"Die Stunde des Jaguars". Jens Petersen
um die Augen ab. Jedoch zu sehen gab es da wenig, eine öde Berglandschaft von trockenen Büschen bewachsen. Einsam darin eine Hütte, die nur aus einem Raum bestand.
Aus dem Kofferraum holten die Beiden einen Behälter mit den Zutaten einer einfachen Mahlzeit. Gebratene Hühnerteile, etwas Chilisoße, gemischten Salat und Tortillas legten sie auf den Tisch. Ein 5-Liter-Gefäß mit Wasser kam noch dazu. Nachdem sie, wiederum wortlos das Mitgebrachte verzehrt und alles abgeräumt hatten, brachte Juan ein Bündel herbei. Bedächtig schlug er das Tuch auf und platzierte den Inhalt auf den Tisch: Den Obsidianspiegel.
Eindringlich klärte er Dave auf über Bedeutung und Funktion, prägte ihm ein, was er zu tun hätte. Vor allem aber, was er nicht zu tun hätte, nämlich sich umdrehen. Abschließend stellte er noch die Petroleumlampe auf den Tisch und eine Schachtel Streichhölzer. Die könne er anzünden, wenn das Tageslicht bald nachlassen würde und seine Beobachtung einschränkte. Auch das wäre einfach zu bewerkstelligen ohne sich umzudrehen. Dann ließen sie ihn allein. Er hörte den Wagen starten und davonfahren.
Das war nun schon geraume Zeit her. Doch immer noch tat sich auf der Oberfläche des Obsidiansteins so gar nichts. Bewegungslos blieb sie, von unergründlicher Schwärze, einst in unzähligen Stunden und Tagen spiegelglatt poliert.
Mittlerweile war es schon dunkel geworden. Dave hatte die Petroleumlampe entzündet und starrte immer noch auf diesen makellos glatten, schwarzen Stein vor sich. Den Blick konzentriert darauf halten sollte er und auf keinen Fall sich umdrehen. So war ihm eingeschärft worden. Nicht nur die gewünschte Wirkung würde dann ausbleiben. Unmöglich vorauszusagen, was dann geschehen könnte. Auf jeden Fall Bedrohliches würde man damit heraufbeschwören, Dinge, auf die man sich besser nicht einlassen sollte. Aus noch voraztekischen Zeiten stammte dieser magische Stein. Von den Tolteken, die für ihre Fähigkeiten so berühmt waren, dass bis zum heutigen Tage herausragende Handwerker oder Künstler Toltecatli genannt wurden. Mehr noch aber, als auf diese Fähigkeiten der Fertigung, verstanden sie sich auf die Anwendung magischer Praktiken. Dieses vulkanische Glasgestein war dabei eines ihrer bevorzugten Materialien. Generationen solcher der Magie kundigen Tolteken hatten an diesem Spiegel gearbeitet.
Was immer es auch damit auf sich haben sollte, besser er hielt sich daran, dachte Dave. Zu sehen gab es ohnehin nichts in dieser einfachen Hütte. Leere Adobewände und den Tisch vor ihm, auf dem dieser Obsidianspiegel lag. Auf dessen Oberfläche sollten die Erscheinungen auftreten. Sie würden Dave in jene magische Welt führen, nach der er so fieberte. Irgendwann würde es passieren, wenn er nur konsequent seinen Blick darauf hielte. Bislang tat sich immer noch nichts. Aber wie Dave gesagt wurde, war es für ihn das Tor in jene andere Welt.
(Wenn sich diese Schemen vielleicht noch zu blass, zu zart abzeichneten, um bei dem dürftigen Licht der Petroleumlampe erkannt zu werden?)
Dave bewegte die Lampe und verschärfte den Blick, ohne erkennbare Resultate. (Diese Generationen von Brujos werden genau gewusst haben, was sie da anfertigten. Möglich auch, dass es bei einem Newcomer wie mir länger dauert. Auf jeden Fall geduldig dran bleiben, nicht nachlassen mit der Konzentration. Dann wird sich dieses Tor auch für mich öffnen.)
Ach ja, dann war da noch auf dem gleichen Tisch, etwas weiter entfernt zu seiner Rechten, dieses kleine Keramikgefäß mit der glühenden Holzkohle darin. Der herbe Geruch, den das langsam verbrennende Kraut darauf ausströmte, sollte ihm Moskitos vom Leibe halten. Wenn es völlig ausgebrannt wäre, könnte er das Kraut ersetzen aus dem Schälchen daneben. Auf keinen Fall aber, so wurde ihm eingeschärft, sollte er Blätter aus dem Korb dahinter auf die Glut legen. Deren beim Verbrennen entstehender Rauch verursachte ganz spezielle Wirkungen. Magische Wirkungen für die Dave noch nicht reif wäre.
Gar zu gern hätte er gewusst, was das denn für Wirkungen sein sollten. Je länger er darüber nachdachte, desto bohrender wurde diese Frage.
(Und überhaupt, wie will wer denn so schnell über den Daumen gepeilt beurteilen können, wofür ich reif wäre und wofür nicht?)
