Mit Elfriede durch die Hölle. Katharina Tiwald
begleiten ließ, einer Person, der man schon damals nur im Jenseits begegnen konnte (die Begegnung in der Dichtung ausgenommen), und nannte das Ganze »Göttliche Komödie«. In Vergils Begleitung besichtigt Dante darin steinerne Abgründe, niedergebrochene Mauern, Sünder, die durch Scheißemeere schwimmen; er begegnet Schemen und Monstern, lässt sich unterwegs von einem Drachen fliegen und macht sich unwissentlich zur Fundgrube und zum Steinbruch der Filmindustrie des 20. Jahrhunderts. Er wandert einen sich windenden Turm hoch bis ins gleißende Licht, am Schluss begegnet er seiner toten Geliebten, Beatrice, die ihn bis zu den allerhöchsten Gestaden mitnimmt. Dorthin, wo Gott wohnt.
Mindestens zwei Erkenntnisse können praktische Gemüter aus der »Göttlichen Komödie« ziehen: erstens, dass es Mumpitz ist, wenn behauptet wird, »die Menschen« hätten im Mittelalter »geglaubt«, dass die Erde »eine Scheibe« sei, und zweitens, dass es schon im ausgehenden 13. Jahrhundert emanzipierte Beatrices gab. Zumindest, wenn sie tot waren.
Extra für diese Reise hat Dante eine bestimmte Reimform entwickelt, nämlich den »terza rima«, die Terzine. In der Praxis sehen Endreime nach dem Prinzip des terza rima (immer drei – auch unreine – Reimwörter überkreuz, los geht’s ab Zeile 2) zum Beispiel so aus:
Katze
Haus
Tatze
Maus
Finanzwesen
Saus und Braus
Bilanz lesen
Gevatter
Bar-Tresen
Bestatter
Kurz
Geratter
Lurz
und so weiter.
Wikipedia meint, einige hätten Dante diese modische Reimweise nachgemacht, Giovanni Boccaccio zum Beispiel, dessen »Decamerone« zu Zeiten des Corona-Lockdowns von 2020 nach mehr als 600 Jahren wieder hochaktuell war (Adelige sperren sich vor der Pest weg und auf einem Landsitz ein, wo sie sich die Zeit mit Geschichtenerzählen vertreiben), auch Petrarca, der König des Sonetts. Schlussendlich wird da auch Hugo von Hofmannsthal zitiert als Terzinenschreiber; so weit reichen Dantes knochige Finger. Es heißt aber auch, dass Dante von altokzitanischen sirventes beeinflusst war, also von französischer Troubadourdichtung, und wovon waren die Troubadoure beeinflusst? Von arabischer Dichtung, die wiederum über die Mauren nach Spanien und dann … alles fließt ineinander.
A | Einundvierzig war ich in dem crazy Jahr, |
B | in dem ein Virus klein und kleiner |
A | faltete, was uns, wie sagt man?, »lieb und teuer« war; |
B | ich gondelte hinaus nach Schwechat; ein feiner |
C | Flug, dacht ich, wär jetzt das Richtige; du lieber |
B | Körper, Beuteltasche voll Materie, fremd, doch meiner, |
C | du brauchst schwer Urlaub, Rast, Verschiebung |
D | von schüttkistweise Pflichten, Zetteln, E-Mails, |
C | versteck, entzieh dich, Tiwald, zeitumfriedet |
D | zieh dich zurück, flieg fort – und alle ihr, quält’s |
E | jemand anderen. Die Zeit war satt von Frust, |
D | alle erschöpft wie nach Montur von zehn Zahn-Inlays, |
E | Corona! – Kein Kuscheln, keine Party und kein Kuss, |
F | auch keine Wirtschaftsleistung, brummt nix, |
E | auf manchen Schaufenstern wuchs krus- |
F | tendick der Staub, und nirgends summen Fix- |
G | sterne, die automatisch glücklich machen. |
F | Einsam, leer, kein Austausch, rundum keine Kicks. |
G | Es war die Zeit zum Weinen, nicht zum Lachen. |
Und so weiter. Wir leben nicht in der Zeit der Terzinen.
