angesetzten Betrag trägt diese Entscheidung bereits nach den eigenen Ausführungen des Gerichts nicht. Auch der Behauptung, dass die falsche Steuerfestsetzung nahezu immer