RAYAN - Die Serie (Teil 1 - 4). Indira Jackson
Er stand auf: „Ich habe in meinem Leben schon so manche ausweglose Situation erlebt. Und ich habe eines gelernt: Der gefährlichste Gegner von allen ist der Mann, der sein Heim, seinen Hof und sein verdammtes Recht verteidigt!“
Die Stammesältesten murmelten zustimmend.
Rayan fuhr fort. „Wichtig ist, dass wir sie gar nicht erst nach Zarifa hineinkommen lassen. Ich werde mit meinen Freunden telefonieren und ein wenig Equipment anfordern. Dann möchte ich auch alle Eingänge nach Zarifa inspizieren, wir müssen sie draußen in der Wüste halten. Keiner von ihnen soll einen Fuß auf diesen Boden setzen.“
Wieder murmelten die Alten zustimmend.
„Ich schlage vor, dass wir morgen früh aufbrechen, es gibt viel zu tun und wie ich es verstanden habe, bleibt uns für unsere Vorbereitungen nur wenig Zeit.“
2001 - Tal von Zarifa - Nächtliche Schatten
Es war dunkel geworden.
Rayan hatte die verbleibenden Stunden vor dem Abendessen damit verbracht, durch die Häuserzeilen und das Wäldchen von Zarifa zu schlendern.
Dabei verfolgte er keineswegs nur die Absicht, die Schönheiten von Zarifa in Augenschein zu nehmen, wie den malerisch dahin fließenden Fluss und die wunderschönen Pferde. Nein, er war Experte genug, dass er einem ganz bestimmten Verdacht nachging: Die Oase von Farah war drei Tagesritte entfernt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Scheich Yuemnue dort auf das Geratewohl sitzen und irgendwann losreiten würde.
Er musste einen Informanten hier in Zarifa haben. Dessen war sich Rayan ganz sicher. Er hatte diesen Verdacht bisher niemandem gegenüber geäußert, denn er hatte in der Vergangenheit schon in ähnlichen Situationen schmerzliche Erfahrungen machen müssen. Keiner konnte je glauben, dass es einen Spion gab. Alle vertrauten sich und keiner wollte dem anderen etwas Böses. Klar! Jeder Mann hatte seinen Preis, das war die Erfahrung von Rayan.
Er selbst traute lediglich sich selbst. Deshalb arbeitete er auch am liebsten alleine. Nur die Männer aus seiner ehemaligen Spezialeinheit, Cho und Hummer - das war etwas anderes. Sie waren Profis und hatten bereits jahrelang diverse Aufträge erfüllt. Da lernte man, wie der andere dachte. Darum hatte er sie ins Boot geholt, als Jack Tanner damals 1998 seine Sicherheitsfirma TanSEC gegründet hatte. Und doch hatte er auch sie stets auf Abstand gehalten. Sobald der Job erledigt war, hatte er alle Versuche ihrerseits, ihn zu gemeinsamen Abenteuern und Urlauben zu überreden, unterbunden. Schnell hatten sie es akzeptiert, dass er nicht wie sie nach jedem Job „einen drauf machen wollte“ und seine Gage verprasste. Manchmal zogen sie ihn auf, dass er das ganze Geld sparte, um nachher als „reicher Fatzke“ faul auf dem Bauch liegen zu können und Champagner zu schlürfen.
Und tatsächlich waren sie gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Er hatte während seiner Einsätze ständig Ausschau gehalten nach dem richtigen Platz, an dem er sich später einmal niederlassen konnte. Ihm schwebte eine kleine Insel im Nirgendwo vor, die in wenigen Stunden per Boot mit einer Stadt verbunden war, in der er sich ab und zu mit dem Nötigsten versorgen konnte. Dort würde er seine Ruhe und die Einsamkeit genießen.
Und nun war er hier in seinem Heimatort und fühlte sich einsamer als je zuvor, wenn er bei völlig fremden Menschen gewesen war. Und wieder einmal suchte er einen Verräter. Er hatte die Zeit der Diskussionen am Nachmittag dafür genutzt, während der ausschweifenden Gespräche der Männer unauffällig alles und jeden zu beobachten. Dies ging ihm nun im Dunkeln wieder durch den Kopf.
Viele der Männer hatte er wiedererkannt. Den Alten Tarek, der ihm damals das Reiten beigebracht hatte. Inzwischen war er fast blind. Er war der Älteste des Stammesrates, einige Jahre älter als sein Vater und sein Wort hatte daher viel Gewicht.
Und dann war da noch Ruhi. Als Kinder hatten sie ihn stets gefürchtet. Mit seiner massigen Statur war er der Anführer der Krieger. Sie hatten bei ihm stets Unterricht an den Waffen und in Selbstverteidigung gehabt. Dabei war er nie sehr zimperlich gewesen. Auch heute war er von denen in der Beratung Anwesenden sicher der am meisten ernst zu nehmende Gegner. Rayan erinnerte sich genau, dass seine behäbigen Bewegungen äußerst schnell werden konnten, wenn er kämpfte.
