Tarris. Peter Padberg
in der Wiese schwarze Türme - mindestens so hoch wie drei ausgewachsene Homuae. Am unteren Ende eines jeden Turmes führte eine dunkle Öffnung in die Erde. Auch Karameen hatte die Türme bemerkt. Sie hielt Maurah an der Schulter fest, so dass sie nicht weitergehen konnte und deutete mit dem anderen Arm zu den Türmen. „Dies sind Eingänge zu den unterirdischen Bauten der Karruum. Ich habe selten so viele nebeneinander gesehen. Im letzten Jahr waren sie mit Sicherheit noch nicht hier. Wir sollten schnell von hier verschwinden! Wir machen uns auf den Weg nach Hause. Versuche, Geräusche zu vermeiden!“
Während sie sich vorsichtig auf den Rückweg machten, ließ Maurah ihren Gedanken freien Lauf und versuchte, Lebewesen zu erspüren. Sie fühlte fremdartige Gedanken, die sie an Ameisen erinnerten, die sie während des Marsches einige Male gespürt hatte. Dieses Mal waren die Gedanken jedoch deutlich komplexer und intelligenter und die Bilder, die sie wahrnahm, kamen ihr wie eine Unterhaltung vor, die über weite Ferne in Gedanken geführt wurde. Sie tastete sich an diesen Gedanken entlang und je näher sie der Ursprungsquelle kam, desto klarer und präziser wurden die Bilder, die sie sah. Um sie herum krochen unzählige schwarze, ameisenähnliche Geschöpfe im Halbdunkel, die die Größe von großen Hunden hatten. Sie konnte sehen, wie sie übereinander krochen, sich mit ihren Fühlern betasteten und spürte dann auch ein leichtes Kribbeln an ihrem Körper. Sie konnte eine verwirrende Vielzahl von Gedanken spüren, die auf sie einströmten. Ihr war schlagartig bewusst, dass sie sich mit ihren Gedanken in einem dieser Geschöpfe befand und genau das empfand und fühlte, was auch dieses Wesen empfand und fühlte. Maurah blieb wie angewurzelt stehen. Das Wesen führte eine Unterhaltung mit einer anderen seiner Art, einer Frau mit dem Namen Karrsainjja0000001.
Maurah fragte sich in Gedanken, was dies für Geschöpfe waren. Im selben Moment spürte sie, dass Karrsainjja0000001 die Frage wahrgenommen hatte. Ohne Verzögerung spürte sie einen glasklaren Gedanken, der in ihrem Kopf explodierte: „Was tust Du hier?“ Der Gedanke traf sie mit solch einer Wucht, dass sie ins Schwanken geriet und umgefallen wäre, hätte Karameen sie nicht gestützt. Die Gedankenverbindung war unterbrochen. Sie spürte, wie Karameen sie schüttelte. „Was ist los mit Dir? Wach auf!“ Maurah nahm ihre Umgebung langsam wieder wahr, als wenn sie aus einem Traum erwachte. Sie sah Karameen mit großen Augen an. „Ich hatte Kontakt zu den Wesen in den Türmen! Sie sind wie Ameisen. Und eine von ihnen hat mich entdeckt. Sie heißt Karrsainjja0000001 und ihre Stimme war laut und klar in meinem Kopf, bis ich zusammengerochen bin.“
Aus der Richtung der Türme hörten die beiden ein aufgeregtes Schnattern und Klappern, das zunehmend lauter wurde. „Lauf!“, schrie Karameen und rannte selbst ebenfalls los. Sie liefen so schnell sie konnten, aber die Geräusche der Verfolger kamen auch nach einer guten Stunde noch langsam, aber stetig näher. Die Hänge der umliegenden Berge waren bereits wieder mit Nadelbäumen durchsetzt, als Maurah die Kräfte verließen. „Du musst mich zurücklassen Karameen. Ich kann nicht mehr lange laufen.“ „Das kommt gar nicht in Frage“, antwortete Karameen. „Lass uns noch ein kleines Stück weiter rennen, bis wir eine enge Stelle zwischen den Bergen erreichen. Dort werden wir uns verteidigen. Erinnerst Du Dich an die Engstelle zwischen den Felsen, durch die wir am Ende des steileren Teiles des Pfades heute am Vormittag gekommen sind? Bis dorthin musst Du durchhalten!“ Sie rannten weiter und die Bäume und Felsen flogen geradezu an Ihnen vorbei. Maurah passierte die Engstelle als erste. Die Felsen stiegen hier einige Meter fast senkrecht an der Seite des Weges in die Höhe. Die Engstelle war eher eine Spalte, durch die sie beide gleichzeitig nicht nebeneinander hätten gehen können. Maurah lehnte sich gegen die graue Felswand und atmete schwer. Auch Karameen hatte die Engstelle passiert. Sie sah weder erschöpft aus noch atmete sie schwer. Sie gab Maurah einige Blätter. „Iss dies und versuche anschließend den Selbstheilungszauber, den wir zusammen geübt haben! Gib Dir Mühe! Wir werden uns verteidigen müssen und Du musst Dich schnell erholen!“ Sie musterte Maurah entsetzt. „Du hast keine Waffe! Das müssen wir ändern, falls wir Hornstadt jemals wieder erreichen.“
Karameen wandte sich dem Weg zu, den sie zurückgelaufen waren und wartete angespannt. Die Geräusche der Karruum waren noch entfernt, obwohl sie deutlich lauter geworden waren. Maurah hatte die Blätter gegessen und wirkt nun den Zauber. Nachdem sie die letzte Geste vollbracht und das letzte Wort in Gedanken gesprochen hatte, spürte sie augenblicklich, wie sie eine starke Wärme erfasste, die in jeden Winkel ihres Körpers strömte. Sofort war sie hellwach und fühlte sich erholt. Zudem konnte sie zuschauen, wie die kleine runde Narbe auf ihrem Handrücken verschwand! Karameen wandte sich noch einmal zu Maurah um. „Du siehst bereits erholt aus. Nimm nun noch diese Portion vom Hynaskraut. Wenn sie kommen, versuche in ihre Gedanken einzudringen und sie aufeinander zu hetzten! Ich selbst werde derbere Zauber verwenden. Lass Dich nicht von dem ablenken, was ich tue und denk daran, wie Du Deinen eigenen Geist vor anderen verschließen kannst! Ich brauche Deine Hilfe!“ Sie wandte sich wieder dem abschüssigen Weg zu. Sol stand schon etwas tiefer und schien durch die Verengung im Fels. Karameen war gegen das Licht von Sol nur noch eine Silhouette. Dies wurde durch die schwarze Kleidung, die sie wie immer trug, noch verstärkt.