Was aber wahr ist, ist die Grundstimmung, ist der brennende Wunsch, diese Stadt zu verlassen, aus diesem Gefühl fortzufliegen; was wahr ist, ist der Antritt meiner Reise. Ich packte einen kleinen Koffer, den ich online bestellt und mir hatte liefern lassen, ein ausgemergelter Pakistani hatte ihn mir bis zur Tür gebracht. Klein, funkelnd und mit einem Maximum an Praktikabilität: Noch praktischer ging nicht.
Aber ich. Ich ging.
CANTO 1: VERIRRT. DREI BESTIEN. AUFTRITT POETESSA
DIE STADT WAR VERLASSEN wie in üblen Filmen. Die Figuren, die vorüberhasteten, hatten die Gesichter gesenkt, wichen mir und einander aus; mir kam vor, alle trugen Schwarz. Wahrscheinlich war der Dritte Mann aus der Kanalisation entkommen und lauerte hinter der nächsten, schmierigen, nebelverhangenen Ecke. Genauso fühlte sich der Gang durch die Gassen und Straßen an, nur ab und zu schob sich eine marode Straßenbahn an Geleisen vorbei, quietschend, in ihren Gelenken knarzend, durch die frostgeränderten Scheiben zeigten sich Schemen von Köpfen und Mantelkrägen. Über den Gesichtern Masken, über den Köpfen Kapuzen und Hauben: Puppen hätten in den Wägen sitzen können, platziert von Stephen King. Ich ging.
Mein Koffer hüpfte über die schlampig reparierten Risse in den Gehsteigen, an den Randsteinen kippte er regelmäßig um, wie um mich zu frotzeln. »Schwechat«, zischten die Rädchen höhnisch, »Schwechat, wär gelacht, wenn sie ankommt dort, wenn sie ankommt dort«, sie rollten weiter, ich zog weiter, ich ging. Wenn ich will, bin ich wie aus Stahlwolle gemacht: Ich seh bloß weich aus. Zack, zack, mochten die Rollen rollen, was sie wollten.
Die Bäume am Ring nackt, was sonst. Blätter, Hoffnung, so was gab es, gibt es nicht mehr. Ich stieß die Luft beim Ausatmen durch die Zähne, ließ es zischen, spürte den Luftstrahl von der Maske zu mir zurückkommen. Ich badete im eigenen Saft, mir war warm um den Mund, das war gut.
Bei der Oper angekommen, zeigte sich das übliche Bild, hier war ausgespielt, ausmusikt, die Türen standen sperrangelweit offen, trotz der Kälte, die ihrerseits eine schlampige, unausgegorene Kälte war, Kälte aber nichtsdestotrotz, und auf den flachen Stiegen hatten sich ein paar Obdachlose drapiert, die noch nicht lange obdachlos waren: Eine Dame trug noch ihren Pelz, ihre Perlen, aber sie stierte so leer vor sich hin wie der Herr im Frack, der auf einer benachbarten Stufe apathisch eine leere Champagnerflasche hin- und herschwenkte.
Ob sie Polonaisen hörten in ihrem Kopf, war mir egal. Ich wollte bloß weg von hier.
Aber wie?
Vor der Oper stand ein Fiaker mit einem fast schon zu Dörrfleisch gewordenen Klepper im Geschirr. Da wäre ich wohl schneller zu Fuß in Schwechat! Mit einem von beiden begann ich im Stand auf den Asphalt zu treten, was ich immer tue, wenn ich eine Lösung herbeizaubern will – meinetwegen herbeischreiben, das Tappen ist ja wie Tippen. Und wie schon mehr als einmal passiert, nahte auch jetzt die Lösung: Gleich drei Taxis schwangen sich um die Kurve, von der Albertina kommend, und stürzten, Schnauze an Kofferraum, in die Bremsen, quietschten, blieben stehen, fast rauchten die Reifen, und ehe ich mich’s versah, sprangen die Türen auf und wie Regenwetter kamen drei Gestalten auf mich zu.
»Signora!«,