NY Phönix. U. Kirsten
Das war nun sechs Jahre her. Das Karate Training hatte ihm geholfen, der Angst Einhalt zu gebieten. Er war nun richtig gut im Sport und die Jungs seiner Klasse akzeptierten ihn, so wie er war. Er lernte es, seinen Körper zu beherrschen und sich auf die Abfolge der unzähligen Angriffs- und Verteidigungsübungen zu konzentrieren. Er wurde der beste Springer und konnte über Seile springen, auch wenn sie der Trainer noch so hoch hielt.
Nun stand Lenny also wieder mit bittenden Augen vor seinem Vater. Dieser musste dabei unwillkürlich an die letzte Prüfung zum blauen Gurt denken. Ja, Lenny hatte es letztlich geschafft und er war enorm stolz auf den Jungen. Aber er hatte auch gemerkt, dass diese Art des Kampfes ihm nicht lag. Lenny wirkte zögerlich und er war kaum bei der Sache. Jetzt wusste er, Lennys Leidenschaft und sein Herz waren noch auf der Suche. Der Vater dachte daran, wie schwer es im Leben war, seinen richtigen Platz zu finden. Er wollte es gern dem Jungen einfacher machen und ihn auf seinen Lebensweg bestmöglich vorbereiten. Aber er wusste auch, dass er nicht glauben durfte, sein Sohn würde sich für dieselben Dinge interessieren, für die er einst in seiner Jugend gebrannt hatte. Natürlich interessierte sich Lenny für die Hobbys seines Vaters, schon allein, weil er ihn liebte und froh darüber war, wenn der Vater seine knappe Zeit, wenn er denn mal zu Hause war, mit ihm teilte. Die Comic-Sammlung auf die der Vater als Kind und Jugendlicher verrückt gewesen war, die er akribisch immer wieder gelesen und gesammelt hatte, lag jetzt im Bücherregal von Lenny und wurde kaum noch beachtet. Der Junge begann seinen eigenen Musikgeschmack zu entwickeln und hatte nur ein müdes Lächeln, wenn der Vater von seiner Hardrockzeit mit ACDC und Led Zeppelin schwärmte. Stattdessen verfolgte sein Vater intensiv die neuen Musikrichtungen, die der Junge aus seinem Freundeskreis mit anschleppte.
Das Zauberwort war Leidenschaft. Alles wofür man im Leben Leidenschaft entwickelt, wird einem vortrefflich gelingen. Wenn der Funke der Leidenschaft überspringt, dann wird unermessliche Energie freigesetzt, so dass das Lebensprojekt unweigerlich gelingen wird. Man wird immer die zusätzliche Zeit investieren, die zusätzliche Runde laufen, weil man vor Enthusiasmus kaum zu stoppen ist. Die Zeit wird man kaum spüren, weil man mit dem Herzen bei der Sache ist. Und Leidenschaft kennt nur das Hier und Jetzt, den jetzigen Augenblick. Leidenschaft lässt sich nicht ablenken von dem Thema, das man liebt und vollenden möchte. Leidenschaft setzt zusätzliche Potentiale, Energien, Kreativität, Phantasie und Beharrlichkeit frei. Menschen, die etwas mit Leidenschaft tun, werden immer besser sein, als diejenigen, die nur mit Profession an die Dinge herangehen. Sie werden diese schnell überflügeln. Deswegen, ist es so wichtig, den richtigen Platz in seinem Leben zu finden, wo man mit Leidenschaft und Liebe agieren kann, wo man seine Bestimmung und damit sein Glück findet. Ein Beruf ist idealerweise eine Berufung. Darum wähle mit Bedacht, damit die Aufgabe, der Du Dein Leben widmest, Deiner Persönlichkeit, Deinen Stärken entspricht. Es gibt so viele Menschen, die nicht ihr Spielfeld im Leben gefunden haben. Sie sind nicht schlechter als die Anderen, aber sie rackern sich ab, weil ihnen jede Handlung, jeder Schritt an diesem Platz viel Energie abverlangt. Mit den Jahren wird diese Tätigkeit sie auslaugen, oft sogar ausbrennen. Ohne Erfolgserlebnisse werden sie ständig dem Glück hinterherlaufen und nur selten daran teilhaben. Diejenigen, die jedoch ihre Leidenschaft gefunden haben und für sie bereit sind, allen Widerständen zum Trotz, zu kämpfen, werden letztlich das Glück für sich gewinnen. Ihre Leidenschaft wird sie auf ihrem Lebensweg begleiten und sie mit viel Energie, Phantasie und Kreativität belohnen. Wirklich schöpferisch ist man dann, wenn man mit Leidenschaft bei der Sache ist.
Dies alles ging dem Vater nun durch den Kopf. Er schaute Lenny tief in die Augen und spürte, dass es dem Jungen ernst war. „Ja, dann tue es. Ich freue mich für Dich.“ Lenny war aufgesprungen. Er hatte Tränen in den Augen „Ja, ja, ja“ Er konnte das Glück kaum fassen. Diese Entscheidung seines Vaters hatte er so schnell nun doch nicht erwartet.
Seit diesem Zeitpunkt steckte er jede freie Minute in seine Leidenschaft. Drei bis vier Mal in der Woche war er beim Training. In der Schule lief es gut, weil sich sein Lehrer mit seinem Basketballtrainer einig war und Lenny davon überzeugt hatten: Gute Leistungen in der Schule sind die Voraussetzung für einen herausragenden, leistungsorientierten Sportler. Lenny hatte inzwischen erkannt, dass er, wie im Basketball, jedes Ziel erreichen konnte, wenn er nur genug Energie in die Sache stecken würde. Und wahrlich, er war bereit, für sein Ziel, die NBA-Basketball-Liga, die Extrarunde zu drehen, hart zu trainieren und massenweise Liegenstütze, sogar abends vor dem Fernseher zu machen.