Die Karruum tauchten hinter der Biegung auf, die rund dreihundert Meter von den beiden Magae und der Engstelle entfernt war. Karameen zog ihr Schwert. Es stammte aus alten Zeiten und es war eine der wenigen hervorragenden Waffen, die einen eigenen Namen erhalten hatte. Es hieß Seelenwaage und es war in der Lage, mit Hilfe von magischer Energie die Seelen der Erbarmungswürdigen, die von ihm getroffen wurden, in eine andere Welt zu schleudern. Es verbreitete Furcht, wenn es gezogen wurde.
Die Karruum hatten sie entdeckt und krabbelten sehr langsam und vorsichtig weiter auf sie zu. Maurah schickte ihre Gedanken zu dem vordersten Karruum und nahm Kontakt auf. Sie sah durch die Augen des Wesens. In dem Moment, in dem ein zweiter Karruum an ihr vorbeilief, stellte sie sich vor, es sei ein angreifender Schimmerlöwe – das gefährlichste Raubtier, das sie in ihrem Leben bisher kennengelernt hatte. Die Reaktion war nicht unerwartet. Sofort stürzten sich viele der Karruum auf ihren Kameraden und zerfleischten ihn. Offensichtlich war die Beeinflussung erfolgreich. Maurah war aufgrund ihres Erfolges begeistert – ebenso wie Karameen. Maurah ließ den Karruum eine Wendung vollziehen und stellte sich bei jedem weiteren Artgenossen, den sie durch die Augen ihres Opfers sehen konnte, vor, dass er ebenfalls ein Schimmerlöwe sei. Fast fünfzig Karruum wurden so von ihren Artgenossen in Stücke gerissen. Der Weg färbte sich bereits durch das violette Blut der Karruum, ohne dass diese sich auch nur ein kleines Stück den beiden Magae genähert hatten.
Karameen war nicht untätig gewesen: Genau über den Karruum waren innerhalb weniger Minuten tiefschwarze Gewitterwolken aufgezogen. Aus diesen regneten von einem Augenblick auf den anderen kopfgroße Hagelkörner. Parallel dazu zuckten mächtige Blitze auf die Karruum, die hunderte von ihnen zu Asche zerfielen ließen. Die Exoskelette derjenigen, die durch die Blitze getroffen wurde leuchteten in einem unheimlichen, phosphoreszierenden Grün, während sie vergingen. Sie tauchten die Hänge, obwohl die Sonne noch am Himmel stand, in einen hellen Grünton. Die Hagelkörner trieben alle anderen hinter die Wegbiegung zurück und die beiden Frauen sahen sich aufgrund ihres Erfolges gutgelaunt an. „Das hast Du wirklich gut gemacht“, sagte Karameen, „jedoch spielt bei Insektenvölkern die Höhe der Verluste kaum eine Rolle. Es werden noch viele kommen. Überleg Dir andere Angriffsmöglichkeiten, falls Deine Vorgehensweise nicht mehr funktionieren sollte! Denk an das, was wir im letzten Winter besprochen haben!“
Nur einen Moment später näherte sich ein nicht endender Strom von Karruum der Wegenge, in der sich Maurah und Karameen befanden. Es waren hunderte, die sich nun weder durch Hagel noch durch zerstörerische Blitze in ihrem Vorwärtsdrang aufhalten ließen. Maurah nahm erneut Kontakt auf. Sie versuchte, die ersten Linien der angreifenden Karruum gleichzeitig mit ihren Gedanken zu erreichen und sie auf ihre folgenden Artgenossen zu hetzen. Diesmal ohne Erfolg. Sie spürte, wie kurz nach ihrem Versuch Karrsainjja0000001 alle falschen Vorstellungen, die sie den angreifenden Karruum vermittelte, zerstörte und die Krieger vorantrieb. Was konnte sie nun tun? Welche anderen Angriffsmöglichkeiten hatte Karameen gemeint? „Maranda – ich brauche Hilfe“, schrie Maurah in Gedanken, so laut sie konnte. „Wie kann ich Dir helfen?“ kam die Antwort fast augenblicklich. „Wir werden von riesigen Ameisen angegriffen!“ Maurah sendete das Bild der Karruum und verknüpfte es mit dem Gedanken für Nahrung. „Hier