RAYAN - Die Serie (Teil 1 - 4). Indira Jackson
Teppichen und Kissen auf dem Wohnzimmerboden: die zwölf Männer, die neben seinem Vater den Stamm anführten.
Sedat hatte ihnen im Dialekt der Tarmanen die Geschichte erzählt, die sie vereinbart hatten. Sie waren nicht nur erstaunt, sondern vor allem äußerst misstrauisch. Woher kam der Fremde ausgerechnet jetzt? Das konnte doch kein Zufall sein, sondern war sicher ein geschickter Schachzug des Gegners?
Die Älteren von ihnen, deren Rang es erlaubte, offen mit Scheich Sedat zu sprechen, erklärten sehr direkt ihre Ablehnung.
Doch der alte Mann kannte seine Leute und wusste, wie er sie überzeugen konnte. Er selbst habe Yasin Tanner eingeladen, er hätte ihn schon früher erwartet, jedoch hätte der weite Weg von Rabea Akbar ihn aufgehalten. Das glaubten sie ihm, war es doch nicht ungewöhnlich, dass die Wüste einem „Yankee“ Schwierigkeiten bereitete. Aber wo war sein Team, seine Verstärkung? Ein einzelner Mann konnte doch wohl nichts gegen eine ganze Armee ausrichten?
Diesem Punkt begegnete Sedat, indem er Yasin zum Berater erklärte, der zunächst einmal ihre Lage analysieren sollte – alles andere konnte später organisiert werden.
Ein weiterer kritischer Punkt war sein plötzliches Auftauchen. Wie kam der Fremde dazu, einfach in ihr Gebiet einzudringen, ohne sie um ihre Zustimmung zu fragen? Ein Gast klopfte schließlich auch an der Haustüre an und stampfte nicht wie ein Trampel mitten ins Schlafzimmer seines Gastgebers. Dieses Argument und den daraus resultierenden Ärger konnte Sedat nur schwer bezähmen. Es brach ja auch so ziemlich alle Regeln der Gastfreundlichkeit, geschweige denn ihre eigenen, tarmanischen Regeln.
Bisher hatte noch nie ein Fremder Zarifa unaufgefordert betreten und lebend wieder verlassen.
Sedat konnte die Bedenken dann aber doch zerstreuen, indem er sie letztendlich darauf hinwies, dass sie im Krieg waren und diese besondere Situation auch besondere Maßnahmen notwendig machte. Murrend stimmten sie zu.
Die ganze Diskussion hatte sich über mehrere Stunden hingezogen, aber Rayan hatte geduldig zugehört, natürlich, ohne dass sie das ahnten. Sie waren ja der Meinung, dass er zwar etwas Arabisch sprach, jedoch kein Wort von ihrem Dialekt verstand, der zwar große Ähnlichkeit hatte, aber eine völlig andere Aussprache erforderte, was selbst Menschen, die des Arabischen sehr gut mächtig waren, Probleme bereitete und ein Verstehen erst nach einigen Wochen „Einhören“ ermöglichte.
Also tat er so, als wartete er gelangweilt das Ende ihrer Diskussionen ab.
Nachdem es inzwischen Zeit zum Mittagsmahl geworden war, brachte eine Dienerin die Speisen.
Sedat informierte ihn kurz offiziell, dass man sich darauf geeinigt habe, seine Dienste in Anspruch zu nehmen und ihn zumindest um eine Einschätzung der Lage bitten werde - aber erst nach dem Essen, denn es war ja nicht höflich, Gäste hungern zu lassen. Vor allem, wenn sie einen so weiten Weg extra auf sich genommen hatten.
Nach dem Essen würde Hanif ihnen allen die aktuelle Situation erläutern.
Ausgerechnet Hanif, der ihn auch während der Diskussionen kaum aus den Augen gelassen hatte. Der hatte als rechte Hand von Sedat zwar einen gewissen Einfluss, jedoch war er nicht in der Position Sedat offen im Kreise der Stammesführer zu widersprechen. Daher hatte er sich weitestgehend aus der Diskussion herausgehalten und sich aufs Beobachten konzentriert. Das gefiel Rayan, er mochte Männer, die wussten, wann sie zu schweigen hatten. Auch war ihm aufgefallen, dass er Sedat mit einem ausgesprochen großen Respekt behandelte. Rayan war sich sicher, dass er ohne zu zögern sein Leben für den Scheich gegeben hätte.
Interessant – sagte es doch auch einiges über Sedat selbst aus. Wie die Männer zu ihrem Anführer stehen, sagt viel über seinen Charakter aus – das hatte Rayan im Laufe seiner vielen Einsätze überall auf der Welt gelernt.
Er freute sich, dass Daoud am Essen teilnahm. Sedat hatte es auch geschickt so eingerichtet, dass er unmittelbar neben ihm saß. Daoud war außer sich, er durfte neben seinem neuesten Helden sitzen! Er war aus dem Nichts gekommen und hatte die kleine Rana gerettet! Alles war so aufregend! Daoud wollte gerne auch so sein wie dieser Fremde, der so selbstsicher da mitten unter lauter Fremden saß. Mit überschwänglicher Gestik und vielen Worten schilderte er bildreich und umständlich wieder und wieder die Situation.
