RAYAN - Die Serie (Teil 1 - 4). Indira Jackson
auf einem sanften Hügel das Herrenhaus, das Haus seines Vaters. Auf der einen Seite geschützt durch die Felswand, auf der anderen Seite schlängelte sich der Fluss am Haus vorbei, sodass man nur über eine kleine Holzbrücke hinüber kam. Jeden Morgen hatte er diese Brücke überquert, um in das kleine Schulhaus am Hauptplatz im Dorf zu gehen.
Das brachte ihn in Gedanken zu dem Tag, an dem er Zarifa übereilt verlassen hatte, ja geflohen war. Geflohen vor seinem Vater.
2014 - Krankenhaus Alessia - Ein offenes Gespräch
„Guten Morgen - na ausgeschlafen?“, sagte eine Stimme sanft und leise als Carina die Augen öffnete. SEINE Stimme!
Einen Moment war sie verwirrt, dann erkannte sie ihr Krankenzimmer, in das Jassim sie gestern zurückgebracht hatte. Ihr kleiner Ausflug hatte sie doch mehr Kraft gekostet, als ihr klar gewesen war. Wie üblich war sie mit dem Frühstück am folgenden Morgen sehr früh geweckt worden und so war sie nach dem Mittagessen noch einmal eingeschlafen. „Ein Stündchen nur.“ Hatte sie sich gedacht, doch offenbar hatte sie länger geschlafen.
Sie blickte neben sich und sah nun Rayan auf dem Stuhl neben ihrem Bett sitzen. Er hatte also sein Versprechen gehalten und war tatsächlich gekommen. Und wie er aussah! Frisch rasiert und geduscht, diesmal in europäischer Kleidung. Er hatte ein makelloses weißes Hemd an, die obersten beiden Knöpfe offen, darüber ein schwarzes Sakko, das vermutlich nicht billig gewesen war. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und so konnte sie erkennen, dass er dazu eine dunkelblaue Jeans trug. Alles drei stand ihm perfekt. Wow! Dachte sie, er hat offenbar Geschmack, was Kleidung angeht.
Und er lächelte sie an! Zum ersten Mal sah sie ihn offen lächeln, fast sanft und wieder fiel ihr das intensive Blau seiner Augen auf, das in so wunderbarem Kontrast zu seinem orientalischen Äußeren stand.
Noch immer etwas verwirrt fragte sie ihn, wie lange er schon da sei? „Noch nicht lange, nur ein paar Minuten.“ Das Lächeln intensivierte sich noch. „Sie haben so schön geschlafen, ich wollte Sie nicht wecken.“
Einige lange Sekunden lang blickten sie sich in die Augen und alles um sie herum schien zu verschwinden: Gegenwart, Zukunft, ihre Diskussionen in der Vergangenheit …
Dann wurde ihr bewusst, was sie da gerade im Begriff war zu tun: sich zu verlieben! In absolut den falschen Mann! Und sie brach den Bann, indem sie fragte: „Wie spät ist es?“
Er zog seinen Ärmel hoch und blickte auf seine Armbanduhr: „Kurz nach vier.“ Sie hatte also mehr als drei Stunden geschlafen.
Auch sie hatte automatisch mit auf die Uhr geschaut. Sie konnte zwar die Zeit vom Bett aus nicht erkennen, doch sprang es sie sofort an, um was für eine Art von Uhr es sich handelte: eine Rolex. Eine Rolex?! Was für eine Art Mensch musste man sein um hier, am Ende der Welt mit einer Rolex herumzulaufen? Bei all den armen Menschen, die sie draußen auf den Straßen von Alessia gesehen hatte?!
Und auf einen Schlag war der Zauber, der sie beide eben noch so stark umfangen hatte, verflogen.
Auch Rayan hatte den Wechsel in ihrer Stimmung sofort bemerkt und von einem Moment auf den anderen war sein Lächeln wieder beißend, voller Ironie und mit vor Sarkasmus triefender Stimme fragte er sie: „Also – wie befohlen bin ich hier, um mich dem Verhör zu stellen. Was möchten Sie wissen?“
Carina war damit zunächst überfordert und so platzte sie mit dem Ersten heraus, was ihr in den Sinn kam: „Wer ist Leila?“
Seine Brauen hoben sich, als wollte er sagen: „Mehr hast du nicht auf Lager?“ „Sie ist Araberin, wurde hier in Alessia geboren und besitzt das Haus, in dem Sie mich gefunden haben.“ Der letzte Teil des Satzes war wieder in einem Unterton, der gleichzeitig sagte: „Und wir beide wissen, wobei Sie mich gestört haben“, und so bekam Carina rote Wangen.
