Der Hölle so nah. Michael Bardon

Der Hölle so nah - Michael Bardon


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dieser voller Verzweiflung erzählten Geschichte erwachte der abgebrühte, zu allem entschlossene Anwalt in mir spontan zum Leben. Meine Schweißdrüsen stellten endlich ihre Aktivitäten ein, mein Verstand begann – anfangs etwas zögerlich – wieder in geordneten Bahnen zu denken.

      Für solch eine Situation hat der Gesetzgeber – zum Wohle der Anwälte – eine rechtliche Handhabe geschaffen. Früher hatten wir nicht den Hauch einer Chance, aus einer Begebenheit wie dieser Kapital zu schlagen. Doch heute gab es den schönen Begriff Stalking.

      Stalking ist das willentliche und wiederholte, beharrliche Verfolgen oder Belästigen einer Person, deren physische oder psychische Unversehrtheit dadurch gefährdet ist.

      Ist das nicht eine herrliche Umschreibung für das banale Wort Aufdringlichkeit.

      Für die Zunft der Anwälte bedeutete das Wort Stalking, dass wir endlich eine rechtliche Handhabe hatten, unseren Mandanten das Geld aus der Tasche zu ziehen und eine andere Person vor Gericht zu demütigen.

      Jaja, ich sehe Ihren mahnenden Zeigefinger. Ich gebe Ihnen ja Recht. Stalking ist ein ernstes Thema. Aber nur manchmal. Meist ist es ein trendiger Begriff, der gerne missbraucht wird und uns Anwälten und den verehrten Richtern viel Arbeit beschert.

      Es ist wie das neugeschaffene Gesetz gegen den schon immer vorhandenen Steuerbetrug. Ein wahres Eldorado für uns Anwälte und die veritable Hölle für die betroffenen Mandanten.

      Unter uns: Mehr Geld kannst du als Anwalt gar nicht scheffeln. Du verlangst einen Stundensatz von 1.500 Euro, vereinbarst ein zusätzliches Erfolgshonorar im sechsstelligen Bereich, schaltest ein Steuerbüro ein und startest die Selbstanzeige.

      Schon kannst du guten Gewissens zum Porsche-Händler deines Vertrauen gehen und dir ein neues Spielzeug zulegen.

      Ach, gibt es eine schönere Berufung als die, als Anwalt sein Geld zu verdienen? Ich glaube nicht.

      Herrje, wie komme ich jetzt eigentlich auf mein Lieblingsthema Steuerbetrug?

      Sie denken noch an die Kekse? Oberste Schublade. Greifen Sie ruhig zu! Ich brauche sie ja doch nicht.

      Ich vereinbarte mit Charly, die mit bürgerlichen Namen Charlotta-Mercedes Schattner hieß, in Frankfurt lebte und dort Kunst studierte, dass wir uns am folgenden Tag gegen zwei Uhr in meiner Kanzlei treffen würden.

      Ich versprach ihr vollmundig, dass ich ihr Problem – den anhänglichen Herkules – im Handumdrehen aus der Welt schaffen könne und vereinbarte als Gegenleistung ein gemütliches Abendessen bei ihrem Lieblings-Italiener.

      Winni hielt sich die ganze Zeit über dezent im Hintergrund und verschwand am Ende des Abends mit Charlys nichtssagender Begleiterin.

      Ich fuhr überglücklich nach Hause und konnte den nächsten Tag kaum abwarten. Mein Leben begann sich zu verändern. Ich war durch einen glücklichen Zufall, durch eine Laune des Schicksals meiner Traumfrau begegnet und bis über beide Ohren in sie verliebt.

      Mein Leben entwickelte sich zu einer schönen Utopie und ich wollte nie wieder aus ihr erwachen …

      Ein grandioser Plan

      Am nächsten Morgen stand ich bereits gegen 5:30 Uhr auf, absolvierte eine Strecke von fünf Kilometern auf dem Laufband und begab mich danach für zwei Durchgänge in meine kleine, finnische Sauna.

      Nach einer ausgiebigen Dusche, zwei Espressi sowie einer Schüssel Vital-Müsli ging ich in mein Ankleidezimmer und stellte völlig perplex fest, dass die Auswahl an trendiger, sportlicher Freizeitkleidung doch recht eingeschränkt ausfiel.

      Neben der Golf- und Tenniskleidung besaß ich gut zwei Dutzend Anzüge. Wahlweise in Dunkelgrau oder Schwarz. Zweiundzwanzig weiße und achtzehn hellblaue Hemden sowie fünfzehn Paar rahmengenähte, schwarze Lederhalbschuhe. Gut fünfzig farblich abgestimmte Krawatten vervollständigten mein Business-Outfit. Für außerberufliche Aktivitäten besaß ich gerade einmal zwei Stoffhosen von Hollister und fünf Poloshirts derselben Marke in Schwarz.

