"Die Stunde des Jaguars". Jens Petersen
Nacht heraus stürmte ein halbes Dutzend Männer herein. (Wo kommen die denn auf einmal her?)
Wunderte er sich nur. Bevor er noch irgendetwas sagen konnte, hatten sie ihn schon mit geübten Griffen so fest eingeschnürt, dass er weder Arme noch Beine bewegen konnte. Jaguarfelle hatten die über die muskulösen, braunen Oberkörper gezogen. Soviel hatte er gerade noch sehen können, und dass ihre Köpfe ganz in Nachbildungen dieser Raubtierschädel verschwanden, bevor man ihm schon wieder die Augen verband. Wie er in der kurzen Zeit zu erkennen glaubte, waren weder Juan noch Benigno unter ihnen. Dann wurde er hochgehoben und nahm einzig diesen strengen Geruch wahr, der ihn an irgendetwas erinnerte. Wenn er nur wüsste an was?
(Aber klar ist das die Öffnung des Obsidiansteins. Was denn wohl sonst? So unwirklich wie dies ist, kann es nur der erste Schritt in eine jenseitige Welt sein. Mann, denn hab ich es ja doch geschafft! Jetzt geht es echt los.)
Jaguarmänner, dämmerte es ihm nun auch, das war doch eine geläufige Kriegerkaste bei den Azteken. Bisher kannte er sie nur von Abbildungen. Aber diese Kostümierung erschien ihm ziemlich perfekt.
(Auch merkt man ihnen die Schauspieler gar nicht an. Allein diese zügellose Wildheit geben sie ziemlich gelungen wieder. Nur, wer hat die hierher geschickt? Und was wollen die? Oder ist das alles nur Fiktion? Durch den magischen Stein verursachte Imagination? Ich kann das gar nicht mehr auseinander halten. Wozu soll das auch wichtig sein? Wirklichkeit oder Imagination, ist da irgendwer, der das mit Gewissheit unterscheiden kann? Jedenfalls spannend ist es schon – und endlich Action!)
Etwa eine halbe Stunde mochten sie ihn getragen haben, unentwegt im Laufschritt. Es war schwer, die Zeit abzuschätzen. Dann gewahrte Dave, wie es für eine kurze Weile steil bergauf ging. Als sie ihn schließlich ablegten, spürte er kalten, harten Stein unter seinem Rücken. Der musste stark abgerundet sein, denn er merkte, wie er sich darauf mit der Brust nach oben bog.
Das erste, was er sah, als sie ihm die Augenbinde abnahmen, war ein nächtlicher Himmel über ihm, von wandernden Wolkenfetzen durchzogen. Nur hin und wieder schaute ein fahler Mond hervor, der die ganze Szenerie spärlich beleuchtete. Arme und Beine waren noch immer nicht zu bewegen. Nur waren es jetzt menschliche Hände, die sie umklammerten. Mehrere Gesichter sah er da um sich herum, alle seltsam bleich. Aber das mochte an dem Mondlicht liegen. Ihn fröstelte.
Wenigstens den Kopf konnte er heben. Wenn er ihn etwas nach vorn neigte, erblickte er zu seiner Rechten, schräg gegenüber eine mächtige, dunkle Silhouette.
(Sieht aus wie eine Pyramide.)
Als der Mond aus einem Spalt der Wolken wieder hervortrat, konnte er deutlicher die vier Abstufungen bis zur abgeflachten Spitze erkennen. Kalkig weiß, wie Knochen wirkte in diesem Licht der Stein. Die Treppen und die Figuren daneben waren nur undeutlich zu erahnen. Die sanften Schrägungen ließen das ganze Bauwerk noch entrückter erscheinen.
(Moment, das ist doch die Sonnenpyramide von Teotihuacan. Aber natürlich, kein Zweifel! Es gibt kein Bauwerk, welches ihr ähnelt. Also, muss ich folglich hier auf der Mondpyramide liegen.)
Dave hatte genügend Bücher gewälzt und Fotos betrachtet, was die Überreste vorkolumbianischer Kulturen betraf, um sich da ganz sicher zu sein.
(Teotihuacan, was heißt: Der Ort, wo man zum Gott wird, der Begräbnisplatz der Könige, die nach ihrem Tod zu Göttern mutierten. Die rituelle Hauptstraße, der sogenannte Totenweg, führte schnurgerade auf die Mondpyramide zu und endete auf deren Spitze. Das wäre genau da, wo ich jetzt liege. In Verbindung gebracht wurde diese Spitze mit der Milchstraße. Bin immer mehr gespannt, wie die Show weitergeht. Zum Glück bin ich ja im 20.Jahrhundert. Das alles kann also nur eine symbolische Zeremonie, eine historische Nachahmung sein.)
Inzwischen waren noch einige Adlerkrieger hinzugetreten, die andere kostümierte Kriegerkaste der Azteken.
(Wer sind alle diese Leute? Wer inszeniert diese Show? Und wieso gerade ich?) Soweit er es überblicken konnte, standen inzwischen hier auf der Plattform der Mondpyramide mindestens ein Dutzend Männer herum.