Als Nächstes fiel sein Blick auf Hanif. Seine Bewegungen waren geschmeidig. Er machte einen ständig wachsamen Eindruck. Er schien eine Art Leibwächter seines Vaters zu sein. Rayan überlegte, konnte sich aber nicht an ihn erinnern. Doch nachdem auch er den Dialekt des Stammes ohne jeden Akzent sprach, schien er hier geboren und aufgewachsen zu sein. Rayan versuchte sein Alter zu schätzen und kam zu dem Ergebnis, dass Hanif in etwa fünf Jahre jünger war als er. Das hieß, er war gerade einmal 23 Jahre alt. Kein Wunder also, dass er ihn nicht erkannte, damals hatte man sich nicht mit „den Babys“ abgegeben. Fünf Jahre waren damals wie eine Ewigkeit erschienen, eine ganz andere Liga. Er musste bei diesem Gedanken lächeln, kontrollierte sich jedoch schnell wieder.
Durch seine ständige, misstrauische Wachsamkeit wirkte Hanif erheblich älter als er tatsächlich war. Die Vertrautheit, in der er mit seinem Vater umging, versetzte Rayan einen Stich. „Das sollte ich sein! Warum ist er mit mir nie so umgegangen?" Es schien, als habe sich sein Vater einen Ersatzsohn auserkoren. Er wunderte sich über sich selbst, er hatte doch mit allem hier abgeschlossen, wieso fühlte er dann auf einmal all diese unbekannten Emotionen – was? Eifersucht? – lächerlich. Er brauchte niemanden hier. Nur ganz schnell den Auftrag abschließen und genauso schnell verschwinden.
Dann blickte er zu seinem Vater. Wie sehr hatte dieser sich verändert! Wenn man von der kurzen Begegnung 1989 absah, als Rayan fast gestorben war, hatte er seinen Vater 14 Jahre lang nicht gesehen. Wenn er sprach, richtete er sich zu seiner vollen Größe von 1,92 m auf und hatte noch immer diese charismatische Ausstrahlung, die ihn damals so ausgezeichnet hatte. Und doch wirkte er um Jahre gealtert, weitaus mehr als den besagten Zeitraum. Wie alt war sein Vater eigentlich? Man hatte hierzulande nicht die Sitte jedes Jahr Geburtstag zu feiern und so musste sich Rayan eingestehen, dass er gar nicht so genau wusste, wie alt sein Vater wirklich war. Er musste damals in etwa Anfang 50 gewesen sein. Dann wäre er jetzt Mitte 60. Wenn er so auf seinem Platz saß und den anderen beim Reden zuhörte, sah er alt und müde, eher wie Ende 70 aus.
Kam es daher, dass er auch vom Charakter verändert schien? Er ließ die anderen zu Wort kommen, vor allem ließ er sie ausreden und hörte zu! Er erinnerte sich an einen Vater, der stets genau wusste, was er wollte und was die anderen zu sagen hatten, interessierte ihn nicht.
Und auf einmal wurde ihm klar, was diesen Stamm so angreifbar machte: Es fehlte ein Anführer. Sein Vater schien nicht mehr der aktive Part zu sein und auch die anderen Männer waren einfach ins Alter gekommen. So einen müden Haufen sollte er retten? Zum hundertsten Mal fluchte er innerlich, in was er sich da nur hineingeritten hatte.
Er spürte einen Blick auf sich ruhen und wie konnte es anders sein, Hanif beobachtete ihn wieder, gänzlich unverhohlen. Er erwiderte den Blick und für einen Moment starrten sie sich in die Augen, bis Hanif wegblickte. Hätte er nicht ständig so bösartig geschaut, wäre er durchaus attraktiv zu nennen. Er hatte tiefschwarzes Haar, war in etwa 1,82 m groß, schlank und durchtrainiert. Seine pechschwarzen Augen passten wunderbar in sein markantes Gesicht. Bei den Frauen hatte Hanif sicher keine Schwierigkeiten. Rayan bezweifelte jedoch, dass Hanif sich Zeit nahm, sich um Frauen Gedanken zu machen.
Rayan blickte sich weiter um. Nein, von den Männern des Rates war sicher keiner ein Verräter. Er musste den Kreis der Verdächtigen weiter ziehen. Ein Diener oder einer der anderen Krieger eventuell. Aber es musste jemand sein, der direkten Zugang zum Haus und damit zu Informationen hatte. Also sollte er die Hausangestellten intensiver beobachten.
Dabei war ihm ein Mann aufgefallen, augenscheinlich einer der Diener. Rayan konnte nicht genau sagen, warum ihm gerade dieser Mann ins Auge gestochen war. Vermutlich, weil er uneingeschränkten Zugang zum Herrenhaus seines Vaters zu haben schien. Aber auch weil er irgendwie immer präsent – zu präsent! - war.
Und darum ging Rayan jetzt nicht einfach nur spazieren, sondern er fand heraus, wo der Diener namens Yusuf wohnte. Er hatte sich in scheinbarer Bewunderung der Umgebung im Wäldchen in einen Baum gesetzt und mit seinem Fernglas