Tarris. Peter Padberg
das auf die Kräfte hindeutete, die er gesehen hatte. Viele Stunden lang untersuchte und berührte er die Toten, ohne auch nur irgendetwas zu erfahren. Die Arbeiterinnen seines Volkes hatten bereits damit begonnen, die Toten in den Bau zurückzuholen. Sie würden ihrem Volk bis zuletzt von Nutzen sein und als Nahrung dienen. Er fasste den Entschluss, den Zweibeinern zu folgen und Kontakt zu ihnen aufzunehmen und wanderte in Richtung der Pforte zum Tal. Als er den Eingang zum Tal erreicht hatte, wunderte er sich über die Aussicht – so etwas hatte es auf seiner Heimatwelt nicht gegeben. Vor ihm lag eine beeindruckende Gebirgswelt, deren Berge weiße Kränze an ihren Spitzen aufwiesen. Überall an den Hängen der Berge, die er sehen konnte, gab es Pflanzen; die ganze Welt schien von ihnen besiedelt zu sein.
Er wollte gerade durch die Pforte treten und sich vollends in die neue Welt begeben, als er erneut das „Zupfen“ in seinem Kopf spürte. Es schien ihm zu sagen „Gehe nicht, komm zu mir.“ Karrsa zögerte und schaute sich um, woher dieser Gedanke stammen könne, entdeckte aber nichts. Er wandte sich um, um die Pforte zu passieren, da spürte er erneut den Gedanken in seinem Kopf – und gleichzeitig fühlte er wiederum die Wärme auf seinem Panzer. Das warme Gefühl auf seinem Panzer schien ihn von der Pforte zurück bewegen zu wollen. Karrsa zögerte erst, gab aber dann dem Gefühl nach. Er ging den Weg zurück, den er gekommen war und forschte nach der Quelle des Gedankens, den er gehört hatte. Das Gefühl, das er dabei hatte, erinnerte ihn auf der einen Seite an den Schwarmgedanken, auf der anderen Seite war es viel persönlicher. Der Gedanke war nur an ihn gerichtet und auch nur für ihn bestimmt. Suchend ging er weiter in Richtung Bau, als er am Rande eines sehr kleinen und engen Tales den Eingang einer schmalen Höhle entdeckte. Er ging auf den Eingang zu wunderte sich, dass es selbst so weit von den Eingängen zum Bau weitere Eingänge geben sollte. Je näher er der Höhle kam, desto klarer wurde ihm, dass dieser Höhleneingang nicht von seinem Volk geschaffen worden war.
Kurz nachdem er die Höhle betreten hatte, wurden die Felswände außergewöhnlich glatt. Auch sein Volk hatte im Laufe der Zeit gelernt, perfekte Gänge zu bauen, die jedoch als Ziel eine gewisse Zweckmäßigkeit hatten. Dieser hier war aber von einer ihm unbekannten Machart, die die Kunst des Gängebauens seines Volkes bei weitem übertraf. Er war von einer handwerklichen Art, die sein Volk nur auf die wenigen Kunstwerke verwendete, die an ausgewählten Stellen im Bau zu finden waren. Je weiter er vorwärtskam, desto häufiger sah er farbliche Muster, die aus dem Inneren des Steins nach außen zu strahlen schienen. Je mehr er sich auf die Muster konzentrierte, desto stärker wurde wieder die Wärme auf seinem Rückenpanzer. Er begann Geschichten in den Mustern zu erkennen, die von Kämpfen berichteten, die mit Hilfe magischer Energie ausgeführt worden waren. Fasziniert ging er von Muster zu Muster und immer weiter in die Höhe hinein. Plötzlich war der Gang zu Ende und er sah vor sich eine glatte Felswand, aus deren Mitte drei Symbole in verschiedenen Farben herausstrahlten. Es waren ein Baum, ein geflügeltes Lebewesen und eine Sonne. Er untersuchte die Wand und auch die Stellen, an denen er die Symbole sah. Er konnte jedoch keine Unterschiede auf der Wand entdecken; alles war ebenmäßig und glatt poliert. „Drache, Sonne, Baum“ meldete sich der Gedanke in seinem Kopf zurück. Dies waren die Symbole. Karrsa ging wieder auf die Wand zu und begann, sie mit seinen Fühlern abzutasten. Als seine Fühler in die Nähe der Symbole kamen, wurde die Wärme in seinem Rücken deutlich stärker. „Die Reihenfolge – es ist die Reihenfolge“, erkannt er. Seine Fühler berührten das geflügelte Wesen. Aus seinem Rücken bewegte sich die Wärme in seine Fühler und von dort aus in den Drachen. Die silbergrüne Farbe des Symbols schien zu erstrahlen und das Symbol trat aus der Wand heraus. Er ließ seine Fühler zu der Sonne gleiten, woraufhin deren gelbes Licht gleißend wurde und an wahres Sonnenlicht erinnerte. Auch die Sonne schien sich aus der Wand heraus auf ihn zuzubewegen. Schließlich berührten seine Fühler das Symbol des Baums und auch hier geschah wieder das gleiche. Der Baum erstrahlte in Braun- und Grüntönen und schien sich aus der Wand herauszubewegen. Das Ende des Ganges erstrahlte hell in den Farben der Symbole, die sich dann – zusammen mit der glatten Wand am Ende des Ganges – in Nichts auflösten! Er spürt „Freude“ in seinen Gedanken.