Der Duft, den die kokelnden Blätter aus dem verbotenen Korb verbreiteten, war noch herber, um nicht zu sagen ziemlich beißend. Obendrein entwickelten sie einen Rauch, der das ganze Umfeld leicht einnebelte. Nicht nur das sichtbare Umfeld, auch Daves Kopf fühlte sich etwas eingenebelt. Ihm war als blickte er auf verwackelte Fotos. Das dämpfte aber keineswegs seine Neugierde. Die wurde zunehmend aufdringlicher, geradezu penetrant. Was denn passieren würde, wenn er zur Seite den Blick abwand oder sich umdrehte?
(Was sollte denn schon passieren? Es sieht doch niemand. Ich bin hier auf weiter Flur allein.)
Die Beiden hatte er längst davonfahren gehört. Sonst war da, wer weiß wie weit, kein Mensch, auch keinerlei Geräusch zu hören.
(Als wenn das irgendwas beweisen könnte. Wie denn? Bin ich denn bekloppt? Wollen die vielleicht nur testen, wie einfältig ich bin? Wie lang es dauert, bis bei mir der Groschen fällt? Und jetzt kommt es mir erst: Was hatten die denn noch geredet, nach dem sie hinausgegangen waren? Wo sie sich doch sonst immer so wortkarg gaben. Natürlich in irgendeiner Indianersprache, die ich nicht verstehe. Aber gelacht hatten sie daraufhin. Na, worüber wohl? Ich sitze hier Stunde um Stunde, gaffe dieses angeblich magische Objekt an und trau mich nicht ´mal, einfach aufzustehen und mich umzusehen.)
Gesagt, getan. Er erhob sich und wendete den Blick auf die Eingangstür.
Was er nicht wusste: Die Gefahr kam aus einer anderen Realität und besaß die Fähigkeit in verschiedenen Versionen zu erscheinen.
Durchdringendes Rasseln abertausender Grillen ließ den ganzen Urwald vibrieren wie eine schrille Alarmsirene. Unberührt davon verharrte ahnungslos das ausgespähte Opfer immer noch wohlig grasend auf der Lichtung. In seiner Arglosigkeit näherte es sich sogar langsam, Schritt für Schritt immer mehr dem drohenden Unheil, dem es schon längst im Blick war. Eine leichte Brise trug dessen Geruch jedoch hinfort in die andere Richtung.
Ein unschuldiges Tier war es, was er da lauernd im Visier hatte, von jugendlichem Wuchs und unerfahrenen Bewegungen. Es war nicht so, dass er kein Auge für so etwas und kein Wohlgefallen daran hatte. Nur war das Gesetz des Waldes unumstößlich. Und das besagte, die letzte Stunde dieses Geschöpfes war gekommen. So gesehen war er nicht mehr als ein zwangsläufiger Vollstrecker dieses Gesetzes, der sich jetzt lautlos noch ein wenig näher heran schlich bis auf Sprungnähe. Als er sich gerade tiefer duckte und seine Muskeln anspannte, zum Unausweichlichen, geschah etwas Außergewöhnliches, bisher noch nie Gekanntes. Das bedrohliche Rasseln der Grillen erstarb schlagartig. Kein Vogel war mehr zu hören. Betäubende, leblose Stille war nur mehr. Alle Wesen des Waldes spürten, da war etwas Neues, völlig fremdes. Ob es gut oder unheilbringend war, wusste keines von ihnen, nur so viel, dass es jenseits der Gesetze des Waldes lag. Das soeben noch todgeweihte Opfer entwich in dichtes Unterholz.
Seit seinem dritten Lebensjahr, als er voll erwachsen wurde, gab es für ihn nie mehr einen Anlass zur Furcht. Dennoch packte ihn jetzt ein unbehaglich irritierendes Gefühl. Umsichtig in alle Richtungen witternd schlich er sich in das tiefste Dickicht, wo verborgen die alte Stadt lag. Unbekannt war sie immer noch außerhalb des Waldes geblieben. Nahe den Überresten eines größeren Bauwerks bot ein Spalt zwischen den riesigen Steinen den Eingang zu einer dunklen Höhle. Eine Stätte, an die er sich gut erinnerte, wurde er doch hier zusammen mit seinen beiden Brüdern geboren. In diesem Versteck wurde er aufgezogen, und es blieb für ihn zeitlebens der sicherste Rückzugsort. Diese Stadt war so lange schon verlassen, dass nichts mehr an ihre einstigen Bewohner erinnerte. Selbst der sonst so beharrlich anhaftende Geruch war längst verflogen.
Für seine Mutter war es daher nichts anderes gewesen als irgendein Felsengebilde welches den erwünschten Schutz bot. Für ihn blieb es zeitlebens der Ort von Sicherheit und Geborgenheit. An der Wand gegenüber schaute ihn sein Abbild an, viele Generationen vor seiner Zeit als Relief in den Stein gemeißelt, den Gott der Unterwelt darstellend.
Dave schüttelte sich, als wollte er sich erstaunt von etwas befreien.
(Ein wenig benebelt fühl ich mich zwar. Aber wer weiß, sollte das vielleicht schon eine Offenbarung des Obsidiansteins sein?)
Während er noch verstört darüber grübelte, den Blick auf die Eingangstür