(Teotihuacan muss so etwas wie die Heilige Stadt der Tolteken gewesen sein, die Stätte ihrer höchsten Rituale. Die Ansichten der Altertumswissenschaftler, wie ich gelesen habe, gehen allerdings auseinander. Manche meinten Teotihuacan wäre der Ort einer noch früheren Kultur. Die Indianer jedenfalls identifizieren es mit den Tolteken, für sie die große, alte Leitkultur. Der Name deren Herkunftslandes ist nur in Aufzeichnungen überliefert. Wie bei so manchen alten Sprachen, bestehen alle Worte im Prinzip aus drei Radikalen, in diesem Fall A, T und L. Das hätte irgendwas mit Wasser zu tun, habe ich gelesen. Es hieß auch, dass ihre Hauptstadt auf Wasser gebaut war. Wie das ausgesprochen wurde, wusste kein Mensch mehr, nicht mal die Leute von Tollan, die heute noch Tolteken genannt wurden. Sie glaubten, ihre Vorfahren waren von jenseits des Meeres gekommen, von einem Land welches sie, wie man vermutet, At-Tollan nannten. Klingt verdächtig nach Atlantis, zumal das „is“ vermutlich von den Griechen angehängt wurde.)
Während Dave noch in solchen Vorstellungen schwelgte, waren weitere dazu gekommen, deren harte, bleiche Gesichter nicht gerade freundlich aussahen. Sie fielen auf durch ihr wirres, zerzaustes Haar. Lange Umhänge trugen sie, die ungepflegt aussahen. Beim Näherkommen sah man deutlich die großen, rotbraunen Flecken darauf, die wie getrocknetes Blut wirkten. Obendrein umgab sie auch noch ein abstoßender Geruch.
(Teotihuacan war doch bekannt als friedfertig,)
beschwichtigte Dave sich selbst.
(Keine Mauern wurden bei Ausgrabungen hier gefunden, keine Waffen. Der höchste Gott war kein finsterer, bedrohlicher wie bei den späteren Azteken. Es war der Regengott Tlaloc, auch Herr über Tlaloccin, das Paradies. König war der ebenso friedfertige wie fortschrittliche Quetzalcoatl, der später auch zum Gott wurde.)
Dave grübelte so vor sich hin.
(Es muss eine großartige Kultur gewesen sein, eine Zeit der Reifung, des Lernens und der Forschung.)
Sagte er sich noch, als er bereits vier von den stinkenden Männern, offenbar Priester, heran treten sah. Sie lösten die Anderen ab und drückten mit Macht jeder einen Arm oder einen Fuß von ihm nach unten. Gänzlich durchgebogen und bewegungsunfähig lag er jetzt stramm über den kalten Stein gespannt.
Wieso fiel es ihm gerade jetzt erst ein?
(In der Spätzeit, hatte doch der finstere Texcatlipoca den lichten Quetzalcoatl verdrängt. Dieser, ebenfalls später zum Gott gewordene, aber zu einem grausamen, religiösen Fanatiker, der die Menschenopfer einführte. Diese Opfer wurden stets auf die oberste Plattform einer Pyramide gebracht und auf einen abgerundeten Stein gelegt, der ihre Rippen etwas weiten sollte. Arme und Beine wurden von vier Priestern festgehalten. Ein Oberpriester schnitt sodann mit einem Obsidianmesser die Brust auf und riss das Herz heraus. Das wurde den Göttern oder der Sonne geopfert und der noch zuckende Leichnam vom Tempel herunter geworfen.
Quetzalcoatl musste fliehen. Wie es hieß, nach Tlapallan, dem Land der Morgenröte, jenseits des Meeres. Das Volk tröstete sich mit der Weissagung, er würde eines Tages wiederkommen, über das Meer und mit ihm wieder glücklichere Zeiten. Was für ein katastrophaler Irrtum, dass man ausgerechnet Cortez für ihn hielt! Nun ja, das alles ist Geschichte oder auch Mythologie. - Die Gegenwart ist da beruhigender, jedenfalls was diese Performance hier betrifft.)
Er wollte, seine Freunde und Kommilitonen aus LA könnten ihn hier sehen, lenkte er sich selber ab. Oder besser noch, einer von ihnen würde das alles mit seiner Videokamera aufnehmen. Das würde ihm doch sonst niemand glauben.
Ungeachtet aller Faszination beschlich ihn dennoch der Gedanke:
(Wer könnte solch eine Show veranlasst haben und zu welchem Zweck? Auch hätte ich gern gewusst, wie lange das noch dauert.)
Allmählich drang ihm nämlich die Kälte in die Knochen von dem harten Stein unter seinem Rücken. Selbst seine Hochstimmung, endlich auf den Spuren Castanedas zu wandeln, hatte erste Bedenkenrisse bekommen. Diese eisernen Griffe an seinen Gelenken von den Händen der im bleichen Mondlicht noch farbloser Wirkenden mit ihren ausgemergelten Gesichtern ließen bei ihm doch ein Gefühl der Hilflosigkeit aufkommen. Die Gewissheit