Der Gang mündete nun in einen großen, runden Raum, dessen Decke weit über ihm war. Eigentlich war es eher eine runde Kuppel, in deren Mitte sich helle, farbige Nebel um sich selbst drehten, sich untereinander verwirbelten und sich wieder trennten. Genau unter den sich windenden Nebeln am Boden des Raumes befand sich ein Podest, das von drei Statuen auf hohen Sockeln gesäumt wurde. Zwei der Statuen waren Homuae, die dritte war das Geflügelte Wesen, das er bereit als Symbol am Eingang gesehen hatte, ein Drache. Es gab auch einen vierten und einen fünften Sockel, auf denen sich jedoch keine Statuen befanden. Karrsa ging langsam auf die Mitte des Raumes und auf das Podest zu. Auf dem Podest befand sich eine mit Wasser gefüllte Schale. Das Wasser war fast schwarz, duftete aber so köstlich, dass Karrsa, dem nun bewusst wurde, wie durstig er war, nicht wiederstehen konnte und in tiefen Zügen trank. Das Wasser schien in seinen Chitinpanzer zu fließen und die Wärme in seinem Rücken verstärkte sich erneut. Als er das schwarze Wasser fast ausgetrunken hatte, bemerkte er einen goldenen Schimmer auf dem Grunde der Schale. Dort lag ein Amulett. Wieder verspürte er die „Freude“, die dieses Mal fast in seinem Kopf explodierte. Das Gefühl war überwältigend und er hatte auch nichts Ähnliches in seinem ganzen Leben erfahren. Karrsa stellte die Schale auf das Podest zurück und nahm das Amulett in seine Vorderpfoten.
Die Verbindung mit Wasserwüste kam augenblicklich zustande. „Du hast mich gefunden“, spürte er den freudigen und intensiven Gedanken in seinem Kopf. „Was bist Du? Du bist anders als diejenigen, die mich früher getragen haben?“ Karrsa überlegte einen Moment. „Ich bin – oder besser ich war – ein Wissenschaftler-Krieger der Karruum. Wir kamen vor langer Zeit auf diesen Planeten, als Sol sich ausdehnte. Mein Volk beginnt gerade, sich auf Tarris auszubreiten – es ist unsere neue Heimat.“ Bilder begleiteten seine Erklärung, so dass Wasserwüste schnell verstand, was die Karruum waren und wie und warum sie nach Tarris aufgebrochen waren. „Aber Du bist anders, als Du Dein Volk eben beschrieben hast. Du bist ein Individuum und nicht nur ein Teil eines Schwarms“, erkannte Wasserwüste, „und die Magie ist stark in Dir – das würde bei einem Mitglied Deines Volkes, wie Du es beschrieben hast, nicht funktionieren!“ „Was ist Magie?“ fragte Karrsa. „Ist sie schuld, dass ich nicht mehr wirklich ein Teil meines Volkes sein kann?“ „Dies waren zwei Fragen. Ich werde sie Dir sozusagen als Anfang Deiner Ausbildung gleich beantworten. Ich werde Dir viele andere Fragen beantworten. Du wirst Einiges lernen und erkennen müssen, damit wir uns verstehen und die gleiche Sprache sprechen. Ich bin Dein neuer … Schwarm, denke ich. Und ich vermute, dass wir für das Lernen einige Monate benötigen werden. Leg bitte zuerst die Kette um Deinen Hals, an der ich befestigt bin.“, übermittelte Wasserwüste an Karrsa. Ein Karruum hatte keinen Hals im eigentlichen Sinn. Daher legte Karrsa die Kette um seine Taille, die Verengung seines Körpers zwischen Bauch- und Brustsegment. Im ersten Moment schien die Kette viel zu weit; sie begann sich aber sogleich zu verkleinern, bis sie eng, aber ohne ihn zu stören, seinen Körper umschloss. Zusätzlich verschmolz Wasserwüste mit dem Chitinpanzer auf seinem Rücken, jedoch ohne ihm zu schaden. Das Amulett war so in das Chitin eingebettet, dass es aussah, als wenn es zum Panzer gehörte. Es war fast genau die Stelle, an der in den letzten Tagen auch immer die Wärme gespürt hatte.
„Magie ist auf der einen Seite eine Energieform, die das Stück Stein, das in Sol gestürzt ist, aus weiten Fernen zu uns gebracht hat. Diese Energie kann von begabten Lebewesen verwendet werden, um verschieden Dinge zu tun. Die Energie kann zerstören, sie kann heilen, sie kann Dinge schaffen und bewegen. Die Möglichkeiten sind sehr vielfältig. Auf der anderen Seite ist die Kraft selbst in gewisser Weise auch ein Lebewesen, das aber keine körperliche Form annehmen kann. Daher verbindet sich die Magie in einer Art Symbiose mit dem Lebewesen. Die beiden ergänzen sich, wobei immer einer der beiden die Überhand gewinnt. Ist dies die Magie, wird aus dem Lebewesen etwas Schreckliches, ist es das Lebewesen, bleibt es fast so wie es ist – abgesehen davon, dass es kaum altert und über zusätzliche Kräfte und Eigenschaften verfügt, die sehr individuell sind. Es gibt“, Wasserwüste zögerte einen Moment und fuhr dann fort, „vier Ausnahmen davon, dass die Magie sich nicht verstofflichen kann. Eine davon bin ich. Ich habe zwar keinen Körper, lebe jedoch in diesem Artefakt und kann denken und fühlen – und mich mit wenigen Geschöpfen in Einklang bringen, die