      »Vielleicht bin ich bei meiner Bekleidung doch ein klein wenig zu konservativ«, murmelte ich gedankenverloren vor mich hin.

      Völlig desillusioniert schlüpfte ich in meine weiße Feinripp-Unterwäsche, wählte ein hellblaues Hemd mit weißem Button-Down-Kragen und nahm mir fest vor, mit Winni in den nächsten Tagen eine Runde zu shoppen. Ein schwarzer Anzug sowie eine kecke Krawatte in farblich abgestimmten Blautönen rundeten mein Erscheinungsbild für den heutigen Tag harmonisch ab.

      Sie fragen sich jetzt sicherlich, woher ich das alles noch weiß? Warum ich mich an all diese Kleinigkeiten so gut erinnern kann?

      Wissen Sie, wenn man keine Zukunft mehr hat, dann lebt man eben in der Vergangenheit. Vor der Zukunft verschließe ich mich. Ich möchte nicht an sie denken. Ich möchte mir nicht vorstellen müssen, dass ich die nächsten Jahre steif wie ein Stück Holz in einem Metallbett vor mich hinvegetiere.

      Darum lebe ich in meiner Vergangenheit. Lebe mit meinen Erinnerungen. Hier bin ich frei. Kann mich durch Zeit und Raum nach Belieben bewegen. Ich bin weder blind, noch bin ich gelähmt. Ich kann zu jeder Zeit selbst entscheiden, was ich erlebe, kann selbst entscheiden, wie ich mich fühle.

      Glück oder Unglück. Liebe oder Hass. Zärtlichkeit oder brutale Gewalt.

      Alles ist möglich, alles ist für mich real.

      Ja, so ist das! Wenn du keine Zukunft mehr hast, dann lebst du dein Leben in der Vergangenheit. Das ist die einzige Gemeinsamkeit, die einzige Gleichung, die mich mit den anderen Bewohnern in diesem Pflegeheim verbindet.

      Hier hat keiner eine echte Zukunft. Fast alle leben – dank einer hinterlistigen Erkrankung mit dem unscheinbaren Namen Demenz – in ihrer ganz persönlichen Vergangenheit. Manche sind wieder ein Kind, andere fühlen sich jung und verliebt.

      Wir schlafen im Sitzen, sabbern, weil uns der Mund offensteht und stinken, weil wir in die Windeln geschissen haben.

      Was für ein Albtraum, was für ein menschenunwürdiges Leben!

      Diejenigen von uns, die nicht an Demenz leiden, haben, aus welchen Gründen auch immer, ein schweres Hirntrauma oder wurden zum Opfer ihres unbeaufsichtigt hohen Bluthochdruckes per Schlaganfall. Wir sind die Pflegestufe 3. Wir sind ein bunter Haufen Narren, die kein Recht auf Eigenbestimmung mehr besitzen. Wir haben einen richterlich bestellten Vormund und sind unseren Betreuern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

      Eine Lobby besitzen wir nicht, für uns macht sich kein Politiker stark. Wir bilden ein eigenes Universum und leben in unserer ganz persönlichen, für andere verkehrten Welt.

      Ich möchte Ihnen einen Ratschlag erteilen: Achten Sie gut auf Ihre Gesundheit. Ernähren Sie sich bewusster, treiben Sie ein wenig Sport und lassen Sie die Finger von den verdammten Zigaretten. Ihre Gesundheit, Ihr geistiges Wohl, ist das Kostbarste, was Sie besitzen. Schützen Sie sie, geben Sie gut auf sich acht! Genießen Sie das Leben, verschwenden Sie es nicht durch die Jagd nach Erfolg, Reichtum oder Macht. Verwirklichen Sie Ihre Träume, tun Sie, was auch immer Ihnen Spaß macht, bevor der Mann mit der Sense Sie zum letzten Tänzchen bittet.

      Wo war ich bei meiner Geschichte stehengeblieben? Ach ja, genau!

      Ich fuhr also damals mit meinem Porsche in die Kanzlei. Sie befand sich in einer alten, geräumigen Stadt-Villa. Ganz in der Nähe des Untermain-Stern-Kais. Wissen Sie, wo das ist?

      Schaute man aus den raumtiefen Fenstern meines Büros, hatte man eine freie Sicht auf den Main. Hielt man im Sommer die Fenster geschlossen, konnte einem der Gestank des Flusses und die Armada der Stechmücken glücklicherweise nur wenig anhaben. Wäre unsere Adresse nicht so exklusiv gewesen, hätte ich ein klimatisiertes Büro in einem City-Tower jederzeit der alten Villa vorgezogen.

      Ich habe nie verstanden, warum eine Vielzahl meiner Klienten mit verzückten Blicken an meinen Fenstern stand und den vorbeischleichenden Frachtkähnen hinterherstarrte.


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