RAYAN - Die Serie (Teil 1 - 4). Indira Jackson
Rayan dachte für sich, dass die Idee doch tatsächlich nicht so schlecht wäre? Hauptsache sie würde abreisen. Er war nicht gut für sie und das wusste sie auch. Viel zu verschieden waren die Welten, in denen sie aufgewachsen waren. Sie würde ihn vermutlich nie verstehen können.
Als er nichts mehr sagte, log sie noch hinterher: „Machen Sie sich mal um mich keine Sorgen, ich habe genügend Rücklagen, um mich eine Weile durchzuschlagen.“
Er zog die Brauen hoch, denn langsam ging ihm die ganze Situation auf die Nerven. Er war es nicht gewohnt, die Leute lange überzeugen zu müssen. Sie hatten zu tun, was er sagte und basta. Diese Frau dagegen war absolut resistent.
Und so spielte er seine letzte Karte aus: „Über Wasser halten? Ein ordentliches Hotelzimmer hier kostet in etwa 150 Euro, wenn Sie nicht gerade in der Gosse schlafen wollen – wie lange wollen Sie das bezahlen? Zehn Tage? Sie haben genau 1.542,96 Euro auf Ihrem Konto bei der Sparkasse München.“
Jetzt war Carina fassungslos: Wie konnte der Kerl so viel über sie wissen? Ihre Straße – sicher von einem ihrer Ausweise, ihr Gehalt? Zwar seltsam, aber mit etwas Geduld von ihrem Chef? Aber den exakten Kontostand ihres Onlinekontos in München? Das waren vertrauliche Informationen!
Und ohne, dass sie die Frage laut ausgesprochen hatte, fügte Rayan von sich aus erklärend hinzu: „Ich bin ziemlich herumgekommen in meinem Leben, ich habe gute Verbindungen.“
„Ja und vor allem genug Geld auf dem Konto“, dachte Carina. „Zur Not kauft man sich eben seine Informationen." Aber sie sagte nichts laut. Sie war gekränkt, dass er ihre Lüge so eiskalt abserviert hatte. Und dass er sie eigentlich da hatte, wo er sie hin haben wollte: sie müsste nun eigentlich eingestehen, dass sie sich das Hierbleiben gar nicht leisten konnte, denn ihr Chef würde den verlängerten Aufenthalt sicher nicht bezahlen.
Doch sie war zu eigensinnig, das zuzugeben und nun hatte er ihren Stolz verletzt, indem er ihr einfaches Leben so offen zur Schau gestellt hatte. Keine goldenen Löffel oder Rolex-Uhren in ihrer Verwandtschaft!
Ärgerlich stellte sie fest, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen und so sagte sie nur kalt, ohne ihn anzusehen, stur vor sich hin an die gegenüberliegende Wand starrend: „Es wird besser sein, wenn Sie jetzt gehen. Es ist alles gesagt.“
Er erhob sich halb, dann schien er einen Entschluss zu fassen und setzte sich wieder hin. Seine Hand berührte kurz ihre Wange, um eine Träne wegzuwischen, die sie nicht hatte zurückhalten können und die ihr nun zu ihrem Ärger herunterlief.
Ganz leise sagte er dabei: „Carina! Es tut mir leid – ich wollte dich nicht kränken. Ich möchte, dass du nach Hause zurückkehrst, wo du hingehörst. Bitte! Ich habe einen schlechten Stern im Umgang mit Frauen. Es gab in meinem Leben bisher viele Frauen. Zu viele! Doch nur zwei, die mir jemals wirklich etwas bedeutet haben. Beide sind tot! Und nun wärst du fast gestorben …“
Carina war überrascht – zum ersten Mal hatte er ihren Vornamen ausgesprochen und sie geduzt. Auch mit derlei Geständnissen hatte sie nicht gerechnet.
Eine Weile sagten beide nichts, dann beschloss sie, dass sein Geständnis es wert war, dass auch sie ein wenig von ihren Gefühlen verriet:
„Ich werde ohnehin warten. Auch wenn ich in München wäre. Hier habe ich wenigstens das Gefühl, am Puls der Informationen zu sein. Dort wäre ich ausgeschlossen. Egal ob Sie mir helfen oder nicht. Ich bleibe. Irgendeine Beschäftigung werde ich schon finden, um mir den Aufenthalt leisten zu können.“
Die Gedanken wirbelten in Rayans Kopf und es lagen einige scharfe Bemerkungen auf seiner Zunge, unter anderem Gehässigkeiten wie, was sie denn glaubte für einen Job ausführen zu können, wenn sie nicht einmal die Sprache des Landes ordentlich sprach. Aber er merkte, dass er sie wieder kränken würde, dies an ihrer Meinung unbedingt hier zu bleiben, aber nichts änderte.
Also blieb ihm eigentlich nur der Weg, den er hatte vermeiden wollen: Ihr zu helfen. Er seufzte: „Sie sind so ziemlich das sturste Wesen, das mir je untergekommen ist. Selbst die Kamele in der Wüste könnten von Ihnen noch etwas lernen!“
Dann lächelte er wieder. „Also gut, Sie haben gewonnen. Ich habe einen guten Freund, dem ein Haus nicht weit vom Krankenhaus gehört. Er ist zurzeit nicht in der Stadt, aber ich habe mit ihm gestern telefoniert. Vorsichtshalber habe ich auch über Sie schon mit ihm gesprochen. Sein Haushälter wird Sie am Samstagmorgen abholen. Dort können Sie wohnen so lange Sie möchten.“
Aha, man war also wieder beim „Sie“ – stellte Carina für sich fest, wollte aber das Angebot nicht ruinieren und hielt daher den Mund.
„Hier ist der Deal – Sie bleiben in Hummers Haus – das ist sein Name, er ist Amerikaner – und werden in den kommenden Wochen Arabisch lernen. Ich kümmere mich um einen Lehrer. Damit sind Sie beschäftigt. Wenn ich wieder komme, erwarte ich, dass Sie mit mir Arabisch sprechen können. Und zwar so gut, dass Sie nicht zu sehr auffallen. Im Moment rennen Sie hier herum wie ein bunter Hund. Das kann ich nicht brauchen, verstehen Sie? Ich erwarte, dass Sie unauffällig bleiben und nicht wieder vor irgendwelchen Mädchenhändlern gerettet werden müssen, ok?
Und sollte Ihnen die Warterei – hoffentlich! - zu viel werden, dann kümmert sich der Haushälter um einen Flug für Sie und Sie gehen nach Hause!“
Rayan schaute sie ernst und prüfend an. Sie erwiderte seinen Blick direkt und nickte.
„Und dann vielleicht - vielleicht!! Nehme ich Sie anschließend mit. OK?“
„Ok – Deal.“ Carina strahlte, damit hatte sie überhaupt nicht mehr gerechnet und im Moment war sie bereit, alles zuzusagen.
Damit stand er auf, nickte ihr kurz zu und ging zur Tür. Dort hielt er noch einmal inne und meinte: „Wünschen Sie mir Glück.“
Ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, ging er.
Wenige Minuten später kam die Schwester herein. Es war die Irin, die auch an ihrem ersten Tag im Krankenhaus hier gewesen war. Sie hatten sich in den letzten Tagen immer wieder einmal ein wenig unterhalten. Carina war froh, jemanden zu haben, mit dem sie Englisch sprechen konnte und der sie verstand.
Schwärmerisch meinte die Krankenschwester: „Das war aber ein langer Besuch - Was für einen tollen Mann Sie da haben!“ Verwirrt blickte Carina auf die Uhr, die sie im Nachttisch in der Schublade hatte: Es war 16 Uhr 45. Erstaunt fragte sie die Schwester: „Langer Besuch? 45 Minuten?“ Die Schwester antwortete ihr: „Aber er ist doch schon seit 14 Uhr hier!“, und als sie Carinas skeptischen Blick sah, ergänzte sie „das weiß ich genau, da hat meine Schicht angefangen. Er hat wahrscheinlich die ganze Zeit an ihrem Bett gesessen, während Sie geschlafen haben.“
Also hatte er sie angelogen, als er gesagt hatte, er wäre nur einige Minuten hier gewesen, bevor sie aufwachte. Aber natürlich war er wieder zu stolz gewesen, dies zuzugeben.
Und sie konnte sich nicht so richtig entscheiden, ob es ihr peinlich war, dass er ihr so lange beim Schlafen zugesehen hatte, oder ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte.
2001 - Im Tal von Zarifa - Der Stammesrat
Rayan sah sich in dem geräumigen Wohnzimmer um. Es war im Grunde noch genauso, wie er es in Erinnerung hatte und obwohl einige der Gegenstände seinem Gedächtnis entkommen waren, erkannte er doch das Meiste wieder.
Dort der Teppich, den er sich heimlich als Sechsjähriger immer umgehängt hatte, um großen Scheich zu spielen. Der Holzfußboden, über den er am liebsten immer barfuß gerannt war. Die Steinstufen, die in die erste Etage hinaufführten. Er erinnerte sich, dass er einmal, wie üblich viel zu eilig, die Treppe hinuntergerannt war und auf dem von jahrelanger Nutzung glatten Stein die ganze Treppe auf dem Rücken hinuntergerutscht war. Er hatte damals gedacht, er hätte sich das Kreuz gebrochen, was Allah sei Dank nicht der Fall war. Allerdings war sein Rücken einige Wochen lang blau.
Er zwang sich mit Mühe in die Realität zurück. Es war gefährlich, so mit den Gedanken abzuschweifen. Nicht, dass sein Gesicht doch noch