Das Spiel gegen die Miami-Jugend ist auch im zweiten Viertel noch auf Augenhöhe. Lennys Team führt knapp mit 28:27. Ihr Trainer, dem sie den Spitznamen „Buddha“ gegeben hatten, weil er eine allgegenwärtige, stoische Ruhe ausstrahlte und ein permanentes Lächeln auf den Lippen trug, rief vom Spielrand seine Kommandos. Lenny konnte sich keinen besseren Trainer wünschen. „Buddha“ nahm Lenny und die anderen Jungs nach dem Training oft beiseite und erklärte ihm Spielzüge, korrigierte seine Fehler und lobte ihn immer wieder für seine „Ball-Intelligenz“. Sein Trainer hatte einen siebten Sinn dafür, wie er jeden einzelnen von ihnen anzupacken hatte. Der eine brauchte eine direkte Ansage. Lenny wiederrum reagierte aufgrund seiner Sensibilität auf jedes Augenzwinkern seines Trainers und setzte die Anweisungen direkt auf dem Spielfeld um. „Lenny bring’ den Ball nach vorn und dann will ich den 8er-Lauf sehen.“ Lenny bekommt den Ball von seinem Kumpel Rick gepasst. Mit einem kurzen Dribbling ist er schnell hinter der Mittellinie. Luc kommt ihm links entgegen und sie wechseln den Ball als sie sich begegnen. Luc umgeht einen Gegner und drückt dem ihm entgegenkommenden Mitspieler den Ball in die Hand. Der rennt, wie im Training als automatischer Ablauf immer wieder durchgespielt, auf Lenny zu und der Ball wechselt erneut. Der Gegner ist ein wenig verwirrt und Lenny nutzt die Gelegenheit. Er zieht in den Kreis und schlängelt sich an der Abwehr vorbei. Er deutet einen Wurf mit rechts an, legt sich jedoch den Ball dann in die linke Hand und der Ball landet von dort elegant im Korb. „Wer sagt’s denn.“ Lenny sieht seinen Trainer ein Zeichen zur Auswechslung machen. Am Spielrand klopft ihm sein Trainer zufrieden auf die Schulter. „Klasse Spiel Lenny!“
Erschöpft lässt sich Lenny neben seine Kumpels auf die Bank fallen. Er greift in seine Sporttasche und sucht seine Wasserflasche. Bei dem Herumgewühle spüren seine Finger etwas Kaltes, Hartes, Rundes. Verdutzt zieht er eine Glasmurmel aus der Tasche. „Wie kommt die denn hier her?“ fragt er sich. Bei genauerem Hinsehen erkennt er eine regenbogenartige Spirale in der sonst durchsichtigen Glasmurmel. „Wahrscheinlich hat Mati sie mir als Talisman vor dem Spiel in die Tasche gesteckt.“ Sein Vater sammelt Glasmurmeln. Die hatten es ihm irgendwie angetan. Auf ihrem Esstisch zu Hause stand eine große Schale mit Glasmurmeln in allen Größen und Farben, rote, gelbe, grüne, blaue, violette. Sein Vater wählte jeden Morgen drei kleine Glasmurmeln aus und steckte sie sich als Glücksbringer für den Tag in die Hosentasche seines Anzugs. Lenny lässt die Glasmurmel in seine Sporthose verschwinden. „Ein bisschen Glück kann nie schaden.“ Mati ist seine zweieinhalb Jahre jüngere Schwester, die bei seinen Eltern auf der Zuschauerbank sitzt.
Mit einem zweiten Griff in die Sporttasche greift er sich seine Wasserflasche und nimmt einen großen Schluck. Dabei fällt sein Blick auf die großen Fenster der Halle. Draußen schien gerade noch die Sonne. Nun war es dunkel und bewölkt. Ein Sturm ist im Anzug. „Na was soll’s. Gut dass wir in der Halle sind.“ Er schaut hinüber zu seinen Eltern auf die Zuschauertribüne. Seine Mutter zeigt ihm den erhobenen Daumen. Sein Vater schreibt wie immer das Ergebnis in das kleine schwarze Notizbuch, das er bei jedem Spiel dabei hat. Hier trägt er akribisch alle Aktionen von Lenny ein und gemeinsam werten sie es zu Hause aus. Wie viele Körbe, Assists, Steals, Rebounds hat Lenny umgesetzt. Wie war die Trefferquote. „Echt Klasse, dass mein Dad so bei der Sache ist“, denkt sich Lenny. „Er hat sich von mir vom Basketballfieber anstecken lassen.“ Letztes Wochenende waren sie sogar zu einem – sie nennen es „Papa-Wochenende“ nach Boston gefahren, wo sein Vater die Woche über arbeitet. Er hatte dort eine kleine „Studentenbude“ gemietet. Spartanisch eingerichtet, ohne Fernseher, mit Bett, Tisch, einer Musikanlage, seiner Gitarre und gemeinsam mit seiner Schwester Mati gemalten Bildern an der Wand, war das alles, was sein Vater die Woche über brauchte. Am Samstag waren sie nachmittags zu dem Spiel der Boston Celtics gegen die Dallas Mavericks gegangen. Dirk Nowitzki der große, blonde Deutsche war schon eine Wucht. Sein Kranich Wurf, bei dem er sich beim Wurf nach hinten fallen lies, war einsame Klasse. Aber