Rayan war fassungslos. War dies wirklich das gleiche Haus, in dem er aufgewachsen war? Wo war die drückende Stille? Wo die Disziplin? Er erinnerte sich gut, wie peinlich seinem Vater sein behinderter Sohn gewesen war, doch davon war nun nichts mehr zu spüren. Alle kannten und - wie es schien - alle liebten Daoud, trotz oder vielleicht sogar wegen seiner Behinderung.
Rayan ertappte sich dabei, dass er Daoud beneidete. Er hatte alles das, was er selbst nie erhalten hatte. Aber andererseits freute er sich natürlich für seinen Bruder. Bruder? In diesem Moment erst realisierte er, dass er einen Bruder hatte!
Daoud war sechs Jahre alt gewesen, als er geflohen war, bis dahin hatte sein Vater ihn weitestgehend ignoriert und wenn Rayan ehrlich war, hatte er das genauso gemacht.
Kurz hatte er Bedenken gehabt, dass Daoud eine Bemerkung über seine Augenfarbe machen würde, aber diese Befürchtung war unbegründet. Daouds Behinderung verhinderte, dass er sich derartige Details merkte.
Er zuckte zusammen und wurde zurück in die Realität geholt, als Daoud neben ihm stolz verkündete: „Es wäre schön, wenn du für immer hier bleiben könntest, du kannst auch bei mir wohnen. Weißt du, ich hatte einmal einen Bruder, der ist aber gestorben, als ich noch ganz klein war."
Daoud hatte im Dialekt gesprochen und so konnte sich Rayan um die Verlegenheit drücken, darauf etwas zu antworten, offiziell verstand er ja kein Wort von dem, was Daoud gesagt hatte.
Sein Instinkt warnte ihn auf einmal und als er hochsah, blickte er genau in die brennenden Augen von Hanif, der ihn über den Tisch herüber mit finsterer Miene beobachtete. Hatte er etwas mitbekommen? Rayan war sich nicht sicher, ob sein Gesicht auch wirklich völlig arglos geblieben war während Daouds Erzählung. Verdammt! Er musste einfach mehr aufpassen und seine Gefühle kontrollieren. Das Ganze wurde zu einem Albtraum. Wäre er doch nie hierher zurückgekehrt. Er hatte in der Spezialeinheit viele verdeckte Missionen erfüllt und auch diverse Rollen erfolgreich gespielt, jedoch ging ihm sein Elternhaus und die Vergangenheit weit mehr an die Nerven, als er erwartet hätte. Er war sich doch sicher gewesen, mit all dem hier abgeschlossen zu haben. Doch das völlig veränderte Verhalten seines Vaters machte dies schwierig.
Rayan war erleichtert, als Hanif sich schließlich wieder seinem Essen zuwandte, offenbar hatte er nichts von seinen Gefühlen mitbekommen.
Endlich war die Mahlzeit beendet und sie kehrten wieder in ihre vorherige Formation auf den Teppichen im Wohnzimmer, das gleichzeitig Versammlungsraum war, zurück.
Hanif wurde das Wort erteilt und daher trat er nach vorne und fing an, langsam in Arabisch die Situation zu erklären:
„Scheich Yuemnue al Harun hält uns für schwach. Er neidet uns von jeher unsere Pferde und unser Land. Er würde gerne selbst hier in Zarifa wohnen, wo der Boden reich ist und das Wasser klar und frisch.
Deshalb hat er andere Fürsten gegen uns aufgebracht und sie davon überzeugt, dass wir leichte Beute sind. Die einen hat er mit Geld bestochen, die anderen mit Versprechungen. Er hat uns wie auf einem Viehmarkt schon an die Fürsten verteilt.
Sie versammeln sich in der Oase von Farah. Aktuell hat der Scheich ca. 600 Leute, zwei der Fürsten sind bereits zu ihm gestoßen, was dann insgesamt in etwa 1100 Mann ausmacht. Aber ich habe aus sicheren Quellen erfahren, dass auch noch die Banu Shams aus dem Norden dazu stoßen werden. Wie ihr wisst, sind das Söldner, die für Geld selbst ihre Seele verkaufen würden. Das sind nochmals 700 Mann. Und am schlimmsten ist, dass sich wohl auch Fürst Harun Said mit seinen 800 Kriegern anschließen wird. Das macht in Summe 2600 Gegner. Ich habe bis zuletzt gehofft, doch nun muss ich zugeben, dass ich keine Hoffnung mehr habe, dass wir aus der Situation davon kommen. Wir brauchen ein Wunder.“
Und er starrte Rayan an: „Nun Fremder, kannst du Wunder bewirken? Kannst du uns sagen, wie wir mit 650 Mann ein Heer von 2600 Reitern aufhalten sollen?“
Es war