„Ist sie Ihre Frau?“ – wieder hob er die Brauen: „Und wenn es so wäre?“
Doch Carina sah ihn nur weiter auffordernd an, sie würde sich von dem Kerl nicht aus der Ruhe bringen lassen.
„Nein ist sie nicht – zufrieden?“
Und tatsächlich fühlte Carina ein Gefühl von Erleichterung – warum eigentlich? „Woher kennen Sie sie?“
Doch auf diese Frage bekam sie nicht die erhoffte Antwort. Stattdessen sagte er: „Das ist Leilas Geschichte und die werde ich Ihnen sicher nicht auf die Nase binden. Fragen Sie sie selber, wenn Sie es unbedingt wissen müssen.“ Er hielt einen Moment lang inne und fuhr dann fort: „Aber eigentlich bin ich doch nicht hier, damit wir beide über Leila reden, oder?“
Carina seufze, denn er hatte ja Recht. „Also gut – wann werden Sie von hier aufbrechen?“
„Morgen früh“, antwortete er ruhig. Carina erschrak, morgen schon? Dann war das vermutlich ihr letztes Gespräch. Sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen und so neutral wie möglich zu fragen: „Und wie lange werden Sie weg sein?“
Daraufhin grinste er breit: „Warum? Werden Sie mich vermissen?“ Doch er erwartete nicht wirklich eine Antwort, wurde stattdessen auf einmal sehr ernst und fügte hinzu: „Um es kurz zu machen: Ich werde morgen früh mit meinen Männern losreiten, in Richtung Norden, wo ich dem Kerl einen Besuch abstatten werde, der mir den Attentäter geschickt hat. Und dann werde ich ihn und seine Brut auslöschen.“ Den letzten Teil hatte er völlig ruhig, aber mit eiskalter Stimme gesagt. Seine vorher so warm strahlenden Augen waren eine Nuance dunkler geworden und wirkten nun ebenfalls eiskalt.
Carina fröstelte – da war er wieder, der Grund warum dieser Mann absolut nicht gut für sie war. Er war definitiv psychopathisch! Sie wartete ab und tatsächlich fuhr Rayan von sich aus fort: „Ich kann Ihnen daher tatsächlich nicht sagen, ob und wann ich zurückkommen werde. Es wird nicht leicht werden und einige Opfer müssen gebracht werden.“ Letzteres sagte er mehr zu sich selbst.
Wieder fuhr Carina ein Schauer über den Rücken: „Ob er zurückkommen würde???“ Doch ihr blieb keine Zeit, sich weiter Gedanken zu machen, denn diesmal wandte er sich an sie und mit einem drängenden Unterton in der Stimme sagte er:
„Hören Sie! Ich habe mit dem Arzt gesprochen, heute ist Dienstag, am Samstag dürfen Sie nach Hause fliegen. Es geht ein Flieger via Dubai nach München. Samstagabend können Sie schon wieder zuhause sein. In Ihrer schönen Wohnung in der Merseburger Straße. München! Hört sich das nicht gut an für Sie?“
Es war seine Absicht sie zu provozieren und das gelang ihm auch. Schlagartig war sie wieder wütend. Was fiel ihm eigentlich ein, mit ihrem Arzt zu reden? Und wieso gab der ihm Antworten? Galt die ärztliche Schweigepflicht heutzutage denn nichts mehr? Den Flugplan hatte er auch schon im Kopf! Und woher wusste er eigentlich, wo sie wohnte?
„Ich will aber nicht nach Hause fliegen!“, maulte sie und eine leise Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie sich wie ein kleines Kind aufführte.
Rayan hatte sie provozieren wollen, um sie dazu zu bringen, ihn zu hassen und freiwillig zu gehen. Dass sie jedoch auf stur schalten würde, hatte er nicht vorher gesehen. Dabei hätte er es sich ja denken können.
Er seufzte: „Hören Sie. Es ist kein Witz, dass ich gesagt habe, ich weiß nicht, wann ich wieder komme und ob ich überhaupt wieder komme. Minimum, wenn alles gut geht, bin ich sechs Wochen weg. Wollen Sie wirklich hier sitzen und warten? Ohne jede Chance auf Informationen?“
Doch bockig antwortete sie: „Lieber sitze ich hier als in München.“
Er versuchte eine andere Tour, sie zur Abreise zu bewegen: „Und wovon wollen Sie das bezahlen? Mit Ihrem Gehalt?“
Carina giftete zurück. „Woher wollen Sie etwas über mein Gehalt wissen?“
Trocken antwortete er: „Sie verdienen 3800.- EUR brutto und das in München.“
Ihr blieb der Mund offen stehen – der Kerl war echt unverschämt! Jetzt war sie stocksauer und lauter werdend raunzte sie ihn an: „Was geht Sie eigentlich mein Gehalt an?“, und giftete gleich